Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufungsausschluß. Erziehungsgeld für abgelaufene Zeiträume. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

1. Die Bezugnahme in § 13 S 2 BErzGG auf die für Rechtsstreitigkeiten in Angelegenheiten der Rentenversicherung anzuwendenden Vorschriften umfaßt nach dem eindeutigen Wortlaut alle für die Rentenversicherung maßgeblichen Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes mit Ausnahme des ausdrücklich ausgenommenen § 78 Abs 2 SGG, mithin also auch § 146 SGG. Hinweise, wonach eine entsprechende Anwendung des § 146 SGG von der Geltung für Erziehungsgeldsachen hätte ausgenommen werden sollen, ergeben sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte des § 13 S 2 BErzGG.

2. Die Regelung des § 13 S 2 BErzGG, die aufgrund der Dauer des vorgeschriebenen Vorverfahrens und des sich anschließenden erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahrens im Ergebnis einen weitgehenden Berufungsausschluß in Erziehungsgeldstreitigkeiten nach sich zieht, begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Beschränkung auf eine Gerichtsinstanz ist auch im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG nicht zu beanstanden. Art 19 Abs 4 GG gewährleistet einerseits den Rechtsweg und damit Rechtsschutz nur im Rahmen der jeweils geltenden Prozeßordnung, andererseits - ebenso wie das allgemeine Rechtsstaatsprinzip - keinen Instanzenzug.

 

Normenkette

SGG § 146; BErzGG § 13 S 2; GG Art 19 Abs 4

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 29.01.1988; Aktenzeichen L 6 Eg 1/87)

SG Koblenz (Entscheidung vom 03.04.1987; Aktenzeichen S 3 Eg 1/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Erziehungsgeld nach dem Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (Bundeserziehungsgeldgesetz - BErzGG) vom 6. Dezember 1985 (BGBl I 2154).

Die Klägerin, Hausfrau, nahm das am 7. Februar 1986 geborene Kind Jessica ihrer in Berufsausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin befindlichen Tochter zur Versorgung und Erziehung in ihren Haushalt auf. Den Antrag, ihr das Sorgerecht für ihr Enkelkind zu übertragen, nahm sie auf Anraten des Vormundschaftsrichters zurück.

Die Kreisverwaltung des Rhein-Hunsrück-Kreises lehnte den am 14. Mai 1986 eingegangenen Antrag der Klägerin auf Erziehungsgeld für das Enkelkind ab, weil es an der Voraussetzung des § 1 Abs 1 BErzGG fehle, daß ihr - der Klägerin - die Personenfürsorge für das Kind zustehe (Bescheid vom 21. Mai 1986). Der Widerspruch und die auf Gewährung des Erziehungsgeldes ab 14. März 1986 gerichtete Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid des Beklagten - Landesamt für Jugend und Soziales - vom 19. August 1986; Urteil des Sozialgerichts -SG- Koblenz vom 3. April 1987). In der Rechtsmittelbelehrung des SG-Urteils heißt es, daß dieses Urteil mit der Berufung angefochten werden könne.

Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 29. Januar 1988 zurückgewiesen: Die zulässige Berufung sei nicht begründet. Daß der Anspruch auf Erziehungsgeld in einem Fall wie dem vorliegenden von der Sorgeberechtigung abhänge, entspreche der Systematik und dem Zweck des Gesetzes und verstoße auch nicht gegen das Grundgesetz (GG).

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie trägt vor, § 1 BErzGG gebe ihr, analog angewandt, einen Anspruch. Während sie selbst wegen der Betreuung ihres Enkelkindes auf eine eigene Berufstätigkeit verzichtet habe, erhalte sie mangels übertragenen Sorgerechts kein Erziehungsgeld. Ihre Tochter habe, obwohl sorgeberechtigt, keinen Anspruch, weil sie ausbildungsbedingt das Kind nicht versorgen und erziehen könne; die Unterbrechung der Ausbildung sei aber ungleich schwieriger als eine Unterbrechung sonstiger Berufstätigkeit. Deshalb sei § 1 BErzGG, sofern die Vorschrift keine planwidrige Lücke enthalte, auf einen Verstoß gegen Art 3 GG hin zu überprüfen.

Die Klägerin beantragt,

1. die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid des

Beklagten vom 21.05.1986 in der Gestalt des Wider-

spruchsbescheides vom 19.08.1986 aufzuheben und

2. das beklagte Land zu verurteilen, der Klägerin für

deren am 07.02.1986 geborene Enkeltochter Jessica-

Hildegard B.------ ab dem 14.03.1986 Erziehungsgeld

zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er wendet ein, die Revision verkenne die Zielsetzung des Gesetzes, wenn sie den Mangel des den Großeltern fehlenden Personensorgerechts im Wege der Analogie auszuräumen versuche. Auch Art 3 GG sei nicht verletzt. Im übrigen seien politische Bemühungen im Gange, Auszubildenden mit Kleinkindern verstärkt die Möglichkeit der Teilzeitausbildung anzubieten.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht ist ihre Berufung gegen das Urteil des SG erfolglos geblieben.

Bei einer zulässigen Revision hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen, ob das Verfahren vor dem LSG an Mängeln leidet, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozeßvoraussetzungen ergeben. Ansonsten würde das Revisionsverfahren einer entscheidenden Grundlage entbehren (st Rspr; s BSGE 35, 267, 271 = SozR Nr 5 zu § 551 RVO; BSG SozR 1500 § 150 Nr 18 mwN). Dazu gehört auch die Prüfung, ob das LSG über eine Berufung sachlich-rechtlich entschieden hat, obwohl es sie durch Prozeßurteil hätte als unzulässig verwerfen müssen.

Das LSG hat zu Unrecht ein Sachurteil erlassen; denn die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG war unzulässig.

Gemäß § 13 Satz 2 BErzGG, eingefügt durch Art 8 Nr 2 des Siebten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (7. RVÄndG) vom 19. Dezember 1986 (BGBl I S 2586) mit Wirkung vom 1. Januar 1986 (Art 11 Abs 2 aaO), gelten für Erziehungsgeldsachen die für Rechtsstreitigkeiten in Angelegenheiten der Rentenversicherung anzuwendenden Vorschriften mit Ausnahme des § 78 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entsprechend. Die Bezugnahme in § 13 Satz 2 BErzGG auf die für Rechtsstreitigkeiten in Angelegenheiten der Rentenversicherung anzuwendenden Vorschriften umfaßt nach dem eindeutigen Wortlaut alle für die Rentenversicherung maßgeblichen Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes mit Ausnahme des ausdrücklich ausgenommenen § 78 Abs 2 SGG, mithin also auch § 146 SGG. Hinweise, wonach eine entsprechende Anwendung des § 146 SGG von der Geltung für Erziehungsgeldsachen hätte ausgenommen werden sollen, ergeben sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte des § 13 Satz 2 BErzGG. Die Materialien zu dem im Regierungsentwurf des 7. RVÄndG (BT-Drucks 10/5957) noch nicht enthaltenen, erst im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens eingefügten Satz 2 des § 13 (vgl Beschlußempfehlung und Bericht des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks 10/6430, S 15 zu Art 8 Nr 2) befassen sich nicht mit der Frage der Anwendbarkeit des § 146 SGG auf Erziehungsgeldsachen.

Aus der gemäß § 13 Satz 2 BErzGG vorgeschriebenen entsprechenden Anwendung des § 146 SGG folgt, daß die Berufung gegen ein sozialgerichtliches Urteil ua nicht zulässig ist, soweit sie nur Erziehungsgeld "für bereits abgelaufene Zeiträume" betrifft (ebenso Grüner/Dalichau, BErzGG, § 13 Anm III 2; Wiegand, BErzGG, § 13 Anm 13a). Das war hier der Fall. Das bei Berufungseinlegung von der Klägerin begehrte Erziehungsgeld konnte sich schon damals nur auf abgelaufene Zeiträume beziehen.

Die Regelung des § 13 Satz 2 BErzGG, die aufgrund der Dauer des vorgeschriebenen Vorverfahrens und des sich anschließenden erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahrens im Ergebnis einen weitgehenden Berufungsausschluß in Erziehungsgeldstreitigkeiten nach sich zieht, soweit nicht die Berufung unter den Voraussetzungen des § 150 Nr 1 und 2 SGG zulässig sein sollte, begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Beschränkung auf eine Gerichtsinstanz ist auch im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG nicht zu beanstanden. Art 19 Abs 4 GG gewährleistet einerseits den Rechtsweg und damit Rechtsschutz nur im Rahmen der jeweils geltenden Prozeßordnung (vgl BVerfGE 10, 267f; 27, 310; 40, 274), andererseits - ebenso wie das allgemeine Rechtsstaatsprinzip - keinen Instanzenzug (st Rspr des BVerfG, vgl zB BVerfGE 11, 232, 233; 28, 21, 36; 54, 143, jeweils mwN), so daß schon ungeachtet des Umstands, daß der Instanzenzug in Erziehungsgeldsachen ohnehin nicht generell ausgeschlossen ist, ein Grundrechtsverstoß nicht zu erkennen ist (zur Verfassungsmäßigkeit des § 146 SGG: BVerfG in SozR 1500 § 146 Nr 13). Im übrigen existierte die Neuregelung des § 13 Satz 2 BErzGG bereits, als das SG-Urteil erging.

Die Berufung der Klägerin ist auch nicht gemäß § 150 Nr 1 SGG zulässig gewesen. Zwar lautet die Formulierung in der Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Urteils: "Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden." Darin liegt jedoch allenfalls die Wiedergabe der - unzutreffenden - Rechtsansicht des SG, aufgrund derer es die Berufung als zulässig erachtet hat. Tenor und Gründe des Urteils enthalten aber keine Entscheidung darüber, die an sich nicht statthafte Berufung ausnahmsweise zuzulassen (vgl BSG SozR 1500 § 150 Nr 3).

Nach allem war die Revision der Klägerin mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß ihre Berufung gegen das angefochtene Urteil des LSG als unzulässig zu verwerfen war. Die Änderung des Sachurteils in ein Prozeßurteil stellt keine reformatio in peius dar (BSG-Urteil vom 31. Oktober 1979 - 10 RV 27/79 - unveröffentlicht).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660471

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