Entscheidungsstichwort (Thema)

Gerichtliche Nachprüfung eines negativen Zugunstenbescheids bei rechtskräftigem Urteil

 

Orientierungssatz

Es steht der gerichtlichen Nachprüfung eines - negativen - Zugunstenbescheides nicht entgegen, daß der frühere Bescheid über die Ablehnung von Schädigungsfolgen durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist. Der Grundsatz der Rechtssicherheit, der ua in § 141 Abs 1 SGG normiert ist und worauf das LSG seine Entscheidung stützt, ist zu Gunsten der materiellen Gerechtigkeit durchbrochen, sofern die Verwaltung von der Unrichtigkeit einer getroffenen Entscheidung auszugehen hat (vgl BSG vom 28.1.1985 10 RV 173/74 = SozR 1500 § 141 Nr 2)

 

Normenkette

SGB 10 § 44 Fassung: 1980-08-18; KOVVfG § 40; SGG § 141 Abs 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.11.1982; Aktenzeichen L 6 V 189/82)

SG Detmold (Entscheidung vom 18.08.1982; Aktenzeichen S 6 (2) V 298/80)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Armhebernervenlähmung rechts als Schädigungsfolge iS des § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Zugunstenwege anzuerkennen.

Er leistete von 1940 bis 1945 Kriegsdienst. Seinen im Jahre 1947 eingereichten Versorgungsantrag lehnte die Landesversicherungsanstalt Westfalen (LVA) mit Bescheid vom 17. Mai 1949 ab. Das Landesversorgungsamt Westfalen wies den Widerspruch mit Bescheid vom 19. Februar 1954 zurück, nachdem zuvor ein medizinischer Gutachter davon ausgegangen war, daß das psychogene Leiden nicht durch schädigungsbedingte Einwirkungen verursacht worden sei. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg.

Im Jahre 1980 beantragte der Kläger erneut Versorgung. Dies lehnte die Versorgungsverwaltung wiederum unter Bezugnahme auf die rechtsverbindlichen Entscheidungen ab (Bescheid vom 8. August 1980).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit der Begründung zurückgewiesen, sie sei als unzulässig zu erachten; über den Streitgegenstand sei bereits früher ein rechtskräftiges Urteil ergangen. Die dadurch eingetretene Bindung der Beteiligten (§ 141 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) hindere eine erneute Sachentscheidung.

Der Kläger macht mit der - vom Senat zugelassenen - Revision ua Divergenz zu Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) geltend. Nach der Rechtsprechung stehe der gerichtlichen Nachprüfung eines ablehnenden Zugunstenbescheides nicht entgegen, daß der Erstbescheid durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden sei.

Der Kläger beantragt, die Urteile des Sozialgerichts vom 18. August 1982 und des Landessozialgerichts vom 30. November 1982 sowie den Verwaltungsbescheid vom 8. August 1980 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen "Lähmung des rechten Armhebernervs" als Schädigungsfolge anzuerkennen und Beschädigtenrente nach einer MdE um 50 vH zu gewähren; hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung, Sachaufklärung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat insoweit Erfolg, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist.

Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts war es nicht befugt, ein Prozeßurteil zu erlassen. Vielmehr hätte es sachlich entscheiden müssen.

Der Kläger macht zu Recht eine Abweichung des Berufungsurteils von Urteilen der Kriegsopfersenate geltend (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Nach den zitierten Entscheidungen (BSG SozR 1500 § 141 Nrn 2 und 3, letztere abgedruckt in SozR 3900 § 40 Nr 2) steht der gerichtlichen Nachprüfung eines - negativen - Zugunstenbescheides nicht entgegen, daß der frühere Bescheid über die Ablehnung von Schädigungsfolgen durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist. Der Grundsatz der Rechtssicherheit, der ua in § 141 Abs 1 SGG normiert ist und worauf das LSG seine Entscheidung stützt, ist zu Gunsten der materiellen Gerechtigkeit durchbrochen, sofern die Verwaltung von der Unrichtigkeit einer getroffenen Entscheidung auszugehen hat. Ob insoweit das Verwaltungshandeln rechtmäßig ist, ist in einem gerichtlichen Verfahren sachlich zu überprüfen. Die zu § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG) ergangene Rechtsprechung ist zwar nicht mehr unmittelbar anwendbar, gilt aber entsprechend. Die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes beurteilt sich nunmehr nach § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X). Denn § 40 KOV-VfG ist durch Art II § 16 Nr 1 SGB X mit Wirkung ab 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs 1 SGB X) gestrichen und durch Art 1 § 44 SGB X (= § 44 SGB X) ersetzt worden. Diese mit dem SGB X eingetretene Rechtsänderung erfaßt rückwirkend den Streitgegenstand (Beschluß des Großen Senats des BSG vom 15. Dezember 1982 : BSGE 54, 223f = SozR 1300 § 44 Nr 3).

Auch bei der hier gebotenen Anwendung des § 44 SGB X schließt dies eine neue Sachprüfung nicht aus, wie das auch nach § 40 KOV-VfG der Fall gewesen wäre (BSG SozR 3900 § 40 Nr 15). Zur Begründung hat der 9. Senat in der zitierten Entscheidung hierzu ua ausgeführt, die Verwaltung dürfe einen Antrag nicht schlechthin, dh ohne Bedacht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage, zurückweisen. Es sei gerade die Besonderheit des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens iVm dem sozialgerichtlichen Rechtsschutz, zu einem gebotenen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit zu kommen. Bei einer auf einen Zugunstenbescheid gerichteten Klage sei das rechtskräftige Gerichtsurteil nicht unmittelbar einer Kontrolle unterzogen. Vielmehr werde die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns dahin überprüft, ob das Sachbegehren ungeachtet rechtsverbindlicher Regelungen abzulehnen oder etwa zu bestätigen sei. Nach dieser Rechtsprechung steht § 141 SGG einer gerichtlichen Überprüfung nicht entgegen.

Bei der nunmehr vorzunehmenden Sachprüfung wird das Berufungsgericht zu beachten haben, daß auch psychogene Reaktionen als Schädigungsfolge Anerkennung finden können. Auf die bisherige Rechtsprechung (ua SozR Nr 67 zu § 1 BVG; BSGE 19, 275, 278 = SozR Nr 174 zu § 162 SGG; Urteil des 9. Senats vom 29. Oktober 1980 - 9 RV 23/80 -) wird hingewiesen.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656305

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