Orientierungssatz

1. Ein Anspruch auf Verletztengeld ist nicht schon aus dem Grund ausgeschlossen, weil der Verletzte bei Eintritt der auf einen Arbeitsunfall zurückzuführende Arbeitsunfähigkeit arbeitslos gewesen ist. Auch ein Arbeitsloser kann arbeitsunfähig iS der gesetzlichen Krankenversicherung, was RVO § 560 Abs 1 S 1 voraussetzt, werden. Die Lohnersatzfunktionen des Verletztengeldes kommt in RVO § 560 Abs 1 S 1 Halbs 2 insbesonders darin zum Ausdruck, daß kein Anspruch auf Verletztengeld besteht, soweit der Verletzte Arbeitsentgelt erhält.

2. Es gibt keinen allgemeinen Grundsatz, daß beim Zusammentreffen von Sozialleistungen, denen Lohnersatzfunktion zukommt, (hier: Verletztengeld und Altersruhegeld) stets nur ein Anspruch auf eine dieser Leistungen besteht. Vielmehr hat der Gesetzgeber in solchen Fällen jeweils eine besondere, den Umständen angemessene Regelung getroffen (vergleiche beispielsweise RVO § 183 Abs 3 und 4 RVO und dazu BSG 1963-03-26 3 RK 20/62 = BSGE 19, 28 ; BSG 1966-08-11 3 RK 32/64 = SozR Nr 17 zu § 183 RVO). Für das Verletztengeld gilt insoweit, anders als beim Anspruch auf Krankengeld im ähnlichen Fall des RVO § 183 Abs 4, keine einschränkende Regelung.

 

Normenkette

RVO § 560 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1963-04-30, § 183 Abs. 3 Fassung: 1961-07-12, Abs. 4 Fassung: 1961-07-12

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. April 1969 und das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 25. April 1968 aufgehoben; der Bescheid der Beklagten vom 1. Dezember 1967 wird geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 8. Juni bis 15. Oktober 1967 Verletztengeld unter Anrechnung der Leistungen der DAK zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.

 

Gründe

I

Der ... 1902 geborene Kläger bezieht seit dem 1. Mai 1967 Altersruhegeld aus der Rentenversicherung der Angestellten. Nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses als Versandleiter am 31. Mai 1967 meldete er sich beim Arbeitsamt Köln arbeitslos und erhielt Arbeitslosengeld. Als der Kläger am 8. Juni 1967 seiner Meldepflicht nachkam, stürzte er im Gebäude des Arbeitsamts und brach sich den linken Oberarm. Wegen der Folgen dieses Unfalls war er vom 8. Juni bis 15. Oktober 1967 arbeitsunfähig. Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) zahlte ihm bis zum 19. Juli 1967 (6 Wochen) Krankengeld in Höhe des Arbeitslosengeldes.

Durch Bescheid vom 1. Dezember 1967 lehnte die Beklagte die Gewährung von Verletztengeld ab, weil der Kläger zur Zeit des Unfalls nicht erwerbstätig gewesen sei. Sinn und Zweck des Verletztengeldes sei es, den durch einen Unfall bedingten Ausfall an Arbeitsentgelt zu ersetzen. Der Kläger habe jedoch keinerlei Einkommen aus einer Arbeits- oder Erwerbstätigkeit bezogen.

Durch Bescheid vom 7. März 1968 gewährte die Beklagte dem Kläger wegen der Unfallfolgen vom 16. Oktober 1967 an Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente.

Die wegen der Versagung des Verletztengeldes erhobene Klage hat das Sozialgericht Köln durch Urteil vom 25. April 1968 aus den Gründen des Bescheides abgewiesen.

Die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 1. April 1969 zurückgewiesen. In den Gründen hat es u. a. ausgeführt:

Der Kläger habe keinen Anspruch auf Verletztengeld für die Zeit vom 8. Juni bis 15. Oktober 1967. Er sei in dem genannten Zeitraum infolge des Arbeitsunfalls zwar arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung gewesen. Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Meinung könne auch ein Arbeitsloser arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung sein. Arbeitsunfähigkeit in diesem Sinne bedeute, daß der Erkrankte seine vor der Erkrankung ausgeübte Tätigkeit infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr verrichten könne. Habe der Versicherte vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit keine Erwerbstätigkeit ausgeübt, so sei festzustellen, welche Tätigkeit der Versicherte mutmaßlich zur Zeit der Erkrankung ausgeübt haben würde, wenn er damals einem Erwerb nachgegangen wäre. Daraus folge jedoch nicht, daß ein Arbeitsloser stets Anspruch auf Verletztengeld habe, wenn er aufgrund von Unfallfolgen arbeitsunfähig sei. Nach dem Sinn und Zweck des § 560 der Reichsversicherungsordnung (RVO) habe das Verletztengeld - wie das Krankengeld - Lohnersatzfunktion. Es solle einen Ausgleich dafür schaffen, daß dem Arbeitsunfähigen Arbeitsentgelt in bestimmter Höhe entgangen sei. Das müsse feststehen oder festgestellt werden. Bei einem Arbeitslosen bedeute dies, daß ein Anspruch auf Verletztengeld nur zugesprochen werden könne, wenn feststehe, daß er eine bestimmte Arbeit, für die er vermittlungsfähig gewesen sei und die ihm den Umständen nach auch vermittelt worden wäre, infolge des Arbeitsunfalls nicht habe aufnehmen können, so daß er dadurch einen bestimmten Lohnausfall habe. Es müsse also ein konkreter, durch den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit verursachter Lohnausfall festgestellt werden. Hierfür seien beim Kläger keine Anhaltspunkte vorhanden. Der Kläger habe nicht behauptet, daß er in der streitigen Zeit infolge des Unfalls eine bestimmte Arbeit, die ihm sonst vermittelt worden wäre, nicht habe annehmen können. Wenn er vortrage, er habe durch die Arbeitsunfähigkeit sein Arbeitslosengeld verloren, so sei darauf hinzuweisen, daß er als Krankengeld denjenigen Betrag erhalten habe, den er in dieser Zeit als Arbeitslosengeld bekommen haben würde.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:

Die Auffassung des Berufungsgerichts, daß nach Sinn und Zweck des § 560 RVO für den Anspruch auf Verletztengeld ein konkreter Lohnausfall vorliegen müsse, sei nicht haltbar. Wenn ein Verdienstausfall unausgesprochene Voraussetzung jeglichen Anspruchs auf Verletztengeld wäre, hätte der Gesetzgeber in § 560 Abs. 1 Satz 1 RVO nicht ausdrücklich vorzuschreiben brauchen, daß insoweit kein Verletztengeld gewährt werde, als der Verletzte Arbeitsentgelt erhalte. Daß ein konkreter Lohnausfall nicht Anspruchsvoraussetzung sei, werde z. B. deutlich, wenn eine Aushilfskraft vor Ablauf ihres befristeten Arbeitsverhältnisses wegen eines Arbeitsunfalls arbeitsunfähig erkranke. Sie erhalte dann nicht nur bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses Verletztengeld, sondern noch darüber hinaus, ohne daß es darauf ankomme, ob bei Arbeitsfähigkeit ein neues Arbeitsverhältnis eingegangen worden wäre. Daß Arbeitslose Anspruch auf Verletztengeld hätten, werde auch in § 118 Nr. 2 des am 1. Juli 1969 in Kraft getretenen Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I 582) vorausgesetzt. Danach ruhe der Anspruch auf Arbeitslosengeld während der Zeit, für die dem Arbeitslosen ein Anspruch auf Verletztengeld zustehe. Gäbe es kein Zusammentreffen von Verletztengeld mit Arbeitslosengeld, hätte es dieser Vorschrift nicht bedurft. Wenn der Anspruch auf Verletztengeld verneint werde, erhalte der Kläger nach Ablauf der ersten 6 Wochen der Arbeitsunfähigkeit für deren weitere Dauer weder Krankengeld noch Verletztengeld.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des SG Köln und des LSG Nordrhein-Westfalen sowie des Bescheides der Beklagten vom 1. Dezember 1967 diese zu verurteilen, ihm vom 8. Juni bis 15. Oktober 1967 Verletztengeld unter Anrechnung der Leistungen der DAK zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, das LSG habe einen Anspruch des Klägers auf Verletztengeld nur wegen des Fehlens tatsächlicher Voraussetzungen verneint, halte aber einen Anspruch auf Verletztengeld bei Arbeitslosen grundsätzlich für möglich, weil die Lohnersatzfunktion des Verletztengeldes unabhängig von der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung nach § 560 RVO sei. Sie sei dagegen der Auffassung, daß Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung nach § 560 RVO begrifflich nur vorliegen könne, wenn unmittelbar infolge eines Arbeitsunfalls eine bis dahin ausgeübte Erwerbstätigkeit habe aufgegeben werden müssen. Nur unter dieser Voraussetzung erscheine auch die Ausnahmeregelung des § 110 des in dem fraglichen Zeitraum noch geltenden Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) sinnvoll. Die differenzierte Betrachtungsweise des LSG zur Frage der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung einerseits und der Prüfung der Lohnersatzfunktion andererseits würde zu einer unklaren Rechtslage führen. Zur Ermittlung der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung müßte bei Arbeitslosen ihre frühere Erwerbstätigkeit zum Vergleich herangezogen werden, also die Zeit der Arbeitslosigkeit, in welcher der Arbeitsunfall eingetreten sei, unberücksichtigt bleiben, während zur Feststellung eines Verdienstausfalls weitgehend hypothetische Ermittlungen durchgeführt werden müßten. Dies dürfte kaum dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 560 RVO entsprechen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist begründet.

Wie der erkennende Senat im Urteil vom 29. November 1972 (8/2 RU 123/71) entschieden hat, ist - entgegen einer vor allem im Schrifttum vertretenen Meinung - ein Anspruch auf Verletztengeld nicht schon aus dem Grund ausgeschlossen, weil der Verletzte bei Eintritt der auf einen Arbeitsunfall zurückzuführenden Arbeitsunfähigkeit arbeitslos gewesen ist. Er ist in dieser Entscheidung mit näherer Begründung insbesondere der - von der Beklagten im vorliegenden Rechtsstreit wiederholten - Meinung entgegengetreten, daß ein Arbeitsloser nicht arbeitsunfähig im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung, was § 560 Abs. 1 Satz 1 RVO voraussetzt, werden könne.

Das Berufungsgericht ist mit Recht der Auffassung, daß der Kläger durch die Folgen des nach § 539 Abs. 1 Nr. 4 RVO geschützten Unfalls vom 8. Juni 1967 von diesem Tage an arbeitsunfähig im Sinne des § 560 RVO gewesen ist. Da sich der Unfall wenige Tage nach Beendigung seiner Beschäftigung ereignet hat, begegnet in der vorliegenden Sache die in manchen Fällen nicht einfach zu entscheidende Frage, auf welche Tätigkeit bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit abzustellen ist (vgl. RVA, AN 1935, 308), keinen Schwierigkeiten.

Der erkennende Senat vermag dem LSG allerdings nicht zu folgen, daß ein arbeitsloser Verletzter wegen der Lohnersatzfunktion des Verletztengeldes nur unter eingeschränkten Voraussetzungen einen Anspruch auf diese Leistung habe. Hierzu wird auf die Begründung des Urteils des Senats vom 29. November 1972 verwiesen. Die Lohnersatzfunktion des Verletztengeldes kommt nach der Auffassung des erkennenden Senats in § 560 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 RVO insbesondere darin zum Ausdruck, daß kein Anspruch auf Verletztengeld besteht, soweit der Verletzte Arbeitsentgelt erhält. Dies war beim Kläger während der Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit indessen nicht der Fall. Das bis dahin gewährte Arbeitslosengeld ist mit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit weggefallen, weil der Kläger aufgrund der Unfallfolgen zu einer Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr imstande war (§ 76 AVAVG). Die DAK hat ihm unter Anwendung des § 183 Abs. 4 RVO Krankengeld in Höhe des Arbeitslosengeldes (§ 110 AVAVG, nunmehr § 158 AFG) nur für die ersten 6 Wochen der Arbeitsunfähigkeit gewährt (vgl. BSG 19, 28; SozR Nr. 17 zu § 183 RVO). Insoweit begehrt der Kläger jedoch kein Verletztengeld.

Der Anspruch des Klägers auf diese Leistung ist daher für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit dem Grunde nach gegeben, soweit nicht der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung an ihn geleistet hat (§ 565 Abs. 1 RVO).

Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger seit dem 1. Mai 1967 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält, somit für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf zwei Leistungen mit Lohnersatzfunktion hat. Es gibt keinen allgemeinen Grundsatz, daß beim Zusammentreffen von Sozialleistungen, denen Lohnersatzfunktion zukommt, stets nur ein Anspruch auf eine dieser Leistungen besteht. Vielmehr hat der Gesetzgeber in solchen Fällen jeweils eine besondere, den Umständen angemessene Regelung getroffen (vgl. beispielsweise § 183 Abs. 3, 4 RVO und dazu BSG 19, 28, 29 ff; SozR Nr. 17 zu § 183 RVO). Für das Verletztengeld gilt insoweit, anders als beim Anspruch auf Krankengeld im ähnlichen Fall des § 183 Abs. 4 RVO, wonach die DAK beim Kläger verfahren ist (vgl. BSG 19, 28; SozR Nr. 17 zu § 193 RVO), keine einschränkende Regelung.

Auf die Revision des Klägers war deshalb unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten diese dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 8. Juni bis 15. Oktober 1967 Verletztengeld zu gewähren, soweit diese Leistung über das von der DAK gewährte Krankengeld hinausgeht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668854

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