Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufung bei wiederkehrenden Leistungen

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Anwendung des SGG § 144 Abs 1 ist es nicht erheblich, daß die streitige Leistung von einer im Ermessen des Versicherungsträgers liegenden Entscheidung abhängt.

Zur Frage, ob Heilbehandlung iS von RVO § 1237 Abs 1 und 2 als wiederkehrende Leistung (SGG § 144 Abs 1 Nr 2) anzusehen ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Für die Berufung ist nach SGG § 144 Abs 1 der Umfang oder Wert der Rechtsmittelbeschwer maßgebend. Dabei ist er nicht von Bedeutung, ob auf die beanspruchte Leistung ein Rechtsanspruch besteht oder es sich um eine Ermessensleistung handelt.

2. Die Heilbehandlung iS des RVO § 1237 Abs 1 und 2 ist ebenso wie die Krankenhauspflege nach RVO § 184 keine einmalige, sondern eine wiederkehrende Leistung (SGG § 144 Abs 1 Nr 2). Während es sich bei der "einmaligen" Leistung um ein Geschehen handelt, das sich in seiner Natur nach in eine bestimmten, verhältnismäßig kurzen Zeitspanne abspielt und sich im wesentlichen in einer einzigen Gewährung erschöpft, kennzeichnet die "wiederkehrende" Leistung, daß sie abschnittsweise nach Tagen oder Tagessätzen zugestanden und abgerechnet wird.

3. Bei Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (3Monaten) ist die Berufung nicht zulässig (SGG § 144 Abs 1 Nr 2). Ergibt sich im Einzelfall, daß die Heilbehandlung nach RVO § 1237 Abs 1 und 2 diesen Zeitraum nicht überschreitet, so ist die Berufung ausgeschlossen.

 

Normenkette

SGG § 144 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1237 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 184 Abs. 1 Fassung: 1970-12-21

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Mai 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) lehnte es ab, dem Kläger eine Kur zu bewilligen; sie sah die Erwerbsfähigkeit des Klägers weder gemindert noch gefährdet (§ 1236 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -); die von Ärzten vorgeschlagene Krankenpflege falle in den Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenversicherung (Bescheid vom 31. Januar 1968; Widerspruchsbescheid vom 28. März 1968). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Heilbehandlung zu gewähren (Urteil des SG Speyer vom 20. August 1969). Zwar sei - so hat es ausgeführt - die Entscheidung hierüber an sich dem Ermessen des Versicherungsträgers überlassen; bei richtiger Würdigung des Sachverhalts sei aber ein anderes Ergebnis nicht zu vertreten und die Verurteilung des Versicherungsträgers geboten. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen (Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 14. Mai 1971). Es hat in § 144 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Hindernis für eine Sachprüfung durch das Rechtsmittelgericht gesehen. Danach sei das Berufungsgericht nicht mit Ansprüchen auf einmalige Leistungen befaßt. Zu einem solchen Anspruch zähle das Begehren des Klägers auf Heilbehandlung; denn diese werde durch eine einzelne Entscheidung des Versicherungsträgers für einen von vornherein festgelegten verhältnismäßig kurzen Zeitraum zu dem einzigen Zweck der Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit angeordnet. Sie unterscheide sich von der Krankenhauspflege, die für eine ungewisse, insbesondere der Natur der Sache nach vorher nicht bestimmbare Dauer bewilligt werde und infolgedessen eine wiederkehrende Leistung darstelle (vgl. BSG 2, 135, 136). Für diese Auffassung spreche der Umstand, daß der Versicherte ein Interesse daran habe, definitiv und alsbald zu wissen - ohne das Ende eines langwierigen Prozesses abwarten zu müssen -, ob er mit einem Heilverfahren rechnen könne. Aus diesem Grunde habe es auch früher gegen die Entscheidung des Versicherungsträgers nur die Beschwerde an das Oberversicherungsamt gegeben (§ 1314 RVO aF).

Die Beklagte hat Revision eingelegt; sie beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben. Sie sieht Rehabilitation im Sinne des § 1237 Abs. 1 und 2 RVO als wiederkehrende Leistung an. Der Ansicht des Berufungsgerichts hält sie entgegen, daß Heilbehandlungen nicht zeitlich fixiert genehmigt, sondern, wenn erforderlich, verlängert und nicht selten - wegen derselben Indikation - wiederholt würden. Solche Maßnahmen seien auch keineswegs stets von kurzer Dauer; sie erstreckten sich mitunter auf 6 und mehr Monate oder gar, wie Berufsförderungen primär oder im Anschluß an medizinische Rehabilitationen, auf Jahre.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er meint, daß Heilverfahren nur selten für länger als 13 Wochen anberaumt würden und deshalb auch als wiederkehrende Leistungen nicht zur Erörterung des Berufungsgerichts anstünden.

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist nicht statthaft. Dies folgt zwar nicht, wie das Berufungsgericht angenommen hat, aus § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG, sondern ist aus Nr. 2 der angeführten Vorschrift herzuleiten. Denn das, worüber das zweitinstanzliche Gericht materiell zu befinden hätte, wäre das Verlangen des Klägers nach einer wiederkehrenden Leistung von weniger als 13 Wochen. Für einen solchen Streit ist dem Rechtsmittelgericht ohne besondere Zulassung (§ 150 Nr. 1 SGG) die Sacherörterung verwehrt.

§ 144 Abs. 1 SGG ist für den gegenwärtigen Fall nicht deshalb unbeachtlich, weil die von dem Kläger erstrebte Entscheidung im Ermessen des beklagten Versicherungsträgers liegt. Das Gegenteil ist weder dem im Gesetz verwendeten Wort "Anspruch" zu entnehmen noch aus der Rechtsnatur des Streitgegenstandes zu folgern. Der Ausdruck "Anspruch" ist an dieser Gesetzesstelle prozessual zu verstehen: als das auf Feststellung einer Rechtsfolge gerichtete Begehren (BSG 2, 135, 136; 18, 266). Dies kann auch eine vom Verwaltungsermessen abhängige Leistung sein. Wie man den Streitgegenstand im prozeßrechtlichen Sinne aufzufassen hat, kann dahinstehen. Man mag ihn in dem Leistungsanspruch als solchen sehen oder in dem Rechtsgrund für die Leistung oder in der Behauptung, der angefochtene Verwaltungsakt sei rechtswidrig, weil der Kläger infolge eines Ermessensfehlers in seinen Rechten verletzt sei (§ 54 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 SGG). Wenn auch der Streitgegenstand so oder ähnlich definiert werden sollte, so wird doch davon das Kriterium für die Ausschließung der Berufung nicht berührt. Hierfür ist der Umfang oder Wert der Rechtsmittelbeschwer maßgebend (dazu BSG SozR Nr. 6 zu § 146 SGG; Urteil vom 26. Juni 1969 - 4 RJ 495/68 -). Es wird auf den materiellen "Kern" des gerichtlichen Verfahrens, auf das mit der Klage sachlich verfolgte Ziel abgehoben (BSG 4, 206, 208; 18, 266, 267). Infolgedessen ist es für die Beschränkung des Rechtsmittels belanglos, ob der Kläger zur Durchsetzung des Klagezieles einen Rechtsanspruch hat oder ob dessen Verwirklichung dem Ermessen der Verwaltung anvertraut ist (ebenso: Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit II 4. Aufl., 1 zu § 144; Rohwer-Kahlmann/Schroeder-Printzen/Frenzel, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Kommentar 4. Aufl. Band I, Rz. 3 und 5 zu § 144; aA Zeihe, Das Sozialgerichtsgesetz, 4a und 4 b zu § 143).

Daß die Heilbehandlung, um die es im Streitfalle geht, eine Leistung im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG ist, unterliegt keinem Zweifel. Indessen ist die Auffassung, es handele sich um eine einmalige Leistung, abzulehnen. "Einmalig" ist nach der Erläuterung, die das Bundessozialgericht (BSG) diesem Begriff in § 144 Abs. 1 SGG gegeben hat (BSG 2, 135, 136), ein Geschehen, das sich seiner Natur nach in einer bestimmten verhältnismäßig kurzen Zeitspanne abspielt und sich im wesentlichen in einer einzigen Gewährung erschöpft. Von diesen Merkmalen sind Dauerschuldverhältnisse sowie ärztliche Behandlung und Krankenhauspflege nicht gekennzeichnet. Was in BSG 2, 137 in bezug auf letztere ausgeführt worden ist, gilt nicht minder für die Heilbehandlung im Sinne des § 1237 Abs. 1 und 2 RVO, nämlich daß es eine vielgestaltige Leistung ist, welche medizinische Versorgung sowie, wenn die Umstände es gebieten, Unterkunft und Verpflegung umfaßt und wechselnden therapeutischen Erfordernissen angepaßt werden muß. Der einem Träger der Rentenversicherung obliegenden Heilbehandlung haftet nicht der Wesenszug des Einmaligen an. Sie ist weder nach ihrer natürlichen Beschaffenheit zeitlich fixiert noch begriffsnotwendig von kurzer Dauer. Ihrem Charakter als einer "wiederkehrenden" Leistung steht nicht entgegen, daß sie weniger durch die Wiederholung gleichförmigen abgrenzbaren Tuns als vielmehr durch das Moment zeitlicher Dauer gekennzeichnet ist. Die Wiederkehr der Leistung ist nach BSG 2, 137 bereits darin zu erblicken, daß diese abschnittsweise nach Tagen oder Tagessätzen zugestanden und abgerechnet wird (vgl. auch BSG 19, 270, 271).

Dem Vergleich der Heilbehandlung (§ 1237 Abs. 1 und 2 RVO) mit der Krankenhauspflege (§ 184 Abs. 1 RVO) steht nicht entgegen, daß nur letztere anstelle insbesondere des Krankengeldes und damit statt einer Leistung gewährt wird, die fraglos wiederkehrender Art ist. Freilich hat das BSG in der in BSG 2, 135 veröffentlichten Entscheidung zusätzlich bemerkt, daß die Krankenhauspflege als Ersatzleistung für das Krankengeld mit diesem rechtlich gleichbehandelt, also als wiederkehrende Leistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG angesehen werden müsse. Indessen ist in jenem Urteil nicht gefordert worden, daß die Krankenhauspflege, um den Tatbestand des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG zu erfüllen, im konkreten Falle das Krankengeld ersetzen müsse. Die Überlegungen des BSG waren mithin von allgemein-abstrakter Natur und für das Auslegungsergebnis nicht ausschlaggebend. Im übrigen tritt auch die Rehabilitationsmaßnahme des Rentenversicherungsträgers - zwar nicht immer, aber möglicherweise (§ 1241 Abs. 1 Satz 2 RVO) - an die Stelle einer Rente, die ebenfalls als wiederkehrende Leistung einzuordnen ist. Der Zusammenhang, der zwischen der Geld- und der Sachleistung im Recht der Krankenversicherung gesehen worden ist, gilt auch für das Recht der Rentenversicherung.

Was schließlich das zeitliche Ausmaß der vom Kläger beanspruchten Heilmaßnahme anbetrifft, so ist nach den Fallgegebenheiten davon auszugehen, daß die Grenze von 13 Wochen oder drei Monaten nicht überschritten wird. Darauf hat der Kläger selbst hingewiesen. Die Beklagte hat dem nicht widersprochen. - Bei dieser Sachlage ist eine Stellungnahme zu der Frage entbehrlich, wie allgemein die Berufungsfähigkeit bei "Ansprüchen" auf Heilbehandlung zu beurteilen ist. In BSG 2, 139 ist in dieser Beziehung von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis gesprochen worden; die Berufung sei immer gegeben, solange über die Leistungsdauer noch keine Gewißheit bestehe. Das Rechtsmittel sei nur dann nicht eröffnet, wenn zu dem für seine Zulässigkeit maßgebenden Zeitpunkt feststehe, daß die Leistung bloß für eine Zeitspanne von 13 Wochen gefordert werde. Sei eine Heilbehandlung lediglich abgelehnt worden, so sei der Anspruch auf Heilbehandlung für mehr als 13 Wochen streitig (ebenso BSG 11. November 1966 - 10 RV 415/63 -, insoweit in BSG 25, 257 nicht abgedruckt). Gegen diese Richtschnur könnte das Bedenken bestehen, daß sie nicht generell wirklichkeitsgemäß ist. Sieht man von Maßnahmen der Tuberkulosebekämpfung und von Entziehungskuren bei Alkohol- und Suchtmittelmißbrauch ab, so gewähren jedenfalls die Rentenversicherungsträger in der Regel Behandlungen in Kur- und Badeorten sowie in Spezialanstalten für die Dauer von 4 bis 6 Wochen (so auch für die Heilbehandlung in der Kriegsopferversorgung Schoger/Ernesti, Ärztliche Voraussetzungen, Zweck und Erfolg von Badekuren, Die Kriegsopferversorgung 1958, 95, 96). Die Verlängerung bleibt im Einzelfall vorbehalten. Diese Verwaltungspraxis legt die Überlegung nahe, ob man sich für die rechtliche Beurteilung nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht an den Normalfall halten sollte. Doch darauf ist hier eine Antwort nicht gefordert.

Nach allem ist das Berufungsurteil im Ergebnis zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669032

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