Orientierungssatz

1. Für die Frage, ob die Berufung statthaft ist, wird auf die Verhältnisse abgestellt, die bei Einlegung des Rechtsmittels bestehen (BSG 1962-01-18 5 RKn 43/61 = BSGE 16, 134, 135).

Um einen abgelaufenen Zeitraum handelt es sich dann, wenn der letzte Tag, für den Rente verlangt wird oder zugesprochen ist, vor dem Tag der Einlegung der Berufung liegt (vergleiche BSG 1967-11-29 1 RA 301/65 = SozR Nr 21 zu § 146 SGG).

2. In der Vorschrift des SGG § 146 ist eine Regelung zu sehen, die es - ähnlich der entsprechenden Anordnung der ZPO (vgl ZPO § 511a) - auf den Umfang oder den Wert des Beschwerdegegenstandes abstellt (BSG 1959-08-29 4 RJ 31/59 = SozR Nr 6 zu § 146 SGG). Daß der Beschwerdewert in einem Falle in einem Nominalbetrag ausgedrückt und im anderen Falle mit einem beschränkten Zeitmaß der Rente umschrieben wird, macht keinen wesentlichen Unterschied Hier wie dort gilt der Grundsatz, daß das Beschwerdeobjekt nicht über den Streitgegenstand hinausgeht. Mit Rücksicht auf SGG § 146 folgt daraus, daß die Berufung allein diejenige Rente betrifft, die streitig ist, nicht aber eine außerhalb des gegenwärtigen Verfahrens geltend zu machende Rentenberechtigung.

 

Normenkette

SGG § 146 Fassung: 1958-06-25, § 202 Fassung: 1958-06-25; ZPO § 511a Abs. 1 Fassung: 1964-11-27

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. November 1968 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin setzt als Rechtsnachfolgerin das Verfahren über den von ihrem verstorbenen Ehemann erhobenen Rentenanspruch fort (§ 1288 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Der Ehemann der Klägerin (Versicherter) ist in der Zeit zwischen Verkündung des erstinstanzlichen Urteils und Berufungseinlegung, nämlich zwischen dem 18. Mai und dem 3. Oktober 1967, am 30. Juli 1967 gestorben.

Die Beklagte hatte die Bewilligung der Rente abgelehnt (Bescheid vom 23. März 1965); ihres Erachtens hatte der Versicherte die erforderliche Wartezeit nicht zurückgelegt. Das Sozialgericht (SG) Köln hat die Beklagte verurteilt, den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit festzustellen. Die Wartezeit hat es als erfüllt angesehen, weil es dem Versicherten Ersatzzeiten zusätzlich zuerkannte. Für die Anrechenbarkeit der fraglichen Ersatzzeiten genügte es dem SG, daß der Versicherte nach deren Ende innerhalb von drei Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hatte (vgl. § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchstabe b RVO). Daß während dieser Beschäftigung keine Beiträge entrichtet worden waren, hat das SG - im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 20, 184, 186) - nicht für rechtserheblich gehalten. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen (Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 6. November 1968): Da die Rente des Versicherten mit Ablauf des Sterbemonats weggefallen sei, habe bei Einlegung der Berufung nur noch Streit über Rente für einen abgelaufenen Zeitraum bestanden. Infolgedessen sei das Rechtsmittel gemäß § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Hieran ändere auch die Tatsache nichts, daß das SG den Tod des Versicherten und damit das Ende der Rente nicht habe berücksichtigen können und mithin keinen Anlaß gehabt habe, über die Zulassung der Berufung zu befinden. Die Zulassung des Rechtsmittels könne von dem Berufungsgericht nicht nachgeholt werden. Die Entscheidung des SG greife auch nicht - mittelbar - über ihren eigentlichen Urteilsgegenstand hinaus. Das sei nicht etwa aus der Vorschrift des § 1263 Abs. 2 RVO herzuleiten. Nach dieser Gesetzesbestimmung seien zwar Hinterbliebenenrenten zu gewähren, wenn dem Verstorbenen zur Zeit seines Todes Versichertenrente "zugestanden" habe. Das sei aber hier nicht der Fall, weil das erstinstanzliche Urteil, welches der Klage stattgegeben habe, nicht vor dem Tode des Versicherten rechtskräftig geworden sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen, die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie meint, die Vorschrift des § 146 SGG hätte nicht angewendet werden dürfen. Bei Einlegung der Berufung habe noch nicht festgestanden, ob die Rechtsnachfolgerin nicht noch den Rentenanspruch für das sogenannte Sterbevierteljahr geltend machen werde. In diesem Falle wäre der Rentenanspruch nicht bei Einlegung der Berufung abgelaufen gewesen. Ferner tritt die Beklagte dafür ein, daß die Sperrwirkung des § 146 SGG hinter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zurückzutreten habe; das SG sei von der Rechtsprechung des BSG bewußt abgewichen und ohne überzeugende Begründung lediglich einer in der Literatur vereinzelt vertretenen Meinung gefolgt.

Die Klägerin ist in diesem Rechtszuge nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Revision ist unbegründet. Das LSG hat die Berufung aus zutreffenden Gründen als unzulässig verworfen.

Nach § 146 SGG ist in Angelegenheiten der Rentenversicherung die Berufung u. a. ausgeschlossen, wenn sie Rente für eine abgelaufene Zeit betrifft. Für die Frage, ob die Berufung statthaft ist, wird auf die Verhältnisse abgestellt, die bei Einlegung des Rechtsmittels bestehen (BSG 16, 134, 135). Um einen abgelaufenen Zeitraum handelt es sich dann, wenn der letzte Tag, für den Rente verlangt wird oder zugesprochen ist, vor dem Tag der Einlegung der Berufung liegt (vgl. BSG SozR Nr. 21 zu § 146 SGG). So war es hier. Die Rente, die das SG dem Versicherten zugesprochen hatte, endete gemäß § 1294 RVO mit dem Ablauf des Sterbemonats; das war der Juli 1967. Die Berufung war dagegen erst im Oktober 1967 eingelegt worden.

Entgegen der Auffassung der Beklagten betraf die Berufung zur Zeit der Rechtsmitteleinlegung lediglich den Anspruch auf die Versichertenrente und nicht auch die Leistung für das Sterbevierteljahr. Leistungen für das Sterbevierteljahr sind in diesem Verfahren nicht verlangt worden. Die von der Revision aufgeworfene Frage, ob es mit der Berufung nicht um mehr als um Rente für eine abgelaufene Zeit gehe, weil das erstinstanzliche Urteil - mittelbar - auch für die Gewährung von Hinterbliebenenrenten maßgebend sein könnte, ist zu verneinen. Witwen- und Waisenrenten werden zwar nach § 1263 Abs. 2 RVO gewährt, wenn dem Verstorbenen zur Zeit seines Todes eine Versichertenrente "zustand". Von dieser Wirkung wird aber der Beschwerdegegenstand im Rechtsstreit um die Versichertenrente nicht berührt. In der Vorschrift des § 146 SGG ist eine Regelung zu sehen, die es - ähnlich der entsprechenden Anordnung der Zivilprozeßordnung - ZPO - (vgl. § 511 a ZPO) - auf den Umfang oder den Wert des Beschwerdegegenstandes abstellt (BSG SozR. Nr. 6 zu § 146 SGG). Daß der Beschwerdewert in einem Falle in einem Nominalbetrag ausgedrückt und im anderen Falle mit einem beschränkten Zeitmaß der Rente umschrieben wird, macht keinen wesentlichen Unterschied. Hier wie dort gilt der Grundsatz, daß das Beschwerdeobjekt nicht über den Streitgegenstand hinausgeht (Rosenberg, Zivilprozeßrecht, 8. Aufl. § 134 II b S. 662). Mit Rücksicht auf § 146 SGG folgt daraus, daß die Berufung allein diejenige Rente betrifft, die streitig ist, nicht aber eine außerhalb des gegenwärtigen Verfahrens geltend zu machende Rentenberechtigung. Prozeßobjekt ist demnach im gegenwärtigen Fall die Rente, die, wenn sie überhaupt zu gewähren gewesen wäre, vor Einlegung der Berufung geendet hat.

Abgesehen hiervon, wäre die Beklagte im vorliegenden Fall auch nicht aufgrund des § 1263 Abs. 2 RVO verpflichtet, Hinterbliebenenrenten zu gewähren. Dem verstorbenen Versicherten hatte zur Zeit seines Todes die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht in dem Sinne "zugestanden", von dem bei Anwendung des § 1263 Abs. 2 RVO auszugehen ist. Das wäre nur der Fall, wenn der Versicherte einen gesicherten Besitzstand des Rentenbezugsrechts gehabt hätte. Dieser Besitzstand hätte einen die Beklagte bindenden Verwaltungsakt oder ihre rechtskräftige Verurteilung zur Leistung vorausgesetzt. Beides traf nicht zu. Daß nicht schon ein Urteil, das noch mit Rechtsmitteln angefochten werden kann, einen Rechtszustand begründet, der die Existenz der Hinterbliebenenrechte garantiert, ist der erklärte Wille des Gesetzgebers. Nur solche Leistungsbewilligungen, die "aufgrund eingetretener Bindungswirkung nicht mehr widerrufen werden" können, sollen die Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente bilden (Schriftlicher Bericht des Sozialpolitischen Bundestagsausschusses, zu Bundestagsdrucks. IV 3233 S. 5/6). Der Umstand, daß das Urteil durch den Tod des Versicherten unanfechtbar wurde, ändert hieran nichts.

Der Beklagten ist der Zugang zu dem Berufungsverfahren ferner nicht deshalb gestattet, weil ein Grund für die Zulassung des Rechtsmittels gegeben gewesen wäre (§ 150 Nr. 1 SGG). Das SG hätte wohl, wenn es die Berufung nicht ohnehin für statthaft gehalten hätte, die Zulassungsfrage deshalb prüfen müssen, weil es in der Auslegung einer materiell-rechtlichen Vorschrift (hier des § 1251 Abs. 2 Satz 2 RVO) von der Rechtsprechung des BSG abgewichen ist. Das erstinstanzliche Urteil enthält aber deshalb zutreffend keinen Ausspruch über die Eröffnung des Rechtsmittels, weil der Versicherte zur Zeit des Urteilserlasses noch lebte, also die Rente damals für unbegrenzte Zeit streitbefangen und der Ausschließungstatbestand des § 146 SGG noch nicht gegeben war. Die infolgedessen unterbliebene Berufungszulassung kann von dem Rechtsmittelgericht nicht nachgeholt werden (BSG SozR Nrn 38, 39, 40 zu § 150 SGG). Die Entscheidung darüber, ob das Rechtsmittel stattzufinden hat, ist vielmehr allein dem erstinstanzlichen Gericht anvertraut (§ 150 Nr. 1: "wenn das Sozialgericht sie ... zugelassen hat").

Das LSG hat demnach richtig entschieden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284816

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