Entscheidungsstichwort (Thema)

Anerkennung einer Neurose als Schädigungsfolge. Anlageleiden. wesentliche Bedingung. Anknüpfung an eine wehrdienstbedingte organische Störung. Kausalitätsbeurteilung

 

Orientierungssatz

Zur Frage, ob eine Neurose auch dann als Schädigungsfolge anerkannt werden kann, wenn sie nicht an wehrdienstbedingte organische Störungen anknüpft oder sich mit ihnen vermischt.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs 1 Fassung: 1960-06-27

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 26.07.1979; Aktenzeichen L 11 V -Z- 24/77)

SG Berlin (Entscheidung vom 08.02.1977; Aktenzeichen S 46 V 103/71)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt, gem § 1 Abs 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als Schädigungsfolgen "neurotische Fehlentwicklung als Folge einer langjährigen psychischen Belastung mit Neigung zu psychosomatischen Störungen (nervöse Magenbeschwerden, Bluthochdruck) und Phobien" anzuerkennen.

Er befand sich im Anschluß an den geleisteten Kriegsdienst von Mai 1945 bis Oktober 1955 in russischer Kriegsgefangenschaft. Die Versorgungsverwaltung bestätigte als Schädigungsfolgen ursprünglich 1. Allgemeiner Erschöpfungszustand nach 10jähriger russischer Kriegsgefangenschaft, 2. Hornhautnarbe, dadurch bedingte geringe Stabsichtigkeit, mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH an. Sie ging jedoch in einem später erlassenen Bescheid davon aus, daß der als Schädigungsfolge zunächst anerkannte allgemeine Erschöpfungszustand nicht mehr bestehe, und entzog die Versorgungsrente.

Die Versorgungsbehörde stellte sodann als weitere Schädigungsfolgen "Bauchfellverwachsungen, Leberkapsel- und Gallenblasenwandverdickungen" fest, lehnte indes das zusätzliche Begehren, Folgeschäden nach Kriegsgefangenschaft anzuerkennen, ab (Bescheid vom 13. Mai 1970, Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 1971). Eine Neigung zu Bluthochdruck sowie einen Herzinfarkt sah sie als nicht-schädigungsbedingt an.

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten entsprechend dem Klagebegehren verurteilt und ihm aufgegeben, Beschädigtenrente nach einer MdE um 50 vH zu gewähren. Zur Begründung hat es sich auf die eingeholten Sachverständigengutachten (Prof Dr S, Dr I W), gestützt. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat unter Verwertung einer weiteren gutachtlichen Äußerung der Sachverständigen Dr W ausgeführt, die beim Kläger vorhandene neurotische Fehlentwicklung beruhe einmal auf einer in der Kindheit entstandenen neurotischen Charakterstruktur und zum anderen auf den schweren seelischen Belastungen der russischen Kriegsgefangenschaft. Jedoch komme den schädigungsbedingten Einwirkungen keine in etwa gleichwertige ursächliche Bedeutung iS der in der Kriegsopferversorgung (KOV) geltenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung zu. Das folge daraus, daß auch seelische Belastungen des Zivillebens, die in ihrer Schwere geringer als die Belastungen der 10jährigen russischen Kriegsgefangenschaft gewesen wären, beim Kläger zu einer neurotischen Fehlentwicklung hätten führen können. Zudem habe die Rechtsprechung (BSG-Urteil vom 27. August 1963 in Thannheiser-Wende-Zech, Handbuch des Bundesversorgungsrechts, Bd 3 § 1 BVG Nr 18 S 14e) eine Neurose als Schädigungsfolge nur dann anerkannt, wenn sie an wehrdienstbedingte organische Störungen anknüpfe oder sich mit ihnen vermische. Diese Voraussetzungen lägen beim Kläger nicht vor.

Der Kläger macht mit der Revision, die durch Beschluß des erkennenden Senats zugelassen worden ist, geltend, das LSG habe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht beachtet. Es habe bei der Feststellung der "gleichwertigen Mitursache" entgegen dem Urteil des BSG vom 11. November 1959 - 11/9 RV 209/57 (= BSGE 11, 50 f) den besonderen Umständen des Einzelfalles und der Einzelpersönlichkeit nicht die entsprechende Bedeutung beigemessen. Vielmehr sei das Berufungsgericht von allgemeinen Erfahrungssätzen und Durchschnittsanforderungen der Zivilbevölkerung ausgegangen. Nach den eingeholten Sachverständigengutachten müsse bei einer individuellen Beachtung der Persönlichkeitsstruktur des Klägers den seelischen Belastungen der Kriegsgefangenschaft eine zumindest gleichwertige Bedingung - wenn nicht sogar eine solche mit überragender Bedeutung - iS der in der KOV herrschenden Kausalitätsnorm beigemessen werden. Zudem widerspräche die im Urteil des LSG vertretene Rechtsansicht, eine Neurose könne grundsätzlich nur als Schädigungsfolge anerkannt werden, wenn sie an wehrdienstbedingte organische Störungen anknüpfe oder sich mit ihnen vermische, den Urteilen des BSG vom 20. August 1963 (= BSGE 19/275) und vom 27. August 1963 (= BSG SozR Nr 67 zu § 1 BVG). Auch seien psychische Reaktionen nicht deswegen als wesentliche Bedingung für den Erfolg und damit als Ursache im Rechtssinne auszuschließen, weil beim Kläger eine "abnorme seelische Reaktionsbereitschaft" bestünde.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben;

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und den

Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und

Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg.

Das LSG ist bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs von der Rechtsprechung des BSG abgewichen. Seine Erwägungen sind vom Rechtsirrtum über den Inhalt der in der KOV geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung bestimmt. Darauf beruht das angefochtene Urteil. Da insoweit weitere Ermittlungen anzustellen sind, ist das Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zurückzuverweisen.

Nach den von der Revision nicht angefochtenen und somit für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) beruht die neurotische Fehlentwicklung beim Kläger auf dem Zusammenwirken der nicht-schädigungsbedingten neurotischen Anlage (in der Kindheit entstandene neurotische Charakterstruktur) und den schweren seelischen Belastungen der 10jährigen russischen Kriegsgefangenschaft. Jedoch verneint es einen Versorgungsanspruch, da den Einflüssen der russischen Kriegsgefangenschaft keine gleichwertige ursächliche Bedeutung zukomme. Entscheidend hierfür sei nämlich - so das LSG -, daß die neurotische Fehlentwicklung des Klägers auch durch andere seelische Beschwernisse, denen die Durchschnittsbevölkerung häufig ausgesetzt sei - zB länger dauernder Berufs- und Familienärger - und die in ihrer Schwere geringer wären als die Anspannungen der russischen Kriegsgefangenschaft, hätten ausgelöst werden können. Eine solche Möglichkeit habe die Sachverständige Dr W ausdrücklich eingeräumt.

Diese vom LSG getroffenen Feststellungen der "gleichwertigen Mitursache" stehen mit der Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 11, 50 f) nicht in Einklang. Dies hat der Kläger zutreffend gerügt. Die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge nach dem BVG setzt voraus, daß sie durch die in § 1 f BVG enthaltenen Tatbestände herbeigeführt wurde. Hierbei ist von der in der KOV geltenden Kausalitätsnorm auszugehen. Danach ist ursächlich nur diejenige Bedingung, die im Verhältnis zu anderen Einzelbedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (BSGE 1, 268 f; seither ständige Rechtsprechung). Haben hingegen mehrere Faktoren zu einem Ergebnis beigetragen, sind sie rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursache, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für das Resultat annähernd gleichwertig sind. Kommt einem der Vorgänge gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, so ist das bestehende Moment allein Ursache im Rechtssinne. Letzteres sieht das LSG als gegeben an. Es hat aber bei seiner Abwägung, welche der in Betracht kommenden Tatsachen gegebenenfalls als wesentliche Mitursache oder alleinige Ursache zu werten sind, einen generalisierten und hypothetischen Maßstab angelegt. Es will die Belastungen der russischen Kriegsgefangenschaft nur dann als "wesentliche" Bedingung iS der in der KOV maßgebenden Kausalitätstheorie werten, wenn sie unverhältnismäßig größer als diejenigen im Zivilleben sind. Diese Orientierung ist jedoch im Zusammenhang mit den für das Recht der KOV richtungsweisenden Kriterien der "Wesentlichkeit" der Bedingung - wie der Kläger zutreffend rügt - nicht zutreffend.

Im Gegensatz zu der Theorie vom adäquaten Zusammenhang, wonach diejenige Bedingung Ursache im Rechtssinne ist, die den eingetretenen Erfolg voraussehen ließ, geben im Recht der KOV allgemeine Erfahrungen und gewisse Regelmäßigkeiten weniger den Ausschlag. Die Kausalitätsbeurteilung ist auf die besonderen Umstände des Einzelfalles sowie auf die Einzelpersönlichkeit abzustellen. Maßgebend ist die individuelle Belastung und Belastbarkeit. Mithin kommt es darauf an, wie der Kläger nach der Struktur seiner Persönlichkeit auf die schädigungsbedingten Einwirkungen reagiert hat. Folglich hätte das LSG fragen müssen, wie die Verhältnisse der russischen Kriegsgefangenschaft bei der vorhandenen zunächst "ruhenden" Anlage auf den Kläger gewirkt haben und welche Gesundheitsstörungen nach Art und Umfang hierauf zu beziehen sind.

Sonach ist die vom LSG gedachte - abstrakte - Möglichkeit, beim Kläger hätte die neurotische Fehlentwicklung auch bei besonderen Einwirkungsformen des Zivillebens eintreten können, kein zulässiges Beurteilungskriterium. Dies hat die Sachverständige Dr W nicht verkannt. Sie hat in ihrem Zusatzgutachten vom 2. November 1978 ausgeführt, beim Kläger wäre ohne die Einflüsse der russischen Kriegsgefangenschaft eine Dekompensation der neurotischen Grundkrankheit nicht eingetreten. Darauf hätte das LSG eingehen müssen. Andererseits setzt dieser individuelle Beurteilungsmaßstab voraus, daß bei jedem Betroffenen die sittliche und seelische Anspannung zu fordern ist, seinen Willen gemäß den Anforderungen seiner Situation zu steuern und seinen Begehrensvorstellungen Widerstand entgegenzusetzen. Ob er dazu in der Lage ist, ist der Beurteilung des Einzelfalles zu überlassen (BSGE 11, 50, 55). Auch dies wird das LSG noch aufzuklären haben.

Dem Berufungsurteil könnte allenfalls dann im Ergebnis beigepflichtet werden, wenn der russischen Kriegsgefangenschaft nur die Bedeutung einer Gelegenheitsursache zukäme. Hierzu wäre aber Voraussetzung, daß die beim Kläger bestehende anlagebedingte Charakterstruktur so leicht ansprechbar gewesen wäre, daß jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu derselben Zeit die Gesundheitsstörungen ausgelöst hätte (so ausgesprochen für die Unfallversicherung -UV- in BSG SozR Nr 47 zu § 542 aF RVO). Davon geht das LSG ersichtlich nicht aus. Im Gegenteil billigt es dem Kläger in Anlehnung an die Sachverständigen-Gutachten schwere seelische Belastungen der immerhin 10 Jahre dauernden russischen Kriegsgefangenschaft zu. Dennoch glaubt es bei psychischen Reaktionen der Anlage des Klägers von vornherein eine überragende Bedeutung beilegen zu müssen. Dies ist - wie ausgeführt - nicht Rechtens (so für die UV: BSGE 18, 173, 176).

Außerdem meint das LSG, seine Meinung auch darin bestätigt zu finden, daß in der Rechtsprechung eine Neurose grundsätzlich nur dann anerkannt worden sei, wenn sie an wehrdienstbedingte organische Störungen anknüpfe oder sich mit ihnen vermische. Wollte man dem folgen, erschiene es zunächst schwer verständlich, weshalb das Berufungsgericht sowohl den schädigungsbedingten wie auch schädigungsunabhängigen Faktoren eine ursächliche Bedeutung - allerdings mit unterschiedlicher Wertung - beigemessen hat. Folgerichtig wäre es gewesen, dann einen schädigungsbedingten Ursachenzusammenhang in Gänze zu verneinen. Überdies ist dem Kläger zuzustimmen, daß nach der Rechtsprechung des BSG und entgegen der vom LSG vertretenen Rechtsansicht auch dann psychische Erscheinungsformen als Versorgungsleiden anerkannt werden können, wenn sie nicht mit organischen Schäden verbunden sind. In dem vom Kläger zitierten Urteil des BSG vom 27. August 1963 (BSG SozR Nr 67 zu § 1 BVG) ist gerade hervorgehoben, daß der Schluß vom Fehlen eines wehrdienstbedingten Organschadens auf das Nichtvorhandensein jeder Schädigungsfolge eine unzulässige prinzipielle Ausklammerung psychischer Schäden aus dem Bereich möglicher Schädigungsfolgen bedeutet.

Zu Recht rügt der Kläger unter Hinweis auf das Urteil des BSG vom 20. August 1963 (BSGE 19, 275, 278), daß bei psychischen Reaktionen äußere Einflüsse nicht nur deshalb als wesentliche Bedingung für den Erfolg ausgeschlossen werden dürfen, weil bei dem Betroffenen eine insoweit vorhandene abnorme seelische Reaktionsbereitschaft vorliegt. Es ist zwar nicht zu verkennen, daß in der medizinischen Wissenschaft zunächst erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden hatten, ob ein schädigendes Ereignis eine Bedeutung für "psychische Reaktionen" haben kann. Gleichwohl hat es das BSG schon seinerzeit als nicht erlaubt angesehen, solche Reaktionen aus dem Anwendungsbereich der Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung auszuschließen (BSGE 19, 275, 277). Um so mehr gilt dies, nachdem dieser medizinische Meinungsstreit im wesentlichen abgeklungen sein dürfte (vgl Grömig, Medizinisches und Rechtliches zum Problem der Neurose in SozVers 1978, 255).

Bei der weiteren Behandlung des Falles wird noch zu beachten sein, daß bisher - entgegen der versorgungsärztlichen Beurteilung - eine eingehende fachmedizinische Begutachtung hinsichtlich der ursächlichen Bedeutung des am 14. April 1959 erlittenen Verkehrsunfalles unterblieben ist. Zwar stellt die Sachverständige Dr W Folgen einer Hirnkontusion nicht fest und folgert daraus, daß sie nicht als Ursache der beim Kläger vorhandenen psychosomatischen Störungen angesehen werden könnten. Möglicherweise widerstreitet dies ihren weiteren gutachtlichen Ausführungen (Zusatzgutachten vom 13. April 1978). Dort ist ausgeführt, daß ein seelisch gesunder Mensch bei einem psychischen Streß nach Fortfall der akuten äußeren Einwirkungen wieder zu seinem seelischen Gleichgewicht zurückfindet, während dies beim Neurotiker nicht möglich sei. Denkbar wäre es, diese medizinischen Erkenntnisse auch bei Organschäden, wie etwa bei einer Schädelverletzung, die später wieder abklingt, entsprechend anzuwenden. Dann müßten die durch den Unfall im einzelnen verursachten Gesundheitsstörungen ermittelt werden. Als geeignete Beweisunterlagen kämen insoweit die Krankengeschichte des St H K - B, Jahrgang 1959, sowie die Kurunterlagen (betreffend die im Anschluß an die Krankenhausbehandlung durchgeführte Kur) in Betracht. Sie hatten jedoch - soweit erkennbar - der Sachverständigen Dr W bei der Begutachtung nicht zur Verfügung gestanden, weshalb es ihr gegebenenfalls an einer ausreichenden Beurteilungsmöglichkeit gefehlt haben könnte.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654625

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