Leitsatz (redaktionell)

Bei einer notwendigen Dauerunterbringung der früheren Ehefrau in einer Anstalt wegen geistiger Erkrankung ist bei der Feststellung des Mindestbedarfs nicht von den Unterbringungskosten auszugehen, sondern der notwendige Mindestbedarf erwerbsunfähiger Personen (zeitlich und örtlich) zu ermitteln.

 

Normenkette

AVG § 42 Abs. 1 S. 1 Alt. 2

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Mai 1973 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat der Beigeladenen auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1894 geborene und am 16. Januar 1971 verstorbene Ingenieur Walter H… war in erster Ehe mit der Beigeladenen verheiratet gewesen. Diese Ehe wurde 1948 ohne Schuldausspruch wegen einer geistigen Erkrankung seiner Ehefrau geschieden. Seit dem 9. Februar 1951 war der Versicherte mit der Klägerin verheiratet. Aufgrund einer Inanspruchnahme durch das Kreissozialamt C… zahlte er bis zuletzt für seine in einer Nervenklinik untergebrachte frühere Ehefrau einen Kostenbeitrag von 97,-- DM monatlich.

Die Beklagte gewährte der Klägerin und der Beigeladenen durch die Bescheide vom 6. September 1971 und 27. Oktober 1971 anteilige Hinterbliebenenrenten, und zwar der Klägerin in Höhe von 295,70 DM monatlich und der Beigeladenen in Höhe von 446,-- DM monatlich.

Hiergegen wandte sich die Klägerin. Sie beanspruchte die Hinterbliebenenrente für sich allein. Der von ihrem früheren Ehemann über das Sozialamt an die Beigeladene gezahlte Unterhalt von monatlich 97,-- DM habe weit unter 25% des für diese notwendigen Mindestbedarfs gelegen, weil sie wegen ihrer Erkrankung ständig pflegebedürftig gewesen sei, so daß jener Betrag nicht als Unterhalt im Sinne des § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) angesehen werden könne.

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Die Klägerin hat die vom Landessozialgericht (LSG) zugelassene Revision eingelegt mit dem Antrag,

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 17. Mai 1973 und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 5. Dezember 1972 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung ihres Bescheids vom 6. September 1971 zu verurteilen, ihr die volle Witwenrente zu gewähren,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Gerügt wird die Verletzung der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie unrichtige Anwendung des § 42 AVG.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nicht begründet. Weder die erhobenen Verfahrensrügen noch die Sachrüge vermögen ihr zum Erfolg zu verhelfen.

Nach § 42 AVG hat die Beigeladene als frühere Ehefrau des Versicherten neben der Klägerin (§ 45 Abs. 4 AVG) Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn dieser ihr zur Zeit seines Todes nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen Unterhalt zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Hier zu ist unstreitig, daß der Versicherte bis zu seinem Tode monatlich 97,-- DM über das Kreissozialamt O… zu ihrem Unterhalt beigesteuert hat. Auch wenden sich die Beteiligten nicht gegen die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) - vgl. zuletzt SozR Nr. 49 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung -RVO- und 12 RJ 118/71 vom 17. Mai 1971 -, wonach der Unterhaltsanspruch oder der geleistete Unterhalt, der eine Hinterbliebenenrente auslösen soll, mehr als einen geringfügigen Teil ausmachen muß, wobei in der Regel etwa 25 v. H, des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarf s eines Unterhaltsberechtigten geforderten werden. Streitig ist dagegen unter den Beteiligten, ob hierbei ein individueller Maßstab zugrunde zu legen ist, oder ob eine generelle Betrachtungsweise angebracht ist.

Das LSG bekennt sich zur zuletzt genannten Auffassung. Die Anwendung des individuellen Mindestbedarfs im Einzelfall würde zu unhaltbaren Ergebnissen führen. Es würden dann nämlich Zahlungen, die sonst 25% des Mindestbedarfs übersteigen, für die Dauer einer stationären Krankenhausbehandlung wegen des damit gesteigerten Unterhaltsbedarfs weit unter diesen Satz absinken. Vor und nach der Krankenhausbehandlung wäre der Unterhaltsbegriff erfüllt, für die Dauer der Krankenhausbehandlung aber trotz gleichbleibender Zahlungsbeträge nicht. Die Krankheit könnte alsdann letztlich den Wegfall eines Hinterbliebenenrentenanspruchs zur Folge haben, der ohne sie aufgrund des fortlaufend gezahlten Betrages gegeben wäre. Diesen Sinn habe die bisherige Rechtsprechung des BSG nicht. Deshalb sei zur Abgrenzung des Unterhaltsbegriffs in § 42 AVG von dem regelmäßig nach den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen erforderlichen allgemeinen Mindestbedarf nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), nicht aber von den durch Krankheit begründeten zusätzlich individuellen Bedürfnissen auszugehen. Nach der ab 1. Juni 1970 für Rheinland-Pfalz geltenden Verordnung vom 14. April 1970 über die Mindest- und Höchstbeträge der Regelsätze habe der Regelsatz der Sozialhilfe für die Beigeladene 144,-- bis 150,-- DM betragen. Unter Berücksichtigung eines Zuschlages von 30% wegen Erwerbsunfähigkeit erhöhe sich dieser nur auf höchstens 195,-- DM. Hinzu kämen allerdings noch die laufenden Leistungen für die Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen nach § 3 der Verordnung vom 20. Juli 1962 (BGBl I 515) und etwaige einmalige Beihilfen. Dafür, daß sich durch diese Beträge der nach dem BSHG zunächst mit 195,-- DM monatlich anzunehmende Regelsatz verdoppelt hätte, fehlten jedoch hinreichende Anhaltspunkte. Erst bei einer Verdoppelung des Betrages von 195,-- DM hätten die monatlichen Leistungen des Versicherten von 97,-- DM weniger als 25% des nach dem BSHG ermittelten Unterhaltsbedarfs ausgemacht. Nach alledem müsse der Unterhaltscharakter der vom Versicherten für die Beigeladene erbrachten Zahlungen anerkannt und damit der Anspruch der Beigeladenen auf Rente nach § 42 AVG für begründet angesehen werden. Somit habe die Beklagte gemäß § 45 Abs. 4 AVG zu Recht die der Dauer der Ehen entsprechende Aufteilung der Hinterbliebenenrente vorgenommen, so daß die Berufung der Klägerin hätte zurückgewiesen werden müssen.

Dieser Auffassung ist grundsätzlich zu folgen. Das BSG hat sich in seiner bisherigen Rechtsprechung zu § 1265 RVO und § 42 AVG einmal von dem Gedanken leiten lassen, daß die Hinterbliebenenrenten Unterhaltsersatzfunktion haben, und daß es hiermit nicht zu vereinbaren wäre, wenn schon jede Unterhaltspflicht oder jede Unterhaltsleistung in geringer Höhe einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente auslösen könnte (vgl. hierzu im einzelnen insbesondere SozR § 1265 RVO Nr. 49). Zum anderen war auf die Möglichkeiten einer Kollision zwischen der Witwenrente und der Rente einer früheren Ehefrau Rücksicht zu nehmen (vgl. hierzu insbesondere BSG 22, 44, 47).

Berücksichtigt man diese Gesichtspunkte, dann kann im vorliegenden Fall nicht darauf abgestellt werden, daß die vom Versicherten erbrachten Unterhaltsleistungen von 97,-- DM monatlich weniger als ein Viertel der über 600,-- DM monatlich betragenden Unterbringungskosten der Beigeladenen ausgemacht haben (vgl. hierzu Schriftsatz des Landratsamtes Neuwied vom 20. September 1973 nebst Anlagen). Anderenfalls würde der Ausgangspunkt der angeführten Rechtsprechung verlassen, daß nur geringfügige Unterhaltsansprüche und Unterhaltsleistungen nicht ausreichen sollen, um Hinterbliebenenrentenansprüche zu begründen. Maßgebend müssen daher grundsätzlich die allgemeinen Regelsätze der Sozialhilfe sein, wenn auch im Einzelfalle gewisse individuelle, aber allgemein übliche Zuschläge im Hinblick auf Wohnung, Alter und Gesundheit zu berücksichtigen sein werden. Das darf aber nicht dazu führen, in vom durchschnittlichen Regelfalle abweichenden außergewöhnlichen Fällen erhöhte Anforderungen zu stellen. Dazu hat das LSG mit zutreffenden Ausführungen weiter dargelegt, daß jener Betrag von 97,-- DM monatlich mehr als ein Viertel des nach den Vorschriften des BSHG ermittelten Mindestbedarfs eines normalen alten und erwerbsunfähigen Menschen ausmachten. Das reichte aber aus, um für die Beigeladene einen Rentenanspruch auszulösen.

Damit erweisen sich zugleich die vorgebrachten Verfahrensrügen als unbegründet. Bei der gegebenen Rechtslage bedurfte es nicht der von der Revision für erforderlich gehaltenen weiteren Sachaufklärung, welche Beträge von der Sozialhilfe insgesamt im Monat für die Beigeladene aufgewendet worden sind, und wie hoch deren tatsächlicher Unterhaltsbedarf im einzelnen war. Diese individuellen Besonderheiten waren für die Entscheidung des Falles nicht erheblich, so daß sie auch nicht aufgeklärt zu werden brauchten. Ebensowenig stellte es eine Überschreitung des Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung dar (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG), wenn das LSG den normalen Unterhaltsbedarf der Klägerin, falls sie nicht anstaltspflegebedürftig gewesen wäre, auf weniger als 388,-- DM monatlich ermittelt hat. Seine hierzu getroffenen Feststellungen sind nicht zu beanstanden.

Nach alledem war die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostonentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647878

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