Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 28.02.1995; Aktenzeichen L 3 Kg 50/94)

SG Hannover (Urteil vom 11.08.1994)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Februar 1995 und des Sozialgerichts Hannover vom 11. August 1994 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. November 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 1991 wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung zur Zahlung von Kindergeld an die Beigeladene für die Zeit von September 1992 bis Dezember 1993.

Die aus Bosnien-Herzegowina stammende Beigeladene reiste unter Vorlage eines jugoslawischen Reisepasses im September 1991 mit ihren Töchtern Anita (geb. 1974) und Brigita (geb. 1976) in Deutschland ein und beantragte im Oktober 1991 eine Aufenthaltsgenehmigung; über diesen Antrag ist im streitigen Zeitraum nicht entschieden worden. Die klagende Landeshauptstadt gewährt der Beigeladenen Sozialhilfe.

Die Beklagte lehnte den Kindergeldantrag der Beigeladenen vom Oktober 1991 mit Bescheid vom 7. November 1991 und Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 1991 ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit Urteil vom 11. August 1994 verurteilt, der Beigeladenen für den Zeitraum von September 1992 bis Dezember 1993 Kindergeld zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 28. Februar 1995): § 1 Abs 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) idF des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländergesetzes (AuslG) vom 9. Juli 1990 enthalte eine Regelungslücke für den Fall, daß es hinsichtlich seiner Tatbestandsmerkmale – wie hier – nur an der förmlichen Entscheidung über Abschiebungshindernisse auf unbestimmte Zeit fehle. Geboten sei eine „verfassungskonforme Auslegung dieser Regelungslücke” dahingehend, daß Ausländern in solchen Fällen Kindergeld in analoger Anwendung des § 1 Abs 3 BKGG zu gewähren sei. Selbst wenn eine negative Entscheidung über eine Aufenthaltsgenehmigung für die Beigeladene getroffen worden wäre, wäre eine Aussetzung der Abschiebung nach § 54 AuslG zu erlassen gewesen. Auch im übrigen hätten die Voraussetzungen für die Gewährung des Kindergeldes nach § 2 Abs 2 Nr 1 BKGG sowie § 3 Abs 3 Satz 1 BKGG vorgelegen.

Hiergegen richtet sich die Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung des § 1 Abs 1 Nr 1 und Abs 3 BKGG. Die Beigeladene sei im streitigen Zeitraum zur Ausreise aus Deutschland verpflichtet gewesen (§ 42 Abs 1, 2 AuslG), auch wenn der Aufenthalt als geduldet galt (§ 56 Abs 1 AuslG); die Ausreisepflicht sei wegen der Duldung nach § 69 Abs 2 AuslG lediglich nicht vollziehbar gewesen. Ein nach § 1 Abs 3 BKGG beachtlicher Abschiebestopp nach § 54 AuslG habe nicht bestanden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Februar 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 11. August 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Trotz der Absicht des Gesetzgebers, den Bürgerkriegsflüchtlingen kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht einräumen zu wollen, sei wegen des Kriegszustandes eine Abschiebung der Beigeladenen auf unabsehbare Zeit nicht möglich gewesen; eine Verbesserung der Verhältnisse im ehemaligen Jugoslawien sei Ende 1991 nicht erkennbar gewesen. Auch beginne die Jahresfrist nach § 1 Abs 3 BKGG nicht erst mit Ablauf des Touristenvisums; seit ihrer Einreise sei der Aufenthalt der Beigeladenen gestattet gewesen: Für die ersten drei Monate habe es gemäß § 1 der Durchführungsverordnung zum AuslG keiner Aufenthaltsgenehmigung bedurft.

Die Beigeladene schließt sich dem Vorbringen der Klägerin an.

Auf Anfrage des Senats hat die Klägerin mitgeteilt, daß im streitigen Zeitraum Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina gemäß § 55 Abs 2 AuslG geduldet worden seien, da eine Abschiebung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich gewesen sei (Erlaß des Niedersächsischen Innenministeriums vom 11. Mai 1992). Erst mit Erlaß vom 23. März 1994 sei erstmals die Abschiebung entsprechender Flüchtlinge gemäß § 54 Satz 1 AuslG für zunächst sechs Monate ausgesetzt worden.

Sämtliche Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Die Beigeladene hat für den streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf Kindergeld.

Sie erfüllt nicht die Voraussetzungen des im damaligen Zeitraum geltenden § 1 Abs 3 BKGG idF des Gesetzes zur Neuregelung des AuslG vom 9. Juli 1990 (BGBl I 1354). Danach haben Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich des BKGG aufhalten, einen Anspruch auf Kindergeld nur, wenn sie nach den §§ 51, 53 oder 54 AuslG auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten Aufenthalt von einem Jahr (zur Rechtsentwicklung vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 27. Februar 1996 – 10 RKg 27/93 –, zur Veröffentlichung in SozR 3-1300 § 48 Nr 47 vorgesehen).

Die Beigeladene verfügte, wie vom LSG festgestellt, nicht über eine Aufenthaltsgenehmigung. Ein Kindergeldanspruch hätte deshalb vorausgesetzt, daß sie nach den §§ 51, 53 oder 54 AuslG auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden konnte. Diese Voraussetzung kann – wie vom LSG im Grundsatz richtig erkannt -auch erfüllt sein, wenn den Ausländern neben ihrer Zugehörigkeit zu einer durch § 54 AuslG geschützten Ausländergruppe Abschiebungsschutz auch aus einem anderen Grunde zusteht, etwa gemäß § 42 Abs 2 Satz 2 oder § 69 Abs 2 AuslG zur Durchführung des Verfahrens nach Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung – wie bei der Beigeladenen. Der Senat hat bereits entschieden, daß nach § 1 Abs 3 BKGG in der hier anzuwendenden Fassung für Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung ein Anspruch auf Kindergeld nur dann besteht, wenn eines der hierin enumerativ aufgezählten Abschiebungshindernisse vorliegt (s hierzu das Senatsurteil vom 27. Februar 1996, aa0). Dies schließt einen Anspruch jedoch nicht dann aus, wenn im konkreten Fall nicht nur ein Abschiebungshindernis nach § 54 AuslG auf unbestimmte Zeit besteht, sondern ausländerrechtlich auch – vorrangig – bereits aus anderen Gründen keine Abschiebung zulässig ist. Es wäre widersinnig und widerspräche dem Sinn und Zweck des Gesetzes, Ausländern Kindergeld zu gewähren, die sich lediglich auf eines der in § 1 Abs 3 BKGG aufgezählten Abschiebungshindernisse berufen können, hingegen bei Bestehen zusätzlicher Abschiebungshindernisse – also bei einem gesicherteren Aufenthaltsstatus – keinen Anspruch auf Kindergeld zuzugestehen. Der Argumentationsfigur der „verfassungskonformen Ausfüllung einer Regelungslücke” bedarf es für dieses Auslegungsergebnis nicht.

Das LSG hat jedoch zu Unrecht angenommen, daß für die Beigeladene iS des § 1 Abs 3 BKGG iVm § 54 AuslG ein Abschiebungshindernis auf unbestimmte Zeit galt (die §§ 51, 53 AuslG waren auf die Beigeladene von vornherein nicht anzuwenden). Das Berufungsurteil geht zwar davon aus, daß, selbst wenn im streitigen Zeitraum eine negative Entscheidung über die Aufenthaltsgenehmigung für die Beigeladene getroffen worden wäre, „eine Aussetzung der Abschiebung nach § 54 AuslG zu erlassen gewesen” wäre. Weder die von ihm festgestellten noch die aus seinen Akten ersichtlichen Tatsachen tragen jedoch diese Schlußfolgerung. Die Vorschrift des § 54 AuslG regelt eine generelle, im Ermessen der obersten Landesbehörde stehende Anordnung, unter bestimmten Voraussetzungen die Abschiebung von bestimmten Ausländergruppen für die Dauer von längstens sechs Monaten (Satz 1) oder (im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Inneren) länger (Satz 2) auszusetzen. Eine derartige Anordnung für eine Personengruppe, der die Beigeladene angehört, hat das LSG nicht festgestellt; in den Akten des Berufungsverfahrens findet sich lediglich der von der Klägerin in Kopie überreichte Schnellbrief des Niedersächsischen Innenministeriums vom 9. September 1994, mit dem eine im März 1994 (also außerhalb des streitigen Zeitraums) gemäß § 54 Satz 1 AuslG angeordnete Aussetzung der Abschiebung für bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Inneren nach § 54 Satz 2 AuslG bis zum 31. März 1995 verlängert wurde.

Ein Anlaß, den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zur Aufklärung der bis Dezember 1993 bestehenden Sachlage zurückzuweisen, besteht nicht. Denn bereits aus dem Vortrag der – für die Beigeladene auch als Ausländerbehörde zuständigen – Klägerin im Revisionsverfahren ergibt sich, daß im streitigen Zeitraum von vornherein kein Abschiebestopp nach § 54 AuslG angeordnet war; einen solchen hatte das Niedersächsische Innenministerium erstmals mit Erlaß vom 23. März 1994 – für zunächst sechs Monate – angeordnet. Zuvor wurden – ebenfalls nach dem Vortrag der Klägerin im Revisionsverfahren – die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina (lediglich) gemäß § 55 Abs 2 AuslG wegen der Unmöglichkeit ihrer Abschiebung auf dem Luft- oder Landwege geduldet. Hieraus aber kann in keinerlei Hinsicht abgeleitet werden, daß die Beigeladene gemäß § 1 Abs 3 BKGG in der hier anzuwendenden Fassung nach § 54 AuslG auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden konnte. Wie der Senat bereits zum Kindergeldanspruch für Ausländer nach der früheren Gesetzeslage betont hat, ist im Kindergeldverfahren das Ausländerrecht nicht eigenständig anzuwenden (s hierzu das Urteil des Senats vom 25. Juli 1995 – 10 RKg 13/93 –, ferner bereits BSG vom 15. Dezember 1992, BSGE 72, 8, 9 f sowie BSG vom 12. Februar 1992 – 10 RKg 26/90 – und vom 12. Dezember 1995 – 10 RKg 7/95).

Im Rahmen der Prüfung, ob ein Abschiebestopp nach § 1 Abs 3 BKGG iVm § 54 AuslG vorliegt, verbietet sich ein derartiges Vorgehen – wie es dem Berufungsgericht vorzuschweben scheint – schon deshalb, weil zum einen die hierin geregelte Aussetzung der Abschiebung bestimmter Ausländergruppen im Ermessen der obersten Landesbehörde steht „kann”). Diese bedarf zum anderen für jegliche länger als sechs Monate befristete Aussetzung (insbesondere also auch für die in § 1 Abs 3 BKGG vorausgesetzte Erstreckung „auf unbestimmte Zeit”) des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern (§ 54 Satz 2 AuslG). Die entsprechenden Ermessensentscheidungen jener Behörden aber können Kindergeldbehörden und Sozialgerichte nicht ersetzen. In Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 25. Juli 1995 – 10 RKg 13/93 – (Umdruck S 9, am Ende des ersten Abs) läßt der Senat nunmehr offen, ob Kindergeldbehörden (und Sozialgerichte) im Wege einer Prognose darüber zu befinden haben, ob die Abschiebung nach § 54 AuslG auf unbestimmte Zeit ausgesetzt ist, oder ob es auch für das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals „auf unbestimmte Zeit” auf die Entscheidungen der obersten Landesbehörden ankommt.

Schließlich kann auch offenbleiben, ob die hier anzuwendende Fassung des § 1 Abs 3 BKGG in jenen Fällen zu verfassungsrechtlichen Bedenken Anlaß gibt, in denen einkommensteuerpflichtige Ausländer auf das Kindergeld verzichten müssen, das – im Rahmen des „dualen Systems” – zusammen mit den Kinderfreibeträgen des Steuerrechts im Ergebnis für die verfassungsrechtlich geforderte Steuerfreistellung des Existenzminimums für Kinder (s BVerfG vom 29. März 1990, BVerfGE 82, 60, 78 f) sorgt. Denn die Beigeladene hatte im streitigen Zeitraum keine Einkommensteuer zu entrichten, sondern Leistungen der Sozialhilfe bezogen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172662

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