Entscheidungsstichwort (Thema)

Antrag auf Versorgung. Rückwirkung eines Zugunstenbescheides. Ergänzungsbescheid

 

Orientierungssatz

1. Der Antrag auf Versorgung ist auf alle Leistungen gerichtet, die dem Beschädigten nach der Sach- und Rechtslage zustehen; dementsprechend hat die Versorgungsverwaltung den rechtserheblichen Sachverhalt in vollem Umfang aufzuklären (vgl ua BSG vom 1982-12-08 9a RV 22/82 = SozR 3100 § 31 Nr 22).

Die Versorgungsverwaltung hat daher einen Antrag seit der Gewährung "zusätzlicher" Versorgung mit dem Antragsmonat nicht erschöpfend beantwortet und somit nicht erledigt, wenn sich ihr nach der Sachlage als selbstverständlich aufdrängen mußte, daß der Beschädigte auch eine entsprechende Versorgung vor dem Antragsmonat begehrt.

2. Zur rückwirkenden Gewährung einer Leistung im Wege des Zugunstenbescheides oder als Ergänzungsbescheid (vgl BSG vom 1974-04-05 9 RV 352/73).

 

Normenkette

SGB 1 § 16 Fassung: 1975-12-11; SGB 10 § 44 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 § 44 Abs 4 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 16.02.1982; Aktenzeichen L 4 V 889/81)

SG Gießen (Entscheidung vom 20.05.1981; Aktenzeichen S 7 V 86/80)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt zusätzlich Versorgung wegen eines Nierenleidens für die Zeit vor Dezember 1971. Anfangs bezog er wegen anderer Gesundheitsstörungen, die nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anerkannt worden sind, Beschädigtenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH (Bescheid vom 9. Juli 1951). Auf einen Antrag von November 1956 wurde ihm Rente entsprechend einer MdE um 50 vH unter Anerkennung eines Leberleidens zugesprochen (Bescheid vom 5. Februar 1959). Der Verlust der linken Niere, der bereits 1957 eingetreten war, blieb unberücksichtigt. Auf einen weiteren Antrag vom Februar 1964 setzte der Beklagte wegen einer Verschlimmerung des Leberleidens die schädigungsbedingte MdE auf 60 vH fest (Bescheid vom 16. Juni 1964, Widerspruchsbescheid vom 28. September 1964). Während des anschließenden Rechtsstreits anerkannte die Verwaltung einen Rentenanspruch entsprechend einer MdE um 80 vH ab 1. Februar 1964 (Ausführungsbescheid vom 7. Juni 1966). Das Nierenleiden blieb in den Entscheidungen wiederum unerwähnt. Ein Antrag vom 2. Dezember 1971, Versorgung wegen des Nierenschadens zu gewähren, wurde abgelehnt (Bescheid vom 31. Oktober 1972, Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 1975, Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 4. Dezember 1975). Während des anschließenden Berufungsverfahrens (L - 4/V - 16/76) gewährte der Beklagte dem Kläger durch einen auf § 62 BVG gestützten Bescheid vom 4. April 1979 Versorgung entsprechend einer MdE um 100 vH mit Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe IV wegen verschiedener Schädigungsfolgen, ua wegen des Verlustes der linken Niere und wegen Nierensteinbildung in der rechten Restniere, ab 1. Dezember 1971. Diese Entscheidung beruht auf dem Gutachten von Prof. Dr. W., wonach beim Kläger seit 1950 eine Sarcoidose als Grundleiden besteht. Mit Schreiben vom 5. Juli 1979 erklärte der Kläger, er nehme die Berufung zurück. Gegenüber dem Versorgungsamt beantragte er mit Schreiben vom 9. Juli 1979, durch Zugunstenbescheid die höhere Rente um weitere vier Jahre zurück zuzuerkennen, weil die nunmehr anerkannten Gesundheitsstörungen schon vor Dezember 1971 bestanden hätten. Der Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 31. Juli 1979, Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 1980). Das SG hob diese Verwaltungsakte auf und verurteilte den Beklagten, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen (Urteil vom 20. Mai 1981). Es hielt den Beklagten für verpflichtet, nach § 44 Sozialgesetzbuch - Verfahrensrecht - (SGB X) einen Zugunstenbescheid für die Vergangenheit zu erteilen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG zugelassene - Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 16. Februar 1982): In diesem Fall sei nicht nach neuem Recht, sondern nach § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG) eine neue Ermessensentscheidung über die Rückwirkung geboten. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger im Dezember 1971 einen Zugunstenbescheid nach dieser Vorschrift oder eine Neufeststellung nach § 62 BVG beantragt habe. Jedenfalls seien die ab 1959 erteilten Bescheide, ungeachtet des Inhaltes der jeweiligen Anträge, die nicht ausdrücklich sich auf das Nierenleiden bezogen hätten, deshalb unrichtig gewesen, weil damals schon der Nierenschaden als Schädigungsfolge bestanden habe. Auf den 1971 gestellten Antrag hätte der Beklagte prüfen müssen, ob dem Zugunstenbescheid Rückwirkung beizulegen ist. Durch den Antrag vom Juli 1979 habe der Kläger lediglich an dieses Tätigwerden erinnert.

Der Beklagte rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 44 SGB X, des § 40 KOV-VfG und des § 60 BVG. Das LSG hätte die letztgenannte Vorschrift insoweit beachten müssen, als 1979 zum ersten Mal über den auf das Nierenleiden bezogenen Antrag entschieden worden sei. Das Begehren vom Dezember 1971 sei durch die Erledigung des Verfahrens über eine Neufeststellung "verbraucht" gewesen. Schließlich könne die Verwaltung nicht mehr verpflichtet werden, nach § 40 KOV-VfG zu entscheiden, weil diese Vorschrift mit dem 1. Januar 1981 außer Kraft getreten sei. Nach neuem Recht komme ein Rechtsanspruch auf Rückwirkung in Betracht. Dieser bestehe allerdings nicht.

Der Beklagte beantragt, unter Aufhebung der Urteile des SG und des LSG die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat Erfolg, allerdings aus anderen Gründen als dem Revisionsvorbringen. Das angefochtene Berufungsurteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Nachdem der Beklagte durch den Bescheid vom 4. April 1979 das Nierenleiden des Klägers als Schädigungsfolge im Sinne des BVG anerkannt und ihm ab 1. Dezember 1971 erweiterte Versorgung entsprechend einer MdE um 100 vH statt um 80 vH gewährt hat (§§ 1 und 30 BVG), ist allein streitig, ob diese zusätzliche Leistung dem Kläger bereits für vier Jahre vor 1971 zusteht. Darüber kann das Revisionsgericht nicht entscheiden, weil das LSG die erforderlichen Tatsachen nicht festgestellt hat. Die entsprechende Sachaufklärung hat es nachzuholen, um die Spruchreife herbeizuführen.

Dabei hat das Berufungsgericht von folgender Rechtslage auszugehen (§ 170 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Über den Antrag, den der Kläger im Dezember 1971 wegen seines Nierenschadens an das Versorgungsamt richtete, wurde durch den Bescheid vom 4. April 1979 nicht erschöpfend entschieden. Dieses Begehren war auf alle Leistungen gerichtet, die dem Kläger nach der Sach- und Rechtslage zustanden; dementsprechend hatte die Verwaltung den rechtserheblichen Sachverhalt in vollem Umfang von Amts wegen aufzuklären (§ 7 Abs 2 KOV-VfG aF, § 16 Abs 3 SGB I, § 20 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren -SGB X- vom 18. August 1980 - BGBl I 1469, 2218 -; Verwaltungsvorschrift Nr 1 Satz 2 zu §1 BVG; BSG SozR 3100 § 35 Nr 1; 3100 § 89 Nr 2; 3900 § 40 Nr 12; BSG 8. Dezember 1982 - 9a RV 22/82 -; für die Sozialversicherung: BSGE 36, 120, 121 = SozR Nr 61 zu § 182 RVO; für das Arbeitsförderungsgesetz: BSGE 49, 114, 115 f = SozR 4100 § 100 Nr 5). Der Beklagte hat aber den Antrag von Dezember 1971 mit der Gewährung zusätzlicher Versorgung seit dem Antragsmonat nach der Sachlage nicht erschöpfend beantwortet und somit nicht erledigt. Prof. Dr. W., dessen Gutachten zu dem Bescheid vom 4. April 1979 geführt hat, nimmt eine Sarcoidose, zu der auch die seit 1957 bekannten Gesundheitsstörungen im Nierenbereich gehören, als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG bereits seit den fünfziger Jahren an. Dann mußte es sich seit der Bekanntgabe dieses Gutachtens als selbstverständlich aufdrängen, daß der Kläger auch eine entsprechende Versorgung für die Zeit vor Dezember 1971 begehrte. Dies stellte er schon mit Schreiben vom 9. Juli 1979, also wenige Tage nach der Rücknahme der Berufung im Verfahren L - 4/V - 16/76 gegenüber dem Versorgungsamt klar. Dementsprechend hätte die Verwaltung aufklären müssen, ob auch die schädigungsbedingten Nierenstörungen in jener Zeit bereits bestanden und inwieweit sie die MdE beeinflußten.

Da die Verwaltung über den erweiterten Versorgungsanspruch lediglich ab Dezember 1971 entschied, also den in diesem Monat gestellten Antrag nicht vollauf erledigte, wäre in dem jetzt anhängigen Verfahren zu prüfen gewesen, ob die Voraussetzungen der weiteren Leistungen schon vorher bestanden. Das hat der Beklagte unterlassen.

Für die gebotene Entscheidung besteht eine günstigere Rechtslage als nach § 40 KOV-VfG aF. Der Kläger kann nun auf verschiedenen rechtlichen Wegen eine Sachentscheidung erlangen.

Bezüglich des Nierenleidens könnten rechtsverbindliche negative Entscheidungen für die Zeit bis 1971 angenommen werden. Dann wäre das am 1. Januar 1981 in Kraft getretene SGB X anzuwenden, obgleich der Bescheid vom 31. Juli 1979 und der Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 1980 vor diesem Zeitpunkt ergangen sind; dieses Verfahren wäre aber noch im Sinne der Übergangsvorschriften anhängig (Art II § 37 Abs 1, § 40 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 SGB X; BSG Großer Senat 15. Dezember 1982 - GS 2/80). Die Rechtsfolgen bestimmten sich dann nach § 44 SGB X. Davon ist das Sozialgericht zutreffend ausgegangen, hat allerdings die Vorschrift nicht konsequent beachtet. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der bis 1971 rechtsverbindlich gewordenen Bescheide, insbesondere des Bescheides vom 16. Juni 1964, des Widerspruchsbescheides vom 28. September 1964, des Ausführungsbescheides vom 7. Juni 1966 mit dem zugrundeliegenden Anerkenntnis, wodurch der zuerkannte Versorgungsanspruch auf andere Leiden als den Nierenschaden beschränkt blieb, könnten nach § 44 Abs 1 SGB X gegeben sein. In den bezeichneten Verwaltungsakten anerkannte der Beklagte nicht die Gesundheitsstörungen im Nierenbereich des Klägers als Schädigungsfolgen und berücksichtigte diese nicht bei der Bemessung der MdE. Beim Erlaß dieser Bescheide ging die Verwaltung vielmehr von dem Sachverhalt aus, daß die ausdrücklich aufgeführten Gesundheitsstörungen die einzigen Folgen schädigender Einwirkungen im Sinne des § 1 BVG seien. Das war möglicherweise unrichtig. Infolgedessen hätte der Beklagte die Vorschriften der §§ 1 und 30 BVG unrichtig angewandt.

Die Berichtigung hätte nach § 44 Abs 4 SGB X zur Folge, daß dem Kläger die vorenthaltene Leistung, die durch das Nierenleiden bestimmt würde, bis zu vier Jahren vor dem Jahr des Antrages auf eine Zugunstenentscheidung (1971) zu erbringen wären.

Falls aber davon auszugehen wäre, daß der Beklagte durch die vor 1971 erlassenen Bescheide noch keine Versorgung wegen Gesundheitsstörungen im Nierenbereich ausgeschlossen hätte, käme ein Ergänzungsbescheid mit einer erstmaligen Entscheidung für die vorausgegangenen vier Jahre in Betracht (Urteil des erkennenden Senats vom 5. April 1974 - 9 RV 352/73). Dann wäre im Ergebnis die Rechtslage für den Kläger entsprechend seinem Begehren nicht anders. Ihm wäre ebenfalls aufgrund eines Rechtsanspruches die erweiterte Versorgung antragsgemäß für weitere vier Jahre zuzuerkennen, sofern das LSG die erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen feststellt.

Den dafür erforderlichen Antrag (§ 1 Abs 1, § 60 Abs 1 Satz 1 und 2 BVG aF, § 60 Abs 1 und 2 BVG idF seit dem Ersten Neuordnungsgesetz) hatte der Kläger wiederholt gestellt, seit er nierenkrank ist. Sein Begehren richtete sich in den verschiedenen Verwaltungsverfahren jeweils auf alle Leistungen, die ihm nach der Sachlage zustanden; es war nicht auf Versorgung wegen der ausdrücklich genannten Gesundheitsstörungen beschränkt. Das ist bereits dargelegt worden. Immerhin wies der Kläger in der Vorgeschichte für das Gutachten vom 2. Mai 1964 sowie zur Begründung seines Widerspruches gegen den Bescheid vom 16. Juni 1964 ausdrücklich auf Dr. M. hin, der - ebenso wie schon 1956 Gießener Klinikärzte - den Verdacht auf einen Morbus Boeck geäußert hatte. Damit gab er dem Beklagten einen fachlichen Hinweis für die erstrebte Aufklärung.

Soweit die Verwaltung über einen Versorgungsanspruch wegen des Nierenleidens noch nicht entschieden hat, sind die früheren Anträge auch nicht erledigt oder "verbraucht" (vgl dazu zB BSG SozR 3900 § 40 Nr 12; BSGE 50, 227, 230 = SozR 5070 § 10 Nr 14). Gleiches gilt, sofern die früheren Entscheidungen zurückzunehmen sind.

Ein erweiterter Versorgungsanspruch für die Zeit vor Dezember 1971 ist nicht allein durch eine Verwirkung schlechthin ausgeschlossen. Die Verwaltung konnte vor dieser Zeit angesichts der Sachlage nicht darauf vertrauen, der Kläger werde den erst verspätet entdeckten Anspruch nicht geltend machen (vgl dazu zB BSG SozR 3900 § 47 Nr 3; BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11; BSGE 50, 227, 230; BSGE 51, 260, 262 = SozR 2200 § 730 Nr 2). Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655574

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge