Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletztengeld. Ruhen. Kürzung. Anrechnung von Einkommen. Zweitbeschäftigung. unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit. freiwillige Unternehmerversicherung. Unternehmerpflichtversicherung. abhängige Beschäftigung. Lohnfortzahlung. Einkommensverlust. Doppelleistung. Satzung. revisibles Recht

 

Leitsatz (amtlich)

Auch einem freiwillig unfallversicherten Unternehmer, der bei seiner selbständigen Tätigkeit einen Arbeitsunfall erleidet, steht für die Zeit der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit Verletztengeld ohne Anrechnung des für denselben Zeitraum aus einer abhängigen Beschäftigung fortgezahlten Arbeitsentgelts zu (Fortführung von BSG SozR 3-2200 § 560 Nr 1).

 

Normenkette

RVO § 560 Abs. 1 S. 2, § 561 Abs. 3; Satzung der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft §§ 4, 32 Abs. 2, §§ 40, 42

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Beschluss vom 01.08.1994; Aktenzeichen L 3 U 100/94)

SG Aurich (Urteil vom 10.02.1994; Aktenzeichen S 3 U 81/92)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen den Beschluß des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 1. August 1994 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten, ob der Anspruch des Klägers auf Verletztengeld aus seiner freiwilligen Unternehmerversicherung ruht (§ 560 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫), soweit er Lohnfortzahlung aus einer anderweitigen abhängigen Beschäftigung erhalten hat.

Der Kläger ist als selbständiger Bauplaner/Bautechniker bei der Beklagten freiwillig gegen Arbeitsunfälle versichert. Neben dieser selbständigen Tätigkeit ist er als angestellter Geschäftsführer bei der H.… GmbH bei der Bau-Berufsgenossenschaft (BG) unfallversichert. Am 18. Dezember 1991 erlitt er bei seiner selbständigen Tätigkeit einen Arbeitsunfall, wegen dessen Folgen er bis einschließlich 24. Januar 1992 arbeitsunfähig war. Die H.… GmbH zahlte ihm für diese Zeit der Arbeitsunfähigkeit im Wege der Lohnfortzahlung das Gehalt in voller Höhe weiter.

Die Beklagte übersandte dem Kläger eine Durchschrift ihres an die AOK A.… gerichteten Bescheides vom 17. März 1992, in dem sie diese anwies, dem Kläger für die Zeit vom 18. Dezember 1991 bis 24. Januar 1992 Verletztengeld in Höhe von kalendertäglich 266,67 DM zu zahlen; gleichzeitig teilte sie mit, daß der Anspruch gemäß § 560 Abs 1 Satz 2 RVO in Höhe des für denselben Zeitraum aus der abhängigen Beschäftigung bei der H.… GmbH fortgezahlten Arbeitsentgelts ruhe. Der Widerspruch des Klägers gegen die Anrechnung des Arbeitsverdienstes blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 1992).

Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger das Verletztengeld in Höhe von kalendertäglich 266,67 DM zu gewähren, ohne es um die für denselben Zeitraum aus abhängiger Beschäftigung gewährte Lohnfortzahlung zu kürzen (Urteil vom 10. Februar 1994). Die Gehaltsfortzahlung sei weder dazu bestimmt noch in der Lage, den Einkommensverlust, der dem Kläger aufgrund der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit als selbständiger Bauplaner/Bautechniker entstanden sei, auszugleichen. Die Ruhensregelung in § 560 Abs 1 Satz 2 RVO solle eine doppelte Entschädigung verhindern. Eine solche Doppelleistung stelle die Lohnfortzahlung aus dem rechtlich unabhängigen Arbeitsverhältnis nicht dar. Durch den Arbeitsunfall seien zwei voneinander unabhängige Erwerbsquellen des Klägers betroffen. Die Gehaltsfortzahlung habe den Einkommensverlust in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer abgedeckt. Demgegenüber gleiche das Verletztengeld den Einkommensverlust als Unternehmer aus. Eine Überschneidung liege nicht vor.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Beschluß vom 1. August 1994). Aus den unterschiedlichen Versicherungsarten (Unternehmerpflichtversicherung einerseits und freiwillige Unternehmerversicherung andererseits) ergebe sich kein Grund für eine unterschiedliche Sachbehandlung. Die Satzungen der BGen, die ihre Unternehmer kraft Satzung pflichtversicherten, sähen in der Regel eine feste Mindestversicherungssume vor, die der Unternehmer bis zu einer bestimmten Höchstsumme aufstocken könne. Auch hier liege der Umfang des Versicherungsschutzes im wesentlichen in der Hand des Versicherten selbst und sei damit in der Ausgestaltung der freiwilligen Versicherung erheblich angenähert.

Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§§ 560 Abs 1, 561 Abs 3 RVO). Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 4. Dezember 1991 – 2 Ru 76/90 – (SozR 3-2200 § 560 Nr 1) – auf das der angefochtene Beschluß Bezug nehme – enthalte zunächst den Grundsatz, daß sich der dem Verletztengeld zugrunde zu legende Jahresarbeitsverdienst (JAV) auch bei Unternehmern sowohl aus dem Arbeitsentgelt aller Beschäftigungen als auch aus dem Einkommen aus allen selbständigen Tätigkeiten bemesse. Der vom BSG aaO entschiedene Sachverhalt sei mit dem vorliegenden vergleichbar. Sie – die Beklagte – habe von der Ermächtigung des § 671 Nr 9 RVO Gebrauch gemacht und in § 40 ihrer Satzung Aussagen über die Höhe und Ermittlung des JAV freiwillig versicherter Personen getroffen. Aus der Formulierung des Satzungstextes ergebe sich, daß hier durch die gewählte Versicherungssumme der Gesamtschaden des freiwillig Versicherten abgedeckt werde. Bei Abschluß einer freiwilligen Versicherung werde auch ein entsprechendes Merkblatt übersandt. Es sei nicht von mehreren getrennt zu betrachtenden Einzelschadenspositionen auszugehen, sondern von einem Gesamtschaden in Höhe der gewählten Versicherungssumme, der dann durch die erhaltene Lohnfortzahlung aus der abhängigen Beschäftigung gemindert sei, was gemäß § 560 Abs 1 RVO insoweit zu einem Ruhen des Verletztengeldanspruchs führe.

Die Beklagte beantragt,

den Beschluß des LSG Niedersachsen vom 1. August 1994 und das Urteil des SG Aurich vom 10. Februar 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß der Anspruch des Klägers auf Verletztengeld aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 18. Dezember 1991 nach § 560 Abs 1 Satz 2 RVO nicht in Höhe des für denselben Zeitraum aus der abhängigen Beschäftigung bei der H.… GmbH fortgezahlten Gehalts ruht. Die Beklagte hat das nach der für den Kläger geltenden Versicherungssumme seiner freiwilligen Versicherung als Unternehmer zu berechnende Verletztengeld zu gewähren, ohne es um die für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit gewährte Lohnfortzahlung aus seiner abhängigen Beschäftigung zu kürzen.

Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, daß der als selbständiger Bauplaner/Bautechniker bei der Beklagten gegen die Folgen von Arbeitsunfällen freiwillig versicherte Kläger (vgl § 39 der Satzung der Beklagten) für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit (18. Dezember 1991 bis 24. Januar 1992) Anspruch auf Verletztengeld hat. Dies folgt aus § 560 Abs 1 Satz 1 RVO, wonach der Verletzte Verletztengeld erhält, solange er – wie hier – infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung war und keinen Anspruch auf Übergangsgeld nach den §§ 568, 568a Abs 2 oder Abs 3 RVO hat. Über diesen Anspruch dem Grunde nach besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

Die Berechnung des Verletztengeldes für arbeitsunfähige Unternehmer richtet sich nach § 561 Abs 3 RVO. Danach erhält der Verletzte Verletztengeld je Kalendertag in Höhe des 450. Teils des JAV. Für den freiwillig versicherten Unternehmer (s § 39 der Satzung der Beklagten) gilt als JAV die gewählte Versicherungssumme (§ 671 Nr 9 RVO iVm § 40 Satz 4 der Satzung der Beklagten), die im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls 120.000,-- DM betrug. Die Vorinstanzen haben dementsprechend für die Zeit der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit vom 18. Dezember 1991 bis 24. Januar 1992 den Anspruch auf Verletztengeld zutreffend nach dem 450. Teil der maßgebenden Versicherungssumme, also von kalendertäglich 266,67 DM errechnet.

Entgegen der Auffassung der Revision steht dem Zahlungsanspruch des Klägers in dieser Höhe nicht entgegen, daß die H.… GmbH für denselben Zeitraum die Angestelltenbezüge im Wege der Lohnfortzahlung in voller Höhe weitergezahlt hat. Diese Lohnfortzahlung führt nicht zur Kürzung des Verletztengeldes.

Nach § 560 Abs 1 Satz 2 RVO ruht der Anspruch auf Verletztengeld, soweit der Verletzte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erhält. Die dem Kläger gewährte Gehaltsfortzahlung stellt zwar als laufende Einnahme aus einer abhängigen Beschäftigung Arbeitsentgelt iS des § 14 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV) dar. Dieses Entgelt aus der Beschäftigung als angestellter Geschäftsführer ist jedoch weder dazu bestimmt noch in der Lage, den Einkommensverlust, der dem Kläger als selbständiger Bauplaner/Bautechniker entstanden ist, auszugleichen. Entgelt, das aufgrund eines unselbständigen Beschäftigungsverhältnisses erzielt wird, hat daher in diesen Fällen unberücksichtigt zu bleiben (BSGE 36, 98, 102 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

Von diesen Grundsätzen ausgehend hat der Senat in seinem von der Revision auch angeführten Urteil vom 4. Dezember 1991 – 2 RU 76/90 – (SozR 3-2200 § 560 Nr 1; zustimmend Benz BG 1994, 223, 229; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 560 Anm 18; Podzun/Nehls, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 415 S 5) entschieden, daß eine Lohnfortzahlung aufgrund der Arbeitnehmertätigkeit nicht zur entsprechenden Kürzung des Verletztengeldes als Unternehmer führt. Diese Entscheidung betrifft zwar einen kraft Gesetzes versicherten Unternehmer, während hier der Kläger bei der Beklagten freiwillig gegen die Folgen von Arbeitsunfällen versichert ist. Entgegen der Auffassung der Revision gelten die in dieser Entscheidung entwickelten Rechtsgrundsätze auch für Unternehmer, die der Unfallversicherung freiwillig beigetreten sind und im Rahmen der satzungsgemäßen Mindest- und Höchstsummen die Versicherungssumme selbst frei wählen konnten (Benz aaO). Das – ganz oder teilweise – Ruhen des Verletztengeldanspruchs aus einer Unternehmerversicherung aufgrund von Entgeltfortzahlung aus einer anderweitigen abhängigen Beschäftigung danach zu unterscheiden, ob eine Unternehmerpflichtversicherung oder eine freiwillige Versicherung als Unternehmer vorliegt, ist entgegen der Auffassung der Revision kein sachlicher Grund ersichtlich.

Wie der Senat in einer oa Entscheidung eingehend unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte ausgeführt hat, hat § 560 Abs 1 Satz 2 RVO nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers den Zweck, den Doppelbezug von Verletztengeld und Vergütungen für versicherte, infolge der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit aber weggefallene Arbeitstätigkeit zu verhindern. Es sollte eine “doppelte Entschädigung als Überversicherung des Versicherten” vermieden werden (BT-Drucks IV/120 S 56 zu § 565 RVO – Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz).

Eine solche Doppelleistung, die durch die Ruhensregelung des § 560 Abs 1 Satz 2 RVO nicht eintreten soll, stellt die Lohnfortzahlung, die der Kläger aus dem von der versicherten Unternehmertätigkeit rechtlich unabhängigen Arbeitsverhältnis bei der H.… GmbH erhielt, nicht dar. Durch den Arbeitsunfall vom 18. Dezember 1991 wurden hier zwei Erwerbsquellen des Klägers betroffen, wodurch auch zwei rechtlich verschiedene Schäden eingetreten waren, nämlich ein Schaden sowohl aus der selbständigen Tätigkeit als Bauplaner/Bautechniker als auch aus der abhängigen Beschäftigung als angestellter Geschäftsführer bei der H.… GmbH. Bedingt durch den Arbeitsunfall konnte der Kläger weder aus der einen Tätigkeit noch aus der anderen Beschäftigung Einkünfte erzielen. Die Gehaltsfortzahlung deckte den Einkommensverlust des Klägers in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer und das Verletztengeld den Einkommensverlust als Unternehmer jeweils getrennt und unabhängig voneinander ab. Eine Überschneidung liegt nicht vor (s auch BSG SozR Nr 11 zu § 1504 RVO). Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, ist weder das fortgezahlte Entgelt aus der Beschäftigung bei der H.… GmbH dazu bestimmt, den Einkommensverlust, der dem Kläger durch den Arbeitsunfall in seiner selbständigen Tätigkeit entstanden ist, auszugleichen, noch soll durch das Verletztengeld der Einkommensverlust aus der abhängigen Beschäftigung ausgeglichen werden.

Entgegen der Auffassung der Revision ist auch aus der Satzung der Beklagten, die wegen des überregionalen Wirkungsbereichs der Beklagten (vgl § 4 der Satzung) revisibles Rechts darstellt (§ 162 SGG – s BSG SozR 3-2200 § 544 Nr 1), nichts Gegenteiliges zu entnehmen. Nach den darin enthaltenen Bestimmungen kann der freiwillig versicherte Unternehmer die Höhe der Versicherungssumme zwischen der Mindestversicherungssumme bis zur Höchstgrenze frei wählen (§ 40 Satz 3 und 4 iVm § 32 Abs 2 der Satzung). Ermittlungen finden insoweit nicht statt. Für die Höhe der Beiträge der freiwilligen Versicherung gilt die Versicherungssumme des Beitragsjahres (§ 40 Satz 4 der Satzung). Diese Versicherungssumme wird “der Versicherung als Jahresarbeitsverdienst” zugrunde gelegt (§ 40 Satz 2 der Satzung). Leistungen werden gewährt wie gesetzlich Versicherten nach §§ 546 ff RVO (§ 43 Satz 1 der Satzung). Hieraus wird deutlich, daß die freiwillige Versicherung nach Satzung nicht das gesamte Wagnis auf seiten des Versicherungsträgers abdeckt, da sich die Satzungssumme nur auf den JAV aus der der freiwilligen Versicherung zugrundeliegenden Tätigkeit beziehen kann (BSG Urteil vom 4. Juli 1995 – 2 RU 33/94 –; KassKomm-Ricke § 571 RVO RdNr 4). Nur insoweit kann die in § 40 der Satzung genannte Versicherungssumme an die Stelle des ansonsten nach § 571 Abs 1 RVO zu berechnenden JAV treten. Der in § 40 festgesetzte JAV gilt nicht nur für die Berechnung der Geldleistungen, sondern gleichermaßen für die Berechnung der Beiträge. Auch diese Verbindung zeigt, daß die Beklagte in ihrer Satzung sowohl die Beitragsgestaltung als auch den JAV für ihre versicherten Unternehmer nur soweit gestalten kann, wie ihr Zuständigkeitsbereich reicht. Nur insoweit bleiben daher gemäß § 571 Abs 3 RVO die über den JAV erlassenen Satzungsbestimmungen unberührt. Hieraus folgt zugleich, daß Entgeltzahlungen und damit Lohn- oder Gehaltsfortzahlungen aus einem anderweitigen abhängigen Beschäftigungsverhältnis auf das Verletztengeld auch aus einer freiwilligen Unternehmerversicherung nicht angerechnet werden können.

Nach alledem ist die Beklagte verpflichtet, das nach der Versicherungssumme von 120.000,-- DM berechnete Verletztengeld in Höhe von kalendertäglich 266,67 DM zu gewähren, ohne es um die dem Kläger für den genannten Zeitraum gewährte Gehaltsfortzahlung zu kürzen.

Die Revision der Beklagten war demzufolge zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BB 1996, 1281

Breith. 1996, 480

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