Leitsatz (amtlich)

1. Der Begriff des "Pflegekindes" (BVG § 45 Abs 2 Nr 5 ) setzt ein Verhältnis voraus, das durch ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis gekennzeichnet ist, das von einer familienähnlichen ideellen Bindung getragen wird und auf die Dauer angelegt ist (Anschluß BVerwG 1961-02-09 II C 169/59 = DOED 196 1, 114-115) ein solches Verhältnis kann auch zwischen Geschwistern bestehen, es setzt aber bei einem geistig gesunden "Pflegekind" einen erheblichen Altersunterschied zwischen den Geschwistern voraus und muß schon in der Kindheit des Pflegebefohlenen entstanden sein.

2. Ist über eine Aufhebungs- und Verpflichtungsklage zu entscheiden, so muß das Gericht, wenn sich das materielle Recht nach dem Erlaß des angefochtenen Bescheides geändert hat und die Verwaltung trotzdem an der Ablehnung festhält, die Rechtmäßigkeit auch nach "neuem" Recht prüfen, es darf den Kläger nicht auf einen "neuen" Antrag an die Verwaltung verweisen; wenn das Gericht insoweit nicht entscheidet, leidet sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Verweisung auf den Begriff des Pflegekindes iS des KGG § 2 Abs 1 Nr 3 in der Vorschrift des BVG § 33b Abs 2 Nr 5 nF nach der auch Kinder erfaßt werden, die "in den Haushalt von Geschwistern aufgenommen sind oder von ihnen vorwiegend unterhalten werden", ist nicht in BVG § 45 Abs 2 Nr 5 nF zu übernehmen.

 

Normenkette

BVG § 45 Abs. 2 Nr. 5 Fassung: 1960-06-27, Abs. 3 Buchst. b Fassung: 1956-06-06, Abs. 4 S. 1 Buchst. b Fassung: 1960-06-27, § 33b Abs. 2 Nr. 5 Fassung: 1960-06-27; SGG § 54 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 123 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. November 1960 und des Sozialgerichts Dortmund vom 31. Januar 1957 werden aufgehoben; die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger, geboren 1889, ist seit seinem 13. Lebensjahr nach einer Pockenschutzimpfung an den unteren Extremitäten und an einem Arm gelähmt. Er hat keinen Beruf erlernt und stets im Hause seiner Eltern, nach deren Tod im gemeinsamen Haushalt mit seinen Geschwistern gelebt. Sein Vater ist im Jahre 1912, seine Mutter im Jahre 1916 gestorben. Der Bruder Heinrich des Klägers, geboren 1888, verstarb als Soldat im Januar 1918, der Bruder Franz, geboren 1890, fiel im November 1914 und der Bruder Bernhard, geboren 1892, verstarb im August 1921 bald nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft. Heute leben noch ein weiterer Bruder und zwei Schwestern des Klägers.

Auf Grund eines Erlasses des Reichsarbeitsministers wurde dem Kläger durch Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA) Soest vom 25. Mai 1923 im Hinblick auf den Tod des Bruders Bernhard, der an den Folgen einer Dienstbeschädigung gestorben ist, Rente gemäß §§ 45, 46 des Reichsversorgungsgesetzes im Wege des Härteausgleichs bewilligt. Die Zahlung der Rente wurde 1945 eingestellt. Ein Antrag auf Wiedergewährung der Rente wurde mit Bescheid vom 5. August 1946 auf Grund der Vorschriften der Militärregierung, ein weiterer Antrag am 21. Juni 1948 nach den Vorschriften der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 abgelehnt. Unter Hinweis auf § 49 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wurden auch ein Antrag vom September 1952 am 31. Oktober 1952, ein Antrag vom Dezember 1954 am 18. Januar 1955 abgelehnt.

Am 27. Januar 1955 wandte sich der Kläger in mehreren Schreiben an den Bundesminister des Inneren, an den Bundestagspräsidenten, an den Bundeskanzler und an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages. Diese Eingaben wurden dem VersorgA Dortmund zur weiteren Veranlassung zugeleitet und als neuer Antrag behandelt. Das VersorgA lehnte darauf durch Bescheid vom 6. Mai 1955 die Gewährung von Versorgung erneut ab, da ein Rechtsanspruch auf Versorgung nicht bestehe und auch im Wege des Härteausgleichs Rente nicht gewährt werden dürfe. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt (LVersorgA) durch Bescheid vom 27. Februar 1956 zurück. Im Juli 1955 hatte der Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen den Vorgang dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) mit der Bitte um Zustimmung zu einer Versorgung im Wege des Härteausgleichs gemäß § 89 BVG vorgelegt, der BMA hatte die Zustimmung versagt. Daraufhin hatte der Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen die Gewährung eines Härteausgleichs mit Bescheid vom 16. August 1955 abgelehnt. Dieser Bescheid wurde von dem Kläger nicht angefochten.

Gegen den Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1956 erhob der Kläger Klage. Das Sozialgericht (SG) Dortmund hob durch Urteil vom 31. Januar 1957 den Bescheid des VersorgA vom 6. Mai 1955 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 27. Februar 1956 auf, da die Begründung der Versorgungsverwaltung für die Ablehnung einer Ermessensleistung nicht erschöpfend und die Sachprüfung nicht frei von Bedenken sei. Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen ein. Das LSG lud durch Beschluß vom 18. Juni 1957 den BMA auf Antrag zu dem Verfahren bei. Während das Verfahren beim LSG anhängig war, beantragte der Kläger im Oktober 1959 beim VersorgA die Gewährung einer Waisen rente gemäß § 45 BVG; dieser Antrag wurde durch Bescheid vom 24. November 1959 abgelehnt. Mit Urteil vom 25. November 1960 wies das LSG die Berufung des Beklagten gegen das Urteil vom 31. Januar 1957 zurück und hob den Bescheid vom 24. November 1959 auf; Die Ablehnung der Versorgung durch den Beklagten in dem Bescheid vom 6. Mai 1955 (Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1956) beruhe auf einem Ermessensfehler; allerdings handele es sich nicht, wie der Beklagte meine, um eine Ermessensentscheidung nach § 89 BVG und auch nicht, wie das SG ausgeführt habe, um eine Entscheidung nach § 6 BVG; zur Entscheidung über einen Antrag auf Härteausgleich (§ 89 BVG) sei das VersorgA nach damaligem Recht nicht zuständig gewesen, die Entscheidung habe von der obersten Landesbehörde mit Zustimmung des BMA getroffen werden müssen; eine solche Entscheidung sei auch ergangen, und zwar am 16. August 1955, diese Entscheidung sei von dem Kläger nicht angefochten worden; um eine Entscheidung nach § 6 BVG handle es sich nicht, weil diese Vorschrift lediglich die Möglichkeit schaffe, außerhalb des Rahmens der §§ 2, 3 und 5 BVG das Vorliegen militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder unmittelbare Kriegseinwirkungen anzuerkennen; mit dem Bescheid vom 6. Mai 1955 habe der Beklagte es vielmehr abgelehnt, dem Kläger einen "Zugunstenbescheid" (§ 619 RVO i. V. m. § 84 Abs. 2 BVG; Ziff. 43 der SVA Nr. 11; § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG -) zu erteilen; auch hierbei handele es sich um eine Ermessensentscheidung, die von dem Gericht nur daraufhin nachgeprüft werden könne, ob die Verwaltung einen fehlerhaften Gebrauch von dem Ermessen gemacht habe; dies sei der Fall; wenn auch die Vorschriften über die Eltern rente als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht kämen, so habe doch geprüft werden müssen, ob nicht etwa eine Waisen rente zu gewähren sei; da der Beklagte dies in dem Bescheid vom 6. Mai 1955 nicht geprüft habe, sei dieser Bescheid rechtswidrig; erst in dem Bescheid vom 24. November 1959 habe der Beklagte auch die Gewährung von Waisenrente (§ 45 BVG) abgelehnt; auch bei diesem Bescheid, der nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden sei, handele es sich um eine Ermessensentscheidung, denn nach § 45 Abs. 3 Buchst. b Abs. 2 Ziff. 5 BVG in der Fassung vor Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes (aF) sei die Entscheidung über die Gewährung einer Waisenrente an Personen, die nach Vollendung des 18. Lebensjahres infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande seien, sich selbst zu unterhalten, in das Ermessen der Verwaltung gestellt gewesen; zu Unrecht habe die Verwaltung das Vorliegen eines Pflegekindschaftsverhältnisses zwischen dem Kläger und seinen gefallenen Brüdern verneint; nach den Aussagen der beiden Schwestern des Klägers sei anzunehmen, daß alle drei gefallenen Brüder den erwerbsunfähigen Kläger wie ein Vater betreut haben und ihm elterliche Fürsorge haben zukommen lassen; dies ergebe sich im übrigen auch aus dem Bescheid vom 25. Mai 1923, durch welchen die zuständigen Behörden anerkannt hätten, daß der Bruder Bernhard im Verein mit seinen Geschwistern als Ernährer des Klägers anzusehen sei; auch der Bescheid vom 24. November 1959 sei deshalb aufzuheben mit der Maßgabe, daß der Beklagte einen neuen Verwaltungsakt zu erlassen habe, in dem ein Pflegekindschaftsverhältnis zugrunde zu legen sei; im übrigen sei der Beklagte in seinem Ermessen frei. Für die Zeit seit Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes werde die Verwaltung noch eine Entscheidung zu treffen haben. Die Revision ließ das LSG zu.

Das Urteil wurde dem Beklagten am 16. Dezember 1960 zugestellt. Am 7. Januar 1961 legte er Revision ein und beantragte,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 25. November 1960 und des SG Dortmund vom 31. Januar 1957 abzuändern und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 25. November 1960 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Am 27. Januar 1961 begründete er die Revision: Das LSG habe die §§ 45 BVG, 40 VerwVG sowie die §§ 159, 128 SGG verletzt; entgegen der Auffassung des LSG sei die Gewährung von Versorgung in dem Bescheid vom 6. Mai 1955 (Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1956) aus allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten abgelehnt worden; wenn das LSG meine, es sei nur ein Anspruch auf Härteausgleich in Höhe der Elternrente, nicht dagegen der Anspruch auf Waisenrente abgelehnt worden, so habe es die Bescheide nicht richtig ausgelegt; der Bescheid vom 24. November 1959, in welchem ausdrücklich Waisenrente abgelehnt worden sei, habe nur die früheren Entscheidungen wiederholt; es treffe aber nicht zu, daß der Kläger das Pflegekind seines Bruders Bernhard gewesen sei; ein Pflegekindschaftsverhältnis setze ein familienähnliches Band voraus, zu dem auch die Fürsorge für die Person und ein gewisses Autoritätsverhältnis gehörten, das einen Altersunterschied erfordere, der hier nicht gegeben sei; Versorgung könne deshalb nicht gewährt werden; das Verfahren des LSG leide im übrigen an einem wesentlichen Mangel insofern, als das LSG nicht geprüft und entschieden habe, ob dem Kläger vom 1. Juni 1960 an Versorgung nach § 45 Abs. 4 b BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes zu gewähren sei; insoweit habe das LSG die Sache unzulässigerweise zu neuer Entscheidung an die Verwaltung zurückverwiesen, hierdurch sei die Verwaltung beschwert, weil damit in unzulässiger Weise ein neues Verfahren eröffnet werde.

Die Beigeladene stellte am 28. Februar 1961 denselben Antrag wie der Beklagte.

Der Kläger beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.

Gegenstand des Verfahrens vor dem LSG ist sowohl der Bescheid des VersorgA Dortmund vom 6. Mai 1955 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 27. Februar 1956 als auch der Bescheid vom 24. November 1959 gewesen. Mit dem Bescheid vom 6. Mai 1955 hat der Beklagte es abgelehnt, dem Kläger "Versorgungsrente" zu gewähren, der Beklagte hat sich dabei nicht auf die bindende Wirkung der früheren ablehnenden Bescheide berufen, er hat vielmehr von seinem Recht Gebrauch gemacht, den Sachverhalt nochmals zu prüfen und den Kläger erneut zu bescheiden; auch wenn die Gewährung von Versorgung wiederum abgelehnt worden ist, so ist diese Ablehnung doch ein neuer Verwaltungsakt (BSG 10, 248). In der Begründung des Bescheids vom 6. Mai 1955 ist ausgeführt, daß keine Möglichkeit "zur Anerkennung eines Rechtsanspruchs auf Versorgung oder auf Gewährung von Versorgung im Wege des Härteausgleichs" bestehe, da weder nach der SVD Nr. 27 noch nach dem BVG eine "Geschwisterversorgung" vorgesehen sei. Wenn in dem Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1956 - ebenso wie in den früheren ablehnenden Bescheiden vom 31. Oktober 1952 und vom 18. Januar 1955 - gesagt ist, daß ein Anspruch auf "Elternrente" (§ 49 BVG) nicht bestehe, so ist damit das Begehren des Klägers auf Rente jedenfalls unter den Gesichtspunkten der "Geschwisterversorgung", der "Elternrente" und des Härteausgleichs (§ 89 BVG) abgelehnt worden. Mit dem Bescheid vom 24. November 1959 ist der Antrag auf Rente auch unter dem Gesichtspunkt der Waisenrente (§ 45 BVG) abgelehnt worden, in den Gründen ist jedoch erneut darauf hingewiesen, daß eine "Geschwisterversorgung" auch im Wege des Härteausgleichs nicht möglich sei; deshalb ist dieser Bescheid eine Ergänzung des Bescheids vom 6. Mai 1955 (27. Februar 1956), das LSG hat ihn daher in entsprechender Anwendung von § 96 SGG zu Recht in das Verfahren einbezogen. Damit hat das LSG die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide auch unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten prüfen müssen; es hat die Rechtmäßigkeit bejahen müssen, wenn dem Kläger unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Versorgung nach dem BVG zusteht und wenn dem Beklagten insoweit, als eine Leistung dem pflichtgemäßen Ermessen des Beklagten überlassen ist, ein Ermessensmißbrauch nicht zur Last fällt.

Das LSG hat zunächst zu Recht ausgeführt, daß als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers nicht die Vorschriften über die Elternrente (§ 49 BVG) in Frage kommen. Nach den Vorschriften über die Elternrente erhalten Pflege eltern Versorgungsbezüge, wenn sie den Verstorbenen vor der Schädigung unentgeltlich unterhalten haben. Im vorliegenden Falle hat der Kläger jedoch nicht geltend gemacht, er habe seine verstorbenen Brüder unterhalten, sondern er hat - umgekehrt - vorgetragen, er sei von seinen Brüdern bis zu ihrem Tode unterhalten worden. Elternrente nach dem BVG kommt hiernach nicht in Betracht. Insoweit ist es unerheblich, daß der Kläger bis zum Jahre 1945 "Elternrente" nach den §§ 45, 46 des Reichsversorgungsgesetzes im Wege des Härteausgleichs erhalten hat. Auch bei der Leistung nach dem Reichsversorgungsgesetz hat es sich, wie der Beklagte zu Recht vorträgt, um einen Härteausgleich in Höhe der Elternrente, nicht aber um Elternrente gehandelt. Der Beklagte hat zu Recht auch eine "Geschwisterversorgung" abgelehnt, eine solche ist im BVG ebenso wie in den früheren Versorgungsgesetzen nicht vorgesehen.

Das LSG hat aber zu Unrecht den Bescheid vom 24. November 1959 aufgehoben, weil der Beklagte von seinem Ermessen nicht den pflichtgemäßen Gebrauch gemacht habe, wenn er dem Kläger Waisenrente versagt habe. Nach § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG in der bis 31. Mai 1960 anzuwendenden Fassung vor dem Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 (aF) sind als Waisen, die nach § 45 Abs. 1 BVG aF bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Anspruch auf Waisenrente gehabt haben, u. a. Pflegekinder anzusehen gewesen, die der Verstorbene bei seinem Tode mindestens seit einem vor der Schädigung oder vor Anerkennung der Folgen der Schädigung liegenden Zeitpunkt oder seit mindestens einem Jahr unentgeltlich unterhalten hat. Nach § 45 Abs. 3 Buchst. b BVG aF hat Waisenrente nach Vollendung des 18. Lebensjahres gewährt werden können , wenn die Waise bei Vollendung des 18. Lebensjahres infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande gewesen ist, sich selbst zu unterhalten. Die Gewährung von Waisenrente nach § 45 Abs. 3 BVG aF hat sonach im Ermessen der Verwaltung gestanden. Für eine Ausübung des Ermessens der Verwaltung ist im vorliegenden Falle jedoch kein Raum gewesen, denn der Kläger ist nicht als Pflegekind im Sinne von § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG aF anzusehen. Die Beurteilung der Frage, ob ein Pflegekindschaftsverhältnis gegeben ist, unterliegt nicht dem Ermessen der Verwaltung, vielmehr handelt es sich dabei um die Anwendung zwingenden Rechts.

Eine Bestimmung des Begriffs "Pflegekind" ist in § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG aF nicht enthalten; die Auslegung dieses Begriffs muß sich daher nach der natürlichen Betrachtungsweise richten. Danach muß ein Verhältnis vorliegen, das dem Verhältnis zwischen dem leiblichen Vater (der Mutter) und dem Kind ähnlich ist, das Verhältnis muß also durch ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis gekennzeichnet sein, das von einer familienähnlichen ideellen Bindung getragen wird und auf die Dauer angelegt ist (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Februar 1961, "Der öffentliche Dienst" 1961, 114 ff). Dabei kommt es nicht allein auf die Gewährung des Unterhalts der Pflegeeltern gegenüber dem Pflegekind, also nicht allein auf die wirtschaftliche Fürsorge an; die wirtschaftliche Fürsorge für Geschwister ist kein hinreichendes Kennzeichen für ein Kindschaftsverhältnis, sondern nur ein Hinweis auf die ideelle Bindung, wie sie auch das Kindschaftsverhältnis voraussetzt. Es ist deshalb zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, das ein Pflegekindschaftsverhältnis auch zwischen Geschwistern bestehen kann, jedoch gilt das nur dann, wenn es auf der Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsbefugnis des Bruders oder der Schwester gegenüber dem "Pflegekind" beruht. Ein solches Verhältnis setzt jedenfalls bei einem geistig gesunden "Pflegekind" einen erheblichen Altersunterschied zwischen den Geschwistern voraus (vgl. z. B. den in RVG 13, 19 entschiedenen Fall und Bundesverwaltungsgericht aaO); auch muß der Pflegebefohlene sich im Zeitpunkt der Begründung des Pflegeverhältnisses in einem Alter befunden haben, in welchem Pflegekindschaftsverhältnisse üblicherweise begründet werden, regelmäßig also noch im Kindesalter. Anderenfalls fehlt es naturgemäß an dem Autoritätsverhältnis, das nach der Auffassung des täglichen Lebens für die Beziehungen zwischen Pflegeeltern und Pflegekind - wie für die Beziehungen zwischen Eltern und einem leiblichen Kind - wesensnotwendig ist. An diesen Merkmalen eines Pflegekindschaftsverhältnisses fehlt es indessen hier. Der Kläger hat bis zum Tode seiner Eltern im elterlichen Haushalt gelebt. Er ist beim Tode seines Vaters 22 Jahre, beim Tode seiner Mutter 26 Jahre alt gewesen. Der Bruder Bernhard ist drei Jahre jünger als der Kläger gewesen, er kann deshalb nach der Auffassung des täglichen Lebens nicht als Pflegevater des Klägers angesehen werden, das gleiche gilt für den Bruder Franz, der ein Jahr jünger gewesen ist, aber auch für den Bruder Heinrich, der nur ein Jahr älter gewesen ist als der Kläger. Bei dieser Sachlage ist es unerheblich, daß das LSG nach den Aussagen der beiden jüngeren Schwestern des Klägers festgestellt hat, die Brüder des Klägers hätten bis zu ihrer Einberufung zum Wehrdienst und der Bruder Bernhard habe auch noch nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst den Lebensunterhalt des Klägers bestritten. Als "Pflegekind" seiner Brüder kann der Kläger jedenfalls nicht gelten. Schon deshalb hat der Beklagte Waisenrente für die Zeit bis 31. Mai 1960 nicht gewähren dürfen, er hat insoweit nicht eine Ermessensentscheidung getroffen, sondern er hat zu Recht die zwingenden gesetzlichen Voraussetzungen nicht als gegeben angesehen, die erfüllt sein müssen, bevor die Verwaltung überhaupt in die Lage kommt, von ihrem Ermessen Gebrauch zu machen.

Da ein Pflegekindschaftsverhältnis nicht besteht, kann der Kläger Waisenrente auch nicht vom 1. Juni 1960 an nach § 45 Abs. 4 BVG nF beanspruchen. Insoweit hat das LSG zwar nicht entschieden, der Beklagte rügt jedoch zu Recht, daß das Verfahren des LSG deshalb an einem wesentlichen Mangel leidet, weil das LSG über den vom Kläger erhobenen Anspruch für die Zeit vom 1. Juni 1960 an nicht entschieden, sondern die Sache insoweit an die Verwaltung zurückverwiesen hat (§ 123 SGG; BSG 2, 94; 9, 288). Zwar sind die Bescheide vom 6. Mai 1955/27. Februar 1956 und der Bescheid vom 24. November 1959, in denen der Anspruch auf Rente abgelehnt worden ist, Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung gewesen. Der Kläger hat aber nicht nur die Aufhebung dieser Bescheide, sondern auch die Gewährung von Rente begehrt, seine Klage ist also eine Aufhebungsklage in Verbindung mit einer Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) gewesen; soweit es sich um die Verpflichtungsklage handelt, ist es nicht - wie bei der Aufhebungsklage - auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt angekommen, in dem die letzte Verwaltungsentscheidung ergangen ist, sondern auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 25. November 1960 beantragt, die Klage abzuweisen, er hat damit zum Ausdruck gebracht, daß er die Verpflichtung zur Gewährung von Rente auch für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes, also vom 1. Juni 1960 an, ablehnt. Das LSG ist damit verpflichtet gewesen, über die Klage auf Gewährung von Rente auch insoweit zu entscheiden, als es sich um die Zeit vom 1. Juni 1960 bis zur gerichtlichen Entscheidung handelt. Insoweit kann der Senat jedoch selbst entscheiden; auch insoweit sind die angefochtenen Bescheide rechtmäßig, weil der Kläger nicht als "Pflegekind" seiner verstorbenen Brüder anzusehen ist. Zwar enthält nunmehr § 33 b Abs. 2 Nr. 5 BVG nF für den Begriff "Pflegekind" eine Verweisung auf § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes; dort heißt es "Kinder, die in den Haushalt von ... Geschwistern aufgenommen sind oder von ihnen vorwiegend unterhalten werden, gelten als Pflegekinder". Für den Anspruch des Schwerbeschädigten auf Kinderzuschlag sind damit - ebenso wie in § 34 a Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BVG aF für den früher bestehenden Anspruch des Schwerbeschädigten auf Kindergeld, der durch den Anspruch auf Kinderzuschlag in § 33 Abs. 2 Nr. 5 BVG ersetzt worden ist - als "Kinder" bis zum vollendeten 18. bzw. 25. Lebensjahr (§ 33 b Abs. 3 Satz 1 und 2 Buchst. a BVG nF) oder bei körperlicher oder geistiger Gebrechlichkeit des "Kindes" ohne zeitliche Begrenzung (§ 33 b Abs. 3 Satz 2 Buchst. b BVG nF) und damit im gleichen zeitlichen Rahmen als "Pflegekinder" auch Geschwister des Schwerbeschädigten zu berücksichtigen, wenn sie in dem Haushalt des Schwerbeschädigten aufgenommen sind oder von ihm vorwiegend unterhalten werden, sofern (§ 33 b Abs. 2 Nr. 5 BVG nF) das Pflegekindschaftsverhältnis vor Anerkennung der Folgen der Schädigung begründet worden ist. § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG nF enthält für die Bestimmung des Begriffs der "Waise" die Verweisung auf die Begriffsbestimmung des Kindergeldgesetzes jedoch nicht; man kann auch nicht annehmen, daß es sich insoweit um eine - unbeabsichtigte - Lücke bei der Neufassung des BVG durch das Erste Neuordnungsgesetz handele und daß diese Lücke auszufüllen sei dadurch, daß auch für den Begriff des Pflegekindes im Sinne von § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG nF die Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes zugrunde zu legen sei. Es handelt sich in § 45 BVG nF nicht um dasselbe oder auch nur um ein ähnliches Lebensverhältnis und nicht um dieselbe oder auch nur um eine ähnliche Interessenlage wie in § 33 b BVG nF. In § 45 BVG nF wird ein Unterfall des § 38 BVG geregelt, nämlich ein Fall der Hinterbliebenenrente; Hinterbliebenen ist durch § 38 BVG ebenso wie den Beschädigten selbst ein in ihrer Person begründeter Versorgungsanspruch eingeräumt, zu den Hinterbliebenen im Sinne von § 38 BVG zählen nicht die Geschwister. In § 33 b BVG nF ist - ebenso wie in § 34 a Abs. 1 BVG aF - bestimmt, unter welchen Voraussetzungen sich die Rente eines Schwerbeschädigten um den Kinderzuschlag - früher das Kindergeld - erhöht; auch in § 41 Abs. 1 Buchst. c BVG nF ist - mittelbar - auf die Begriffsbestimmung des Kindergeldgesetzes nur insoweit verwiesen als es sich um die Erhöhung der Ausgleichsrente für eine Person - die Witwe - handelt, die nach § 38 BVG zu den Hinterbliebenen zählt. Daraus, daß Personen, die zu dem im BVG geregelten Kreis der Versorgungsberechtigten gehören, mit Rücksicht auf das Vorhandensein von Kindern und damit auch Pflegekindern höhere Bezüge gewährt werden, kann aber kein Schluß gezogen werden für die Frage, unter welchen Voraussetzungen Pflegekinder zum Kreis der Personen gehören, die selbst versorgungsberechtigt sind. Wenn der Gesetzgeber in § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG nF auch insoweit allgemein Geschwister hätte einbeziehen wollen, die in den Haushalt eines verstorbenen Beschädigten aufgenommen oder von ihm vorwiegend unterhalten worden sind, hätte er dies ausdrücklich sagen müssen, und es ist auch nicht anzunehmen, daß er eine so grundsätzliche Frage nur versehentlich nicht geregelt hat. Nach § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG nF kommt es deshalb für den Begriff des Pflegekindes weiterhin auf das Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis an, das dem "natürlichen" Eltern-Kind-Verhältnis eigen ist, nicht aber auf den Begriff des Pflegekindes in § 33 b Abs. 2 Nr. 5 BVG nF in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes.

Schließlich ist dem Kläger auch Versorgung im Wege des Härteausgleichs (§ 89 BVG) zu Recht versagt worden. Zwar ist der Bescheid vom 16. August 1955, mit dem der Beklagte die Gewährung eines Härteausgleichs abgelehnt hat, bindend geworden, weil der Kläger einen Rechtsbehelf gegen diesen Bescheid nicht eingelegt hat. Über diesen Bescheid ist im vorliegenden Verfahren sonach nicht mehr zu entscheiden gewesen. Der Beklagte hat jedoch in dem Bescheid vom 24. November 1959 erneut auch Rente im Wege des Härteausgleichs abgelehnt, dieser Bescheid ist Gegenstand des anhängigen Verfahrens. Auch insoweit hat der Beklagte aber sein Ermessen pflichtgemäß gehandhabt. Er ist zutreffend davon ausgegangen, daß eine Leistung, die ihrer Art nach - nämlich als Geschwisterversorgung - im BVG nicht vorgesehen ist, auch im Wege des Härteausgleichs nicht gewährt werden darf, und er hat nicht schon deshalb zu einem anderen Ergebnis kommen müssen, weil der Kläger vor 1945 viele Jahre lang eine Rente im Wege des Härteausgleichs erhalten hat. Bei der Prüfung der Frage, ob der Beklagte insoweit die gesetzlichen Grenzen seines Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, sind auch die Schlußfolgerungen zu berücksichtigen, die sich aus der Gewährung von Versorgung an die Geschwister gefallener Brüder für andere Fälle ergeben können. Der Beklagte hat davon ausgehen dürfen, daß die Regelung dieser Frage dem Gesetzgeber überlassen bleiben muß und daß es sich bei der Regelung, die der Gesetzgeber im BVG mit dem Ausschluß einer Geschwisterversorgung getroffen hat, um eine grundsätzliche Regelung handelt, nicht aber um eine Regelung, die nur "in einzelnen Fällen" (§ 89 BVG) zu Härten führt.

Die Bescheide vom 6. Mai 1955/27. Februar 1956 und vom 24. November 1959 sind daher unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten rechtmäßig. Das LSG hat zu Unrecht die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen und es hat zu Unrecht den Bescheid vom 24. November 1959 aufgehoben. Auf die Revision des Beklagten sind das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben. Die Klage ist abzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 239

NJW 1962, 557

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