Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Beitragsbescheide vom 30. April 1975, mit denen für die Zweigniederlassungen H…, B…, M…und K… der Klägerin die Beiträge für das Jahr 1974 festgesetzt wurden.

Bis einschließlich 1973 berücksichtigte die Beklagte wechselseitig Beschäftigte, wenn sie im Büroteil und im Gewerbeteil Tätigkeiten verrichteten, entsprechend dem Anteil ihrer Tätigkeit sowohl in der für den Büroteil geltenden Gefahrklasse (0,7) als auch in der Gefahrklasse für den gewerblichen Teil ihrer Mitglieder (hier: 3,5); bei einer Tätigkeit mehr als zur Hälfte im gewerblichen Teil wurden die Beschäftigten dort voll erfaßt.

In seiner Sitzung am 7. November 1972 erklärte sich der Vorstand der Beklagten mit den ihm "vorgeschlagenen Richtlinien" einverstanden, wonach "auch zur Ausräumung der Nachweis- und Erfassungsschwierigkeiten und der damit verbundenen Beitragsungerechtigkeiten" im Büroteil künftig nur noch die Entgelte der Angestellten nachgewiesen werden sollten, die ausschließlich im Büro oder nur ganz gelegentlich im gewerblichen Betriebsteil tätig sind. Diese Verfahrensweise, daß wechselseitig im Büro und im gewerblichen Betriebsteil Beschäftigte immer dem gewerblichen Betriebsteil zuzurechnen seien, billigte die Vertreterversammlung der Beklagten am 15. Dezember 1972. In seiner weiteren Sitzung am 12. April 1973 beschloß der Vorstand, die neue Regelung am 1. Januar 1974 in Kraft zu setzen. Im Mitteilungsblatt ''Unfall-stop'' der Beklagten vom Januar 1974 machte die Beklagte bekannt, daß ab der Beitragsumlage für 1974 die beschriebene Änderung eintrete, und bat, die Neuregelung bei der Führung der Nachweisunterlagen ab Januar 1974 zu berücksichtigen. In ihrem Mitteilungsblatt vom November 1974 wies die Beklagte erneut auf die eingetretene Änderung hin.

Nachdem die obengenannten Zweigniederlassungen der Klägerin in den dafür übersandten Lohnnachweis-Formularen die erforderlichen Angaben gemacht hatten, erteilte die Beklagte die in diesem Verfahren angefochtenen Bescheide vom 30. April 1975. In ihnen sind, wie schon in den Lohnnachweisen, wechselseitig Beschäftigte nur im Gewerbeteil berücksichtigt.

Gegenüber diesen Bescheiden brachte die Klägerin in den Widerspruchsverfahren im wesentlichen folgendes vor: Die seit 1974 in Kraft gesetzte Änderung komme einer in nichtgesetzlicher Form vorgenommenen Änderung des Gefahrtarifs gleich. Die Eingruppierung der in Betracht kommenden Reisenden und Vertreter sei auch unangemessen; durch sie werde gegen das in § 730 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zum Ausdruck gekommene Proportionalitätsprinzip, möglicherweise auch gegen das Kostendeckungsprinzip, verstoßen.

Den Widerspruch der Zweigstellen wies die Beklagte in dem an die Hauptniederlassung der Klägerin gerichteten Widerspruchsbescheid vom 28. August 1975 zurück.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 12. Januar 1978 die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe durch die veränderte Lohnnachweisregelung den geltenden Gefahrtarif nicht geändert. Die veränderte Regelung sei nicht angefochten worden.

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte "verpflichtet, der Klägerin über die Beitragsberechnung für das Jahr 1974 hinsichtlich der wechselseitig im kaufmännischen und gewerblichen Bereich Beschäftigten einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen" (Urteil vom 27. Juni 1979). Das LSG hat zur Begründung u.a. ausgeführt: Die Regelung des Lohnnachweises sei kein Verwaltungsakt - auch nicht in der Gestalt einer Allgemeinverfügung -, sondern diene der Vorbereitung des Beitragsbescheides, also der Vorbereitung eines Verwaltungsaktes. Die Nachweisregelung sei daher nicht verbindlich geworden. Die Beklagte habe mit der Einführung der neuen Regelung den Gefahrtarif zwar unverändert gelassen. jedoch unrichtig zum Nachteil der Klägerin angewendet, weil der unbestimmte Rechtsbegriff "Büroteil" im Gefahrtarif der Beklagten nicht richtig ausgelegt worden sei. Die Beklagte weiche von dem im Gefahrtarif gemäß § 730 RVO normierten Schema der Abstufung der Unfallgefahr ab, wenn sie die Tätigkeit der wechselseitig Beschäftigten ausschließlich dem Gewerbeteil des Unternehmens zuordne. Die von der Beklagten angestellten Zweckmäßigkeitserwägungen dürften mit Rücksicht auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art 20 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG -) nicht zu einer Rechtsverletzung führen. Bei der Zuordnung der wechselseitig Beschäftigten zu den Gefahrklassen seien mehrere richtige Lösungen erlaubt. Die Beklagte habe insoweit einen Beurteilungsspielraum, welcher überschritten werde, wenn eine Bürotätigkeit unberücksichtigt bleibe, die das Gepräge der Gesamttätigkeit unübersehbar mitbilde. Das sei jedenfalls der Fall, wenn mindestens die Hälfte der Gesamttätigkeit im Büroteil verrichtet werde. Durch die unveränderte Auslegung des Gefahrtarifs werde im übrigen kein schützenswertes Vertrauen der Klägerin verletzt.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend: Bei der Änderung der Entgeltnachweisung durch Vorstand und Vertreterversammlung der Beklagten handele es sich um einen Verwaltungsakt in der Form einer Allgemeinverfügung. Diese sei ordnungsgemäß bekamt gemacht worden. Gegen die Nachweisregelung seien erst 1 1/4 Jahr nach ihrer Bekanntmachung Einwendungen von der Klägerin erhoben worden. Daher sei die Nachweisregelung verbindlich geworden. Die Änderung der Entgeltnachweisung sei keine Anwendung des Gefahrtarifs. Die Abgrenzung der Bürotätigkeiten von der gewerblichen Arbeit erfolge nicht im Gefahrtarif, sondern in der Regelung über die Entgeltnachweisung. Bei ihrer Neuregelung habe die Beklagte die immer noch gültigen Grundsätze und Richtlinien des Reichsversicherungsamts vom 23. März 1939 (I G 1430/39-25-) bezüglich der wechselseitig Beschäftigten berücksichtigt. Eine Beitragsungerechtigkeit liege schon deshalb nicht vor, weil die Tätigkeit dieser Beschäftigten nicht gefahrmindernd sei. Durch die neue Regelung werde eine höhere Beitragsgerechtigkeit erreicht, weil das Manipulieren der Tätigkeitsanteile verhindert werde. Wenn es zulässig sei, bei der Normierung eines Gefahrtarifs den Büroteil der Unternehmen überhaupt nicht abzutrennen, dann sei es ihr erst recht gestattet, wechselseitig Beschäftigte ausschließlich im gewerblichen Unternehmensteil zu berücksichtigen. Die Klägerin versuche aus der geänderten Nachweisregelung einen doppelten Vorteil zu ziehen, nämlich bei niedrigerem Beitragsfuß und damit niedrigeren Beiträgen den unveränderten Nachweis wechselseitig Beschäftigter beizubehalten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 27. Juni 1979 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 12. Januar 1978 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen,

Nach ihrer Überzeugung ist die von der Beklagten getroffene Lohnnachweisregelung nicht als Verwaltungsakt anzusehen. Die Beklagte habe aber die Befugnis zur Einflußnahme auf die äußere Gestalt der Entgeltnachweise zu Unrecht als Ermächtigungsgrundlage für eine substantielle beitragsrechtliche Änderung genutzt. Diese komme einer Neuveranlagung gleich, welche nur unter den hier nicht gegebenen Voraussetzungen des § 734 Abs. 2 RM zulässig sei. Die bisherige gefahrtarifliche Zuordnung der wechselseitig Beschäftigten in ständiger Verwaltungsübung durch die Beklagte habe rechtskonstitutive Bedeutung erlangt. Sie habe auch dem in § 730 RVO enthaltenen Gebot der Abstufung der Unfallgefahr entsprochen und sei beitragsgerecht gewesen. Der geltende Gefahrtarif der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft enthalte noch heute eine geteilte Zuordnung wechselseitig Beschäftigter.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist auch insoweit zulässig, als es hier um die Auslegung von Satzungsrecht geht; denn der Gefahrtarif der Beklagten gilt über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus (§ 162 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, § 4 der Satzung der Beklagten; vgl. auch BSGE 5, 222, 229; 16, 165, 168; 38, 21, 28). Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Streitig ist in dem von der Beklagten betriebenen Revisionsverfahren, ob die Beklagte bei der Beitragsberechnung wechselseitig im Büroteil und im gewerblichen Teil des Unternehmens der Klägerin Tätige unabhängig von dem Anteil ihrer Tätigkeit im gewerblichen Teil stets diesem zuordnen kann oder ob die Zuordnung grundsätzlich entsprechend dem Anteil der Tätigkeit zum Büroteil oder kaufmännischen Teil vorzunehmen ist, solange die Tätigkeit im gewerblichen Teil nicht 50 v.H. der Gesamttätigkeit übersteigt.

Das LSG und im Revisionsverfahren auch die Beteiligten gehen zutreffend davon aus, daß die Entscheidung des Rechtsstreits zunächst von der Beantwortung der Frage abhängt, ob die von Vorstand und Vertreterversammlung der Beklagten gefaßten Beschlüsse oder die Veröffentlichung der Beklagten in der Nr. 1/1974 der Beilage zum "Unfall-stop" zu der neuen Nachweisung der Entgelte für wechselseitig Beschäftigte ab dem Beitragsjahr 1974 eine für die Beitragsveranlagung bindend gewordene Vorentscheidung darstellen. Das LSG ist jedoch zutreffend davon ausgegangen, daß insoweit kein Verwaltungsakt, auch nicht in der Form einer Allgemeinverfügung, vorliegt.

Der Verwaltungsakt ist auf einen besonderen, konkreten Einzelfall gerichtet, den er regelt oder gestaltet (vgl. u.a. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, 10. Aufl., § 11, S. 200; s. § 31 Satz 1 SGB 10). Auch die Allgemeinverfügung regelt oder gestaltet einen konkreten Einzelfall; sie ergeht lediglich unter nur genereller Kennzeichnung derer, an die sie gerichtet ist (Forsthoff a.a.O. S. 201; s. § 31 Satz 2 SGB 10). Die Beschlüsse des Vorstandes und der Mitgliederversammlung der Beklagten vom 7. November und 15. Dezember 1972 sowie 12. April 1973 billigen die vorgeschlagenen Richtlinien der Verwaltung und bilden keine Regelung einer Vielzahl von Einzelfällen. Beide Organe der Beklagten wollten keine zur Entscheidung anstehenden Einzelfälle - hier die Beitragsveranlagung für das Jahr 1974 - regeln, sondern auf Dauer ausgerichtete Anordnungen für künftige, erst durch die Verwaltung zu treffende Entscheidungen aufstellen. Dies kommt in den Beschlüssen der Organe selbst und - worauf die Klägerin zutreffend hinweist - in der Veröffentlichung von Januar 1974 zum Ausdruck. Auch die Veröffentlichung der Beklagten in ihrer Bekanntmachung 1/1974 der Beilage zum "Unfall-stop" regelte ihrem Inhalt nach nicht konkrete Einzelfälle unter genereller Kennzeichnung derer, an die sie gerichtet ist, sondern diente neben Hinweisen zum Lohnnachweis 1973 und zur Meldung von Sicherheitsbeauftragten einer Unterrichtung über Änderungen, die nach Auffassung der Beklagten für die Beitragsberechnung hinsichtlich der wechselseitig im Büro- und gewerblichen Teil der Unternehmen Beschäftigten eingetreten waren und erstmals für das Umlagejahr 1974 und die späteren Umlagejahre wirksam werden sollten. Die Beklagte bat, die Neuregelung bei der Führung der Nachweisunterlagen ab Januar 1974 zu berücksichtigen. Die Bekanntmachung in Nr. 1/1974 der Beilage zum "Unfall-stop" ist insoweit nur eine - vorgezogene - "Anleitung zum Erstellen des Lohnnachweises", wie sie auf der Rückseite der Zweitschriften der Lohnnachweise abgedruckt ist. Aus diesem Hinweis war zwar zu entnehmen, wie die Beklagte künftig die Beitragsberechnung insoweit vornehmen werde. Die den Einzelfall betreffende Regelung enthielten jedoch erst die Beitragsbescheide der Beklagten (s. § 746 RVO). Der Vergleich mit der Veranlagung zur Gefahrklasse, den die Beklagte für ihre Gegenmeinung anführt, geht schon deshalb fehl, weil es sich dabei um eine insoweit abschließende Regelung der Berufsgenossenschaft handelt, während die Hinweise der Beklagten den erst durch den Unternehmer zu erstellenden Lohnnachweis betrafen. Gegen die Auffassung der Beklagten spricht auch, daß nach § 741 Abs. 3 RVO Form und Inhalt der Lohnnachweise die Satzung bestimmt. Die Beklagte konnte lediglich Erläuterungen über die nach ihrer Auffassung neue Rechtslage geben.

Die Beklagte meint, es sei ein venire contra factum proprium, erst den Lohnnachweis entsprechend der Bekanntmachung auszuführen und sich später bei der Beitragsberechnung gegen die entsprechende Berücksichtigung der wechselseitig Beschäftigten zu wenden. Die Beklagte macht damit in der Revisionsinstanz geltend, die Klägerin habe ihr Klagerecht verwirkt. Die Verwirkung ist eine Rechtsfolge, die unabhängig davon eintritt, ob der Gegner des von ihr Betroffenen sich im Einzelfall darauf beruft (s. BSGE 34, 211, 213 mit weiteren Nachweisen). Sie ist auch in der Revisionsinstanz zu beachten, wenn die Tatsachen dazu in der Tatsacheninstanz festgestellt sind (BSGE a.a.O.). Rechtsprechung und Schrifttum sind nunmehr überwiegend der Auffassung, daß auch das Anfechtungs- bzw. Klagerecht verwirkt werden kann (s. die zahlreichen Nachweise in BSGE a.a.O.), Die Voraussetzungen einer Verwirkung des Klagerechts der Klägerin sind jedoch nicht gegeben. Die Verwirkung ist ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung. Sie unterscheidet sich von der Verjährung dadurch, daß der bloße Zeitablauf nicht genügt, um die Ausübung des Rechte als unzulässig anzusehen. Zu dem Ablauf einer längeren Zeitspanne müssen besondere Umstände hinzutreten, welche die späte Geltendmachung des Rechts mit der Wahrung von Treu und Glauben als nicht vereinbar und dem Rechtspartner gegenüber wegen des illoyalen Verhaltens des Berechtigten nicht als zumutbar erscheinen lassen. Auch für die Verwirkung des Anfechtungs- bzw. Klagerechts setzen Rechtsprechung und Schrifttum voraus, daß neben dem Zeitablauf weitere Umstände hinzutreten, die mit ihm die Verwirkung begründen (BSGE a.a.O.). Diese Voraussetzungen sind hier jedoch nicht erfüllt. Die Klägerin hat zunächst entsprechend der Anleitung der Beklagten den Lohnnachweis erstellt. Da es sich bei dieser Anleitung, wie bereits dargelegt, nicht um einen Verwaltungsakt handelt, mußte die Klägerin abwarten, ob sie durch den Beitragsbescheid der Beklagten in ihren Rechten verletzt wurde. Erst danach hat sie Klage erheben können, so daß dieses Recht nicht verwirkt ist,

Die angefochtenen Beitragsbescheide sind demnach vom LSG mit Recht auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft worden.

Hierbei ist, wie das LSG ebenfalls nicht verkannt hat, maßgebend der Gefahrtarif vom 18. September 1974. Dieser Tarif war nach der Genehmigung vom 15. Oktober 1974 gültig zur Berechnung der Beiträge vom 1. Januar 1975 an, also für die im Jahre 1975 erfolgte und hier strittige Veranlagung für das Jahr 1974. Entgegen der Auffassung der Revision ist die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung des Gefahrtarifs abhängig; dem es kommt darauf an, inwieweit der Lohn bestimmter Beschäftigter der Klägerin dem kaufmännischen und verwaltenden Teil (Büroteil) oder dem gewerblichen Teil des Unternehmens im Sinne von I A oder I B des Gefahrtarifs der Beklagten zuzuordnen ist. Daß dies eine Frage der Auslegung des Gefahrtarifs ist, ergibt sich auch aus II 2 dieses Tarifs. Diese Bestimmung enthält den Begriff der wechselseitigen Beschäftigung aber nur im Hinblick auf solche Versicherte, die im Haupt- und Nebenunternehmen, also in mehreren Teilen eines Unternehmens, tätig sind. Der Büroteil der Klägerin ist dagegen nur ein unselbständiger Hilfsbetrieb der jeweiligen Zweigniederlassung, so daß die im Gefahrtarif enthaltene Regelung II 2 Abs. 1 nicht für die hier in Betracht kommenden wechselseitig Beschäftigten gilt. Das LSG ist demnach zutreffend davon ausgegangen, daß der Gefahrtarif der Beklagten keine ausdrückliche Regelung darüber enthält, wie solche Beschäftigte bei der Beitragsberechnung zu behandeln sind, welche sowohl im Büroteil als auch im gewerblichen Teil einer Zweigniederlassung der Klägerin beschäftigt werden. Entgegen der Auffassung der Revision hat auch das Berufungsgericht dabei nicht angenommen, der Gefahrtarif müsse eine entsprechende Bestimmung enthalten. Fehlt sie jedoch, so ist die Lücke durch Auslegung des autonomen Rechts der Beklagten zu schließen. Eine Bindung an die Beschlüsse der Vertreterversammlung besteht dabei auch deshalb nicht, weil die unterbliebene Änderung oder Ergänzung des Gefahrtarifs nicht durch eine - zudem von der Genehmigung der Aufsichtsbehörde unabhängige - Interpretation des Gefahrtarifs ersetzt werden kann. Bei der Anwendung des Gefahrtarifs hat die Beklagte, wie auch bei der Auslegung anderer Rechtsnormen, keinen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum. Dem steht nicht entgegen, daß die Beklagte nach wohl herrschender Auffassung, zu der hier der Senat nicht abschließend Stellung zu nehmen braucht, befugt ist, in ihrem Gefahrtarif von einer Unterscheidung zwischen dem kaufmännischen und verwaltenden Teil des Unternehmens und dem gewerblichen Teil des Unternehmens gänzlich abzusehen. Ebenso bedarf es keiner Entscheidung, ob die Beklagte deshalb im Gefahrtarif auch bestimmen könnte, daß Beschäftigte, die nicht ausschließlich im kaufmännischen und verwaltenden Teil tätig sind, bei der Beitragsbemessung unabhängig von dem Anteil ihrer dem gewerblichen Teil dienenden Tätigkeiten stets voll dem gewerblichen Teil des Unternehmens zuzurechnen sind. Eine derartige ausdrückliche Regelung enthält der maßgebende Gefahrtarif nicht. Sie ist ihm auch nicht durch Auslegung zu entnehmen.

Der Gefahrtarif unterscheidet zwischen Tätigkeiten im kaufmännischen und verwaltenden Teil (Büroteil) und Tätigkeiten im gewerblichen Teil des Unternehmens. Die Tätigkeiten im kaufmännischen und verwaltenden Teil des Unternehmens sind der Gefahrklasse 0,7, die Tätigkeiten des betrieblichen Teils der Klägerin sind der Gefahrklasse 3,5 zuzuordnen. Der Gefahrtarif unterscheidet nicht, ob diese Tätigkeiten jeweils von verschiedenen Beschäftigten verrichtet werden oder ob eine Tätigkeit im Büroteil von einem Beschäftigten verrichtet wird, der auch Tätigkeiten im gewerblichen Teil des Unternehmens verrichtet, und umgekehrt. Ohne eine zusätzliche Bestimmung im Gefahrtarif entspricht es der Einteilung, in einem kaufmännischen und verwaltenden Teil des Unternehmens einerseits und einem gewerblichen Teil des Unternehmens andererseits die Tätigkeiten eines wechselseitig Beschäftigten jeweils dem Unternehmensteil zuzuordnen, dem sie dienen. Die Tätigkeit des nur im kaufmännischen und verwaltenden Teil des Unternehmens Beschäftigten ist ausschließlich der Gefahrklasse 0,7 zuzuordnen, weil diese Tätigkeit ausschließlich dem dieser Gefahrklasse entsprechenden Unternehmensteil dient. Deshalb ist - mangels einer anderweitigen Bestimmung im Gefahrtarif - bei einem wechselseitig Beschäftigten grundsätzlich nur der Teil der Tätigkeiten, der nicht dem kaufmännischen und verwaltenden Teil dient, der Gefahrklasse zuzuordnen, die für den gewerblichen Unternehmensteil maßgebend ist. Davon ging auch die Beklagte für den insoweit gleichlautenden Gefahrtarif 1970 aus. Entgegen der Auffassung der Revision hat sie insoweit den Gefahrtarif seit 1. Januar 1975 nicht deshalb anders ausgelegt, weil sie die bisherige Auslegung als rechtswidrig angesehen hat, sondern weil die auch von ihr zunächst als zutreffend vorgenommene Auslegung zu Nachweis- und Erfassungsschwierigkeiten geführt hatte. Ob diese Schwierigkeiten eine Ergänzung des Gefahrtarifs dahin rechtfertigen, daß dem kaufmännischen und verwaltenden Teil des Unternehmens nur die Beschäftigten zuzurechnen sind, die ausschließlich Tätigkeiten für den Büroteil verrichten, steht hier, wie bereits aufgezeigt, nicht zur Entscheidung. Für die Auslegung des geltenden Gefahrtarifs kam insoweit zudem nicht unbeachtet bleiben, daß die Beklagte für wechselseitig in zwei Unternehmensteilen (Hauptunternehmen, Nebenunternehmen) Beschäftigte keine entsprechende Regelung getroffen hat, obgleich bei ohne getrennte Lohnlisten wechselseitig in verschiedenen Haupt- bzw. Nebenunternehmen Tätigen Abgrenzungs- und Erfassungsschwierigkeiten ebenfalls grundsätzlich nicht zu vermeiden sind. Ebenso bedarf es im Rahmen der Revision der Beklagten keiner Entscheidung, ob Beschäftigte mit Tätigkeiten, die mehr als die Hälfte dem gewerblichen Teil des Unternehmens dienen, ganz diesem zuzuordnen sind. Vielmehr ist Iediglich die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Daß die Klägerin möglicherweise, wie die Revision vorträgt, dadurch begünstigt wird, daß der Beitragsfuß auf der Grundlage der von der Beklagten vorgesehenen neuen Zuordnung der wechselseitig Beschäftigten beruht, rechtfertigt hier keine andere Entscheidung, da anderenfalls die Klägerin allein deshalb gezwungen wäre, eine sie noch stärker belastende rechtswidrige Beitragsbemessung hinzunehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 260

Breith. 1981, 962

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