Entscheidungsstichwort (Thema)

Statthaftigkeit der Berufung (hier: bei Rehabilitationsmaßnahme)

 

Orientierungssatz

1. Maßgebend für die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels ist der individuelle Berufungsantrag. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Möglichkeit der Abweichung einer Leistungsdauer von allgemeinen Erfahrungswerten nicht auszuschließen ist.

2. Ein Berufungsausschluß nach § 144 SGG ist als Ausnahmefall eng auszulegen und erfordert demgemäß konkrete Feststellungen im Einzelfall.

 

Normenkette

SGG § 144 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1236 Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 09.10.1980; Aktenzeichen L 10 J 458/80)

SG Osnabrück (Entscheidung vom 25.01.1980; Aktenzeichen S 1 J 252/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Gewährung von Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation in einer psychosomatischen Klinik als Langzeittherapie.

Der im Jahre 1955 geborene Kläger mußte sich wegen einer schizophrenen Psychose im Jahre 1977 mehrfach einer stationären Behandlung im niedersächsischen Landeskrankenhaus in Osnabrück unterziehen. Im September 1977 beantragte er bei der Beklagten die Einleitung medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab mit der Begründung, daß nach Art der vorliegenden Leiden eine wirksame Behandlungsmöglichkeit durch Rehabilitationsmaßnahmen nicht gegeben sei (Bescheid vom 23. Januar 1978). Widerspruch und Klage blieben erfolglos.

Die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Osnabrück (SG) vom 25. Januar 1980 wurde durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen vom 9. Oktober 1980 als unzulässig verworfen mit der Begründung, die Berufung sei nach § 144 Abs 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen, weil es sich bei der vom Kläger begehrten Rehabilitationsmaßnahme um eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum von weniger als 13 Wochen handele. Leistungen dieser Art würden in der Regel nur für die Dauer von vier Wochen gewährt.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision wendet sich der Kläger gegen die Verwerfung seiner Berufung durch das LSG. Er trägt vor, das zeitliche Ausmaß einer beanspruchten Heilmaßnahme sei individuell zu bestimmen und nicht begriffsnotwendig von kurzer Dauer.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten

vom 23. Januar 1978 aufzuheben und die Beklagte zu

verurteilen, einen Bescheid über eine medizinische Leistung

zur Rehabilitation in der Form einer länger als 13 Wochen % dauernden psychosomatischen Behandlung in einer

Kureinrichtung zu erlassen,

hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, ihn, den Kläger,

unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats

zu bescheiden, weiter hilfsweise, die Sache zur

erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen

Senat des LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war. Hierbei bestand für die Verweisung an einen anderen Senat des LSG kein Anlaß.

Das LSG hat zu Unrecht die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende sozialgerichtliche Urteil als unzulässig verworfen. Ein Berufungsausschuß nach § 144 Abs 1 Nr 2 SGG lag nicht vor. Vielmehr war die Berufung des Klägers nach § 143 SGG uneingeschränkt zulässig.

Bei der vom Kläger begehrten stationären Heilbehandlung handelt es sich um eine Krankenhauspflege und damit um eine wiederkehrende Leistung iSd § 144 Abs 1 Nr 2 SGG (vgl BSG Urteil vom 21. Dezember 1955 - 3 RK 21/55 - = BSGE 2, 135). In einem solchen Fall ist die Berufung nur dann ausgeschlossen, wenn es sich um eine Leistung für einen Zeitraum von bis zu 13 Wochen (3 Monaten) handelt. Steht im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG der Zeitraum der streitigen Krankenhauspflege noch nicht fest, so ist die Berufung grundsätzlich zulässig (BSG aaO S 139). Diesen Grundsatz, von dem das LSG abgewichen ist, hat das Bundessozialgericht (BSG) auch in seinem Urteil vom 29. Februar 1972 (4 RJ 237/71 = SozR Nr 29 zu § 144 SGG) aufrecht erhalten. Wenn das BSG in dieser Entscheidung dennoch zu einem Berufungsausschluß nach § 144 Abs 2 Nr 2 SGG kam, so ergab sich dies aus der besonderen Fallgestaltung, bei der die Prozeßbeteiligten übereinstimmend davon ausgegangen sind, daß die Grenze von 13 Wochen oder 3 Monaten nicht überschritten werde (aaO Bl Da 15).

Demgegenüber geht das LSG davon aus, daß - abweichend von der Rechtsprechung des BSG - die Berufung auch dann ausgeschlossen ist, wenn die begehrte Krankenhauspflege erfahrungsgemäß wie auch nach den Richtlinien der Rentenversicherungsträger eine zeitliche Dauer von 13 Wochen nicht erreichen wird. Solche allgemeinen Erfahrungswerte sind hingegen nicht geeignet, der Statthaftigkeit einer Berufung schlechthin entgegenzustehen. Maßgebend für die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels ist vielmehr der individuelle Berufungsantrag. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Möglichkeit der Abweichung einer Leistungsdauer von allgemeinen Erfahrungswerten nicht auszuschließen ist. Im vorliegenden Fall hat der Kläger nicht zu erkennen gegeben, daß er seinen Anspruch auf Krankenhauspflege auf einen Zeitraum von höchstens 13 Wochen beschränken will. Weiterhin ergibt sich aus den Feststellungen des LSG nicht, daß die vom Kläger begehrte Krankenhauspflege unter keinen Umständen den Zeitraum von 13 Wochen übersteigen kann. Bei dieser Sachlage ist kein zwingender Grund dafür vorhanden, von der Regel der uneingeschränkt zulässigen Berufung (§ 143 SGG) zugunsten eines möglicherweise nicht vorliegenden Ausnahmefalles abzuweichen. Ein Berufungsausschluß nach § 144 SGG ist als Ausnahmefall eng auszulegen und erfordert demgemäß konkrete Feststellungen im Einzelfall. Derartige Feststellungen hat das LSG nicht getroffen.

Nach alldem hätte das LSG die Berufung des Klägers für zulässig erachten und in der Sache selbst entscheiden müssen. Hierfür fehlt es an tatsächlichen Feststellungen, die der erkennende Senat nicht selbst treffen kann.

Der Rechtsstreit war deshalb zurückzuverweisen.

Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659857

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