Leitsatz (amtlich)

1. Der durch das UVNG mit Wirkung ab 1963-07-01 neu eingeführte RVO § 551 Abs 2 - iVm UVNG Art 4 § 2 Abs 1 - ist auch auf Sachverhalte anzuwenden, die vor seinem Inkrafttreten liegen, wenn diese in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirken.

2. Zur Bedeutung des RVO § 551 Abs 2.

3. Da die Soll-Vorschrift des RVO § 551 Abs 2 dem Träger der Unfallversicherung ein - wenn auch eng begrenztes - Ermessen einräumt, muß in diesen Fällen ein Vorverfahren gemäß SGG § 78, § 79 Nr 1 stattfinden.

 

Normenkette

RVO § 551 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30; SGG § 78 Fassung: 1953-09-03, § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; UVNG Art. 4 § 2 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 6. November 1969 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Berufsgenossenschaft verpflichtet ist, den Kläger wegen seines Kehlkopfkrebses zu entschädigen.

Der Kläger, 1911 geboren, war seit 1946 als Betriebsarbeiter in verschiedenen Abteilungen der H Gaswerke GmbH beschäftigt. Im November 1962 wurde er wegen eines Kehlkopfkrebses operiert. Er führt diese Erkrankung auf seine Tätigkeit im Gaswerk H zurück, bei der er zeitweise heißen Teer- und Öldämpfen ausgesetzt war.

Im Mai 1963 zeigten die H Gaswerke die Kehlkopferkrankung des Klägers bei der Beklagten als Berufskrankheit an. Der Staatliche Gewerbearzt holte daraufhin ein Gutachten des Chefarztes der Hals-Nasen-Ohrenabteilung des Allgemeinen Krankenhauses St. G in H, Dr. V, ein, der den Kläger auch behandelt und operiert hatte. Dieser Arzt, der das - inzwischen stillgelegte - Gaswerk Hamburg-Barmbek sowie ein anderes in der Arbeitsweise vergleichbares Gaswerk besichtigt hatte, kam zu dem Ergebnis, eine über das Normalmaß hinausgehende Konzentration von Teerdämpfen könne hinsichtlich des Klägers ausgeschlossen werden; zudem sei auch eine signifikante Häufung von Kehlkopfkrebs bei Arbeiten in Gaswerken bisher nicht festgestellt worden. Als Ursache der Erkrankung des Klägers müsse deshalb ein endogener Faktor angenommen werden. Gestützt auf diese ärztliche Beurteilung, der sich der Staatliche Gewerbearzt anschloß, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. Mai 1964, nach der 3., 4., 5. und 6. Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO), den Anspruch des Klägers auf Anerkennung seiner Erkrankung als Berufskrankheit ab und führte zur Begründung aus, diese Erkrankung sei in der Anlage 1 zur 6. BKVO nicht genannt; auch fehle es an einem wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhang der Erkrankung mit der beruflichen Tätigkeit.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage erhoben und vorgetragen, eine Entschädigungspflicht ergebe sich auch aus § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Beklagte hat darauf erwidert, die Voraussetzungen dieser Bestimmung seien nicht erfüllt; denn der Kläger sei weder über das Normalmaß hinaus Einflüssen von Schädigungsstoffen ausgesetzt gewesen, noch lägen neue Erkenntnisse über die Ursache eines gewesen, noch lägen neue Erkenntnisse über die Ursache eines Kehlkopfkarzinoms vor. Außerdem könne § 551 Abs. 2 RVO nicht auf alte Versicherungsfälle angewandt werden; denn die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse müßten erst nach dem Erlaß der 6. BKVO gewonnen worden sein.

Das Sozialgericht (SG) hat verschiedene Auskünfte, Befundberichte und Gutachten eingeholt und dann die Beklagte mit Urteil vom 24. Oktober 1967 verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung von "Kehlkopfkrebs" als Berufskrankheit i. S. des § 551 Abs. 2 RVO ab 1. Juli 1963 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 v. H. zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage sei zulässig; denn eines Vorverfahrens habe es nicht bedurft, da der angefochtene Bescheid keine Ermessensentscheidung enthalten habe. Die Sollvorschrift in § 551 Abs. 2 RVO sei nicht anders als eine Mußvorschrift zu beurteilen. Unter Hinweis auf die vorliegenden Gutachten und mit Rücksicht darauf, daß Art. 4 § 2 Abs. 1 Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) auch den vorliegenden Sachverhalt erfasse, müsse davon ausgegangen werden, die entscheidenden medizinischen Erkenntnisse der Wissenschaft, die erst kurz vor bzw. nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO gewonnen worden seien, ergäben, daß die Erkrankung des Klägers an Kehlkopfkrebs mit Wahrscheinlichkeit auf den Einfluß von Berufsnoxen (heiße Teerdämpfe) zurückzuführen sei.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 1964 abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: In der z. Zt. der Entstehung der Krebserkrankung des Klägers geltenden 6. BKVO vom 28. April 1961 wie auch in der nunmehr geltenden 7. BKVO vom 20. Juni 1968 seien nur Erkrankungen an Hautkrebs als Berufskrankheit aufgeführt, ein Kehlkopfkrebs gehöre nicht dazu. Auch handele es sich nicht um eine Erkrankung, die durch Benzol oder seine Homologen hervorgerufen worden sei. Die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO, der keine Ermessensentscheidung betreffe, lägen ebenfalls nicht vor; denn es seien neue hinreichend gesicherte medizinische Erkenntnisse, die insbesondere in der letzten BKVO noch nicht berücksichtigt worden wären, hinsichtlich der Frage, ob die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers durch seine Tätigkeit im Gaswerk H, bei der er zeitweise heißen Teer- und Öldämpfen ausgesetzt gewesen sei, nicht feststellbar.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt, mit der er die Rechtsauffassung des LSG bekämpft; er ist der Ansicht, daß die für Fälle der vorliegenden Art gewonnenen früheren Erkenntnisse jetzt "herrschend" geworden seien.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 24. Oktober 1967 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im wesentlichen für zutreffend; die Vorschrift des § 551 Abs. 2 RVO nF sei darüberhinaus auch dem Grunde nach nicht anwendbar, weil sie nicht für Krankheiten gelte, die - wie hier - vor dem 1. Juli 1963 bestanden hätten.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß § 551 Abs. 1 RVO i. V. mit der z. Zt. der Feststellung der Krebserkrankung des Klägers geltenden 6. BKVO vom 28. April 1961 (BGBl I 505) wie übrigens auch in der heute geltenden 7. BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) nur die Erkrankung an Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe als Berufskrankheit aufführt (siehe Nr. 47 der Anlage zur 6. BKVO). Nach den Feststellungen des LSG, die auf medizinischen Sachverständigengutachten beruhen, gehört der Kehlkopfkrebs nicht hierzu; auch handelt es sich nicht um eine Erkrankung, die durch Benzol oder seine Homologen hervorgerufen worden ist (Nr. 4 der Anlage zur 6. BKVO). Das ist zwischen den Beteiligten letztlich auch unstreitig. Meinungsverschiedenheiten bestehen lediglich darüber, ob auf den vorliegenden Fall § 551 Abs. 2 RVO anzuwenden ist, der bestimmt, daß die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der in § 551 Abs. 1 RVO genannten Rechtsverordnung bezeichnet ist oder wenn die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen "sollen", sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des genannten Absatzes 1 erfüllt sind.

Diese Bestimmung soll als Ausnahmevorschrift etwaige Härten beseitigen (BSG 22, 63, 67) und den besonderen Umständen eines "Einzelfalles" Rechnung tragen, und zwar auch in dem Sinne, daß eine individuell gegebene besonders ausgeprägte Empfindlichkeit zu berücksichtigen ist (vgl. BT-Drucks. IV/938 neu, S. 7); das schließt allerdings nicht aus, daß eine Reihe von Einzelfällen gleich behandelt werden (vgl. hierzu Lauterbach, Komm. zur Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 13 zu § 551 RVO). Der Versicherungsträger soll unter Würdigung dieser Umstände und etwaiger "neuer Erkenntnisse" prüfen, ob im Einzelfall eine Entschädigung "am Platze ist" (so zutreffend Lauterbach aaO Anm. 11). Die Erkenntnisse müssen zwar "neu" sein (vgl. BSG 21, 296, 298); "neue Erkenntnisse" in diesem Sinne liegen aber auch dann vor, wenn "alte" oder "frühere" Erkenntnisse nunmehr zu einem solchen - neuen - Erkenntnisstand geführt haben (vgl. Lauterbach aaO Anm. 19, vorletzter Absatz), daß eine Entschädigung nach dem Sinn und Zweck der neuen Vorschrift des § 551 Abs. 2 RVO nicht versagt werden soll. Dabei ist es unerheblich, ob die betreffende Krankheit in einer späteren BKVO förmlich als Berufskrankheit aufgeführt worden ist; denn auch für die spätere - hier die 7. - BKVO gilt die ergänzende Vorschrift des § 551 Abs. 2 RVO, die für den Versicherten nur eine "Soll-Leistung" zum Ausgleich von Härten vorsieht.

Dem LSG kann darin gefolgt werden, daß § 551 Abs. 2 RVO, der erst die erwähnte Möglichkeit der Anerkennung einer Krankheit wie eine Berufskrankheit geschaffen hat, grundsätzlich auch auf Sachverhalte anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des UVNG am 1. Juli 1963 (Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG) liegen. Das ergibt sich insbesondere aus Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG, der ausdrücklich vorsieht, daß § 551 Abs. 2 RVO auch für Arbeitsunfälle gilt, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten sind. Voraussetzung der genannten Überleitungsvorschrift ist, wie der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 23, 139, 142 ausgeführt hat, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt (vgl. auch Urteil des 5. Senats in SozR Nr. 1 zu § 589 RVO). Ein solches "Hineinwirken" ist nur dann verneint worden, wenn der nach neuem Recht anspruchsbegründende Tatbestand bereits vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts vollständig abgeschlossen war, ohne nach altem Recht auch nur dem Grunde nach einen Anspruch erzeugt zu haben (SozR Nr. 1 zu § 589 RVO). Dieses gilt nicht nur für Arbeitsunfälle, sondern auch für Berufskrankheiten; denn sie stehen Arbeitsunfällen gleich (§ 551 Abs. 1 Satz 1 RVO). Deswegen brauchte es auch keiner besonderen Erwähnung von Berufskrankheiten in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG, sondern es genügte der Hinweis auf § 551 Abs. 2 RVO. So hat denn auch der 2. Senat des BSG in einem Fall, in dem eine Erkrankung vor dem 1. Juli 1963 eingetreten war, geprüft, ob sich der geltend gemachte Entschädigungsanspruch aus § 551 Abs. 2 RVO herleiten lasse (BSG 21, 296, 298), und in BSG 22, 63, 67 ausdrücklich ausgesprochen, daß § 551 Abs. 2 RVO auch für Versicherungsfälle gelte, die vor dem Wirksamwerden des UVNG eingetreten seien. Soweit Koetzing/Noeske (in BG 1963, 363, 365 rechte Spalte) und ihm folgend Lauterbach (aaO Bd. 1 Anm. 21 zu § 551 RVO) anderer Ansicht sein sollten, vermochte ihnen der Senat ebensowenig zu folgen wie dies im Ergebnis Brackmann (Handbuch der Sozialversicherung, Stand August 1972 Bd. II S. 492 w) tut. Allerdings ist auch dann, wenn ein Hineinwirken in dem obengenannten Sinne vorliegt, nach dem Sinngehalt der Vorschrift (vgl. BSG 21, 296), der bei rückwirkender Anwendung zu beachten ist, das Eingreifen des § 551 Abs. 2 RVO für die Fälle zu verneinen, in denen der Gesetzgeber bei einer bestimmten Erkrankung die Gewährung einer Entschädigung durch Ausschluß der Rückwirkung der betreffenden Bestimmung versagt hat (vgl. BSG 22, 63, 66, 67). Für das Vorliegen einer solchen Ausnahme bieten weder das Gesetz noch die entsprechenden Materialien hier Anhaltspunkte.

Nach § 551 Abs. 2 RVO "sollen" die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der in Abs. 1 genannten Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind. Diese Sollvorschrift räumt dem Unfallversicherungsträger eine - wenn auch eng begrenzte - Beurteilungsermächtigung (einen Beurteilungsspielraum) für die Ausübung des eigenen Ermessens ein, wie sich schon aus den obigen Ausführungen, aber auch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt.

In § 553 Abs. 3 des von der Bundesregierung beschlossenen Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung vom 21. März 1957 (BT-Drucks. 3318) war noch vorgesehen worden, daß die Träger der Unfallversicherung eine Krankheit auch dann als Berufskrankheit entschädigen konnten, wenn sie nicht durch Rechtsverordnung als Berufskrankheit bezeichnet war. Der sozialpolitische Ausschuß des Bundestags hat dann dieses "kann" (vgl. § 552 Abs. 2 des Entwurfs eines UVNG - BT-Drucks. IV/120 -) in ein "soll" umgeändert und dazu u. a. ausgeführt, daß dem Versicherungsträger anstelle der im Entwurf vorgesehenen Kannleistung eine Verpflichtung auferlegt werden sollte, eine solche Erkrankung wie eine Berufskrankheit zu entschädigen (siehe BT-Drucks. IV/938 - neu - S. 7 und S. 47). Er hat allerdings die Verpflichtung nicht in der Form eines "muß" oder "hat zu" verstanden; denn sonst hätte es nahegelegen, diese strengere Formulierung zu wählen, sondern er hat offenbar eine schwächere Art der Verpflichtung der Unfallversicherungsträger gewollt, die dahin geht, diesen einen Spielraum insoweit einzuräumen, der es ermöglicht, unter gewissen Umständen - etwa in unklaren Fällen - in Abweichung von der Regel von einer Entschädigung abzusehen oder in individuell besonders gelagerten Fällen eine Entschädigung ausnahmsweise zu gewähren. Diese Auslegung der Sollvorschrift entspricht im wesentlichen auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG). Dieses hatte zunächst ausgeführt, Sollvorschriften seien - solange die Verwaltung nicht besondere Umstände dartun und beweisen könne, die ausnahmsweise ein Abweichen von der Regel zulassen würden - für die Verwaltung ebenso verbindlich wie eine Mußvorschrift (DVBl 1960, 252, 253). Schon diese Entscheidung geht davon aus, daß nicht wie bei einem "muß" in jedem Falle bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entsprechend zu verfahren sei. Daß der Verwaltung hier eine gewisse Freiheit der Entscheidung gelassen werden soll, läßt auch das nächstfolgende Urteil des BVerwG erkennen, in dem ausdrücklich gesagt worden ist, das "soll" erlaube der Verwaltung einen gewissen, eng umgrenzten Raum für die Ausübung von Ermessen (DVBl 1961, 166). Auch in den weiteren Entscheidungen geht das BVerwG immer wieder davon aus, daß zwar das "soll" in typischen Fällen zu einem "muß" für die Verwaltung werde, daß aber letztlich hinsichtlich der Frage, ob ein atypischer oder ein Ausnahmefall vorliege, ihr ein begrenztes Ermessen zuzubilligen sei (vgl. BVerwG 12, 284, 285, 288 = Der Sozialversicherungsbeamte und -angestellte 1961, 214 -; 16, 224, 226 - Spielraum bei besonderen Umständen -; 20, 117, 118; DVBl 1967, 661, 662). Diese Auffassung wird auch vom BSG (siehe SozR Nr. 4 zu § 12 BKGG) und der Rechtswissenschaft geteilt (vgl. u. a. Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 8. Aufl. 1971 § 31 II b S. 186; Brackmann aaO 492 w). Soweit der Bundesgerichtshof (BGH) zu § 10 Bundesentschädigungsgesetz die Auffassung vertreten hat (vgl. Rz 1957, 401, 402), das "soll" stehe dem "muß" gleich, beruht dies auf dem speziellen Sinn und Zweck dieser Vorschrift. Die Entstehungsgeschichte des § 551 Abs. 2 RVO gibt für eine solche - der Ansicht des BGH entsprechende - Auslegung jedoch keine genügenden Anhaltspunkte.

§ 551 Abs. 2 RVO ist nach alledem dahin zu verstehen, daß im typischen Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung zu § 551 Abs. 1 RVO bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, grundsätzlich wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist ("muß"), sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind. Der Unfallversicherungsträger kann aber trotz Vorliegen dieser Voraussetzungen unter besonderen Umständen - in sog. atypischen Fällen -, die er darzutun (BVerwG 12, 284, 285) und zu beweisen (BVerwG DVBl 1960, 252, 253) hat, die Anerkennung ablehnen; andererseits soll er - im Leistungsrecht der Unfallversicherung gemäß § 551 Abs. 2 RVO - in individuell besonders gelagerten bzw. in Härtefällen eine Entschädigung gewähren.

Ist dem Unfallversicherungsträger hier somit ein - wenn auch eng begrenztes - Ermessen in der Form der Beurteilungsermächtigung (Beurteilungsspielraum) eingeräumt worden, dann hätte gemäß § 78, § 79 Nr. 1 SGG ein Vorverfahren stattfinden müssen; denn der Kläger hatte insoweit keinen eindeutigen Anspruch auf diese Leistung. Das hat das LSG verkannt. Es ist rechtsirrig davon ausgegangen, daß es sich bei der vom Kläger geltend gemachten Entschädigung um eine solche handele, auf die ein Anspruch besteht, und es hat deswegen seinen Antrag, ohne daß ein Vorverfahren stattgefunden hat, sachlich beschieden. Es hat also zu Unrecht ein Sachurteil erlassen. Dieses ist ein wesentlicher Mangel seines Verfahrens, der, da er in jeder Instanz fortwirkt, von Amts wegen zu berücksichtigen ist (vgl. BSG in SozR Nr. 49 zu § 150 SGG mit weiteren Nachweisen). Deswegen mußte hier nach der Rechtsprechung des BSG (BSG 20, 199, 200 f; 25, 66, 68 f) das angefochtene Urteil des LSG aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen werden, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, das Vorverfahren nachzuholen (die Bedenken bei Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl. § 78 Anm. 3 S. 265 gelten auch nach deren Auffassung nicht für einen Fall der vorliegenden Art).

In der Klage gegen den angefochtenen Bescheid muß zugleich ein Widerspruch erblickt werden, und die Widerspruchsfrist ist - bei rechtzeitiger Klage - daher als gewahrt anzusehen (BSG 20, 199, 200 f). Das Vorverfahren ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil die beklagte Verwaltung im Prozeß an dem angefochtenen Bescheid festgehalten hat (BSG 20, 200). Jedoch bedarf es nicht eines neuen Feststellungsverfahrens durch die Verwaltung nach §§ 1568 ff RVO. Es kann hier dahinstehen, ob die Beklagte mit Rücksicht auf den gegebenen Sachverhalt verpflichtet war, ausdrücklich durch einen entsprechenden Bescheid darüber zu befinden, daß sie die Erkrankung des Klägers auch nicht nach § 551 Abs. 2 RVO wie eine Berufskrankheit entschädigen will; denn sie hat im Streitverfahren eindeutig erklärt, daß sie nicht bereit ist, eine solche Entschädigung zu gewähren. Damit hat sie auch in dieser Beziehung ihre ablehnende Entscheidung unmißverständlich zu erkennen gegeben.

Um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, das erforderliche Vorverfahren, bei dem das bisherige Ermittlungsergebnis berücksichtigt werden kann, nachzuholen (BSG 25, 66, 68 f), mußte das angefochtene Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen werden. Es wird bei seiner Entscheidung die Rechtsauffassung des erkennenden Senats zu beachten haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG überlassen.

 

Fundstellen

BSGE, 267

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