Leitsatz (redaktionell)

Das Gericht ist jedenfalls dann nicht vorschriftmäßig besetzt, wenn ein Landessozialrichter der mündlichen Verhandlung nicht in vollem Umfang gefolgt ist (zeitweiliges Einnicken).

 

Normenkette

SGG § 33 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Februar 1965 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Die Klägerin begehrt eine Witwenrente. Ihr Antrag wurde abgelehnt, weil der Tod ihres Ehemannes nicht auf schädigende Einwirkungen des Wehrdienstes oder der Gefangenschaft zurückzuführen sei. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Berufung in der Sitzung vom 23. Februar 1965 als unbegründet zurückgewiesen, an der Senatspräsident T, Landessozialgerichtsrat R und Sozialgerichtsrat G sowie als ehrenamtliche Richter die Landessozialrichter W R (R.) und W B teilgenommen haben. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Gegen das am 19. März 1965 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13. April 1965 Revision eingelegt. Sie beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

In der Revisionsbegründung vom 7. Mai 1965, die innerhalb der bis zum 19. Juni 1965 verlängerten Begründungsfrist am 10. Mai 1965 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen ist, rügt die Klägerin, daß der erkennende Senat des Berufungsgerichts nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei, weil der Landessozialrichter R. während der mündlichen Verhandlung zeitweise geschlafen habe und daher der Verhandlung nicht in vollem Umfange habe folgen können. Daraus ergebe sich insbesondere eine Verletzung des § 33 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), die einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des nach § 202 SGG entsprechend anwendbaren § 551 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) darstelle. Als Zeugen für das Schlafen des R. hat die Klägerin ihren Prozeßbevollmächtigten im Berufungsverfahren Assessor K und ihre Tochter Ursula B benannt, von der sie die eidesstattliche Versicherung vom 6. April 1965 ihrer Revisionsbegründung beigefügt hat.

Der Beklagte stellt keine Anträge.

Der Senat hat zu dem von der Klägerin gerügten Vorgang dienstliche Äußerungen der an der Verhandlung vom 23. Februar 1965 beteiligten Berufsrichter und eine Äußerung des Landessozialrichters R. eingeholt. Abschriften dieser Erklärungen, auf deren Inhalt Bezug genommen wird, sind den Beteiligten mitgeteilt worden. Die Klägerin hat in ihrer Stellungnahme dazu mit Schriftsatz vom 7. Dezember 1965 bestritten, daß R., wie von ihm behauptet, sich während der Verhandlung in ihrer Sache Notizen gemacht habe; sie hat für ihre gegenteilige Behauptung Assessor K sowie ihre Tochter als Zeugen benannt. Gleichzeitig hat sie eidesstattliche Versicherungen des Assessors K und ihrer Tochter U B vom 2. November 1965 vorgelegt, in denen diese mit Angabe von näheren Einzelheiten übereinstimmend versichern, daß nach ihren Beobachtungen R. während der Verhandlung wiederholt eingenickt und ruckartig aufgewacht sei, aber während dieser Verhandlung keine Notizen gemacht habe.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat und eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht geltend gemacht wird, ist die Revision nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150).

Die Revision ist statthaft. Die Klägerin rügt vor allem eine Verletzung des § 33 SGG durch eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Berufungsgerichts, weil in der mündlichen Verhandlung des erkennenden Senats des LSG vom 23. Februar 1965 der als ehrenamtlicher Richter mitwirkende Landessozialrichter R. während der Verhandlung mehrmals eingeschlafen sei und dieser daher nur zeitweise habe folgen können. Die Rüge der Klägerin greift durch.

Nach § 33 Satz 1 SGG werden die Senate des LSG in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei Landessozialrichtern tätig. Ein Gericht ist nicht nur dann nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn einer der mitwirkenden Richter während der Verhandlung den Sitzungssaal auch nur kurze Zeit verläßt (BAG 5, 170; BVerwG in DÖV 1961, 558), sondern auch dann, wenn ein Richter unfähig ist, der mündlichen Verhandlung zu folgen, sofern es sich nicht um unbedeutende Ablenkungen oder Ermüdungserscheinungen handelt (RGSt 60, 63; ferner BVerwG in DÖV 1961, 275). Die dazu vorgebrachte Behauptung der Klägerin, daß R. geschlafen habe, trifft zu. Die Tochter der Klägerin hat in der eidesstattlichen Versicherung vom 6. April 1965 erklärt, sie habe ihre Mutter zu dem festgesetzten Termin begleitet, sich von Anfang bis zum Schluß im Sitzungssaal aufgehalten, von ihrem Platz aus alle Richter gut übersehen können und dabei beobachtet, daß der in der Nähe der Protokollführerin auf der linken Seite sitzende Landessozialrichter während der Verhandlung über die Sache ihrer Mutter zwar nicht ständig geschlafen habe, aber wiederholt eingenickt und dann plötzlich ruckartig wieder aufgewacht sei, das letzte Mal sei dies geschehen, bevor sich das Gericht zur Beratung zurückgezogen habe. Senatspräsident T hat erklärt, der Termin in der Sache B sei am 23. Februar 1965 um 11 Uhr anberaumt gewesen, er könne jedoch, wie er schon dem 8. Senat des BSG zu der am gleichen Tage um 12 Uhr anberaumten Sache H gegen Land Berlin mitgeteilt habe, über das Verhalten von R. während der Verhandlung keine Angaben machen, da er seine Aufmerksamkeit den Ausführungen der Beteiligten, insbesondere des rechtskundigen Vertreters der Klägerin, habe widmen müssen und ihm daher nicht aufgefallen sei, daß der nicht unmittelbar neben ihm sitzende Beisitzer R. während der Verhandlung wiederholt zeitweise eingenickt sei. Sozialgerichtsrat G hat ebenfalls erklärt, er habe von seinem Platz links neben dem Vorsitzenden nicht wahrnehmen können, ob Landessozialrichter R. geschlafen habe oder eingenickt sei. Allein Landessozialgerichtsrat Rocca, der zwischen dem Vorsitzenden und Landessozialrichter R. saß, hat es für ausgeschlossen gehalten, daß dieser während der Sitzung eingeschlafen sein sollte, weil er ihn sonst angestoßen hätte. Landessozialrichter R. hat den von U B - der Tochter der Klägerin - in ihrer Erklärung vom 6. April 1965 geschilderten Vorgang bestritten, auf seine Äußerung gegenüber dem 8. Senat des BSG in der Sache H hingewiesen und ausgeführt, dieser Eindruck sei dadurch erweckt worden, daß er sich während der Sitzungen über den Gang der Verhandlung stenografische, nach der Sitzung jedoch vernichtete Notizen zu machen pflege, bei deren Niederschrift durch die leichte Neigung des Kopfes zur Tischplatte der Anschein hervorgerufen worden sei, er hätte die Augen geschlossen und sei eingenickt. Ursula B hat auch nach Kenntnis dieser Äußerung in ihrer letzten schriftlichen Erklärung vom 2. November 1965 ihre früheren Angaben nachdrücklich aufrechterhalten und dabei auch zu den Angaben von R. mit der Erklärung Stellung genommen, der betreffende Laienrichter habe sich während der Verhandlung der Sache ihrer Mutter keine Notizen gemacht; nach der Beobachtung, daß er schlafe, habe sie ihr besonderes Augenmerk auf ihn gerichtet und es wäre ihr bestimmt aufgefallen, wenn er etwas geschrieben hätte. Schließlich hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin im Berufungsverfahren in seiner eidesstattlichen Erklärung vom 2. November 1965 im einzelnen ausgeführt, er habe am 23. Februar 1965 in den nacheinander vom 14. Senat des LSG Berlin verhandelten, auf 11 und 12 Uhr anberaumten Sachen B und H jeweils die Klägerin vertreten, er habe in diesen Sachen genau gegenüber dem Landessozialrichter R. gestanden und von diesem günstigen Standort beobachtet, daß dieser während der Verhandlung in beiden Fällen wiederholt eingenickt und ruckartig aufgewacht sei. Er habe während der Verhandlung am Pult stehend den Richtertisch gut überblicken können, ihm sei auch bekannt, daß für jeden Richter Notizpapier und Bleistift bereitliege, nach seinen Beobachtungen aber habe Landessozialrichter R. jedenfalls während der Verhandlung der Sachen B und H keine Notizen gemacht. Hätte er dies beobachtet, so hätte er daraus geschlossen, daß R., um sich zu konzentrieren und sich nicht ablenken zu lassen, die Augen geschlossen habe. Das sei aber nach dessen ganzem Verhalten während der beiden Verhandlungen nicht der Fall gewesen. Die Erklärung des Assessors K und auch die der Tochter der Klägerin vom 2. November 1965 sind dem Beklagten mitgeteilt worden; dieser hat keine gegenteiligen Behauptungen aufgestellt.

Zur Klärung des zur Begründung der Rüge der Klägerin geschilderten Vorganges konnte sich der Senat nicht nur der von ihm eingeholten Äußerungen sondern auch der ihm vorgelegten und dem Beklagten mitgeteilten Urkunden mit den darin enthaltenen Erklärungen bedienen (§§ 106 Abs. 3 Nr. 1, 107 SGG; BSG in SozR SGG § 106 Nr. 4). Unter diesen führt insbesondere die mit zahlreichen Einzelheiten belegte Darstellung des Assessors K zu dem Schluß, daß R. der mündlichen Verhandlung nicht in vollem Umfange gefolgt ist. Aufgrund der eingehenden Schilderung des Verhaltens des R. in jener Sitzung sieht es der Senat für erwiesen an, daß R. wiederholt eingenickt und ruckartig wieder aufgewacht ist, so daß er an der Verhandlung nicht in der erforderlichen Weise teilgenommen hat. Die Darstellung des Assessors K erscheint deshalb glaubhaft, weil dieser seinen Platz im Sitzungssaal gegenüber dem Richtertisch und unmittelbar gegenüber dem Landessozialrichter R. hatte und dessen Verhalten genau beobachten konnte. Er hat - wie in dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 23. Juni 1966 - 8 RV 523/65 - dargelegt - die gleiche Beobachtung auch in der ebenfalls von ihm vertretenen, nach der Sache B verhandelten Sache H gemacht, die in jener Sache zur Aufhebung des Urteils des LSG und zur Zurückverweisung geführt hat. Dazu kommt, daß die Schilderung des Assessors K mit den Beobachtungen von Fräulein U B übereinstimmt, deren Glaubhaftigkeit nicht schon deshalb in Zweifel gezogen werden könnte, weil es sich um die Tochter der Klägerin handelt, und gegen deren Darstellung auch keine Umstände vorgetragen worden sind, die Zweifel rechtfertigen könnten.

Demgegenüber konnten die Erklärungen des Landessozialgerichtsrats R die Überzeugung des Senats, daß R. in jener Verhandlung des LSG wiederholt eingeschlafen war, nicht erschüttern. Der Senat zweifelt nicht, daß die Bekundungen des Landessozialgerichtsrats R seinen subjektiven Beobachtungen entsprechen. Jedoch behauptet dieser nicht, daß R. nicht geschlafen habe, sondern hält es nur deshalb für ausgeschlossen, daß R. geschlafen hat, weil er "dies sicher bemerkt hätte". Es kommt hinzu, daß Assessor K von seinem Platz aus die Richterbank und insbesondere das Verhalten des ihm gegenübersitzenden Landessozialrichters R. während der Verhandlung besser und genauer beobachten als Landessozialgerichtsrat R, der neben R. saß und den R. nur von der Seite beobachten und nicht ständig im Auge behalten konnte, weil er auch den Ausführungen der Beteiligten und den sonstigen Vorgängen in der Verhandlung seine Aufmerksamkeit widmen mußte. Unter diesen Umständen trug der Senat trotz der Bekundungen des Landessozialgerichtsrats R keine Bedenken anzunehmen, daß R. zeitweise der Verhandlung nicht in vollem Umfange gefolgt ist. In diesem Fall aber ist § 33 SGG verletzt.

Die Klägerin hat somit zutreffend eine Verletzung dieser Vorschrift gerügt. Die Revision ist aus diesem Grunde statthaft; sie ist auch begründet. Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts gehört zu den absoluten Revisionsgründen (§ 202 SGG in Verbindung mit § 551 Nr. 1 ZPO), die eine unwiderlegliche Vermutung begründen, daß das angefochtene Urteil auch auf der verletzten Verfahrensvorschrift beruht; dies führt in jedem Falle zur Aufhebung des fehlerhaften Urteils (vgl. BSG 4, 288; 18, 18, 22). Da eine ordnungsgemäße Entscheidung des LSG nicht vorliegt, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304940

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