Entscheidungsstichwort (Thema)

Unvorschriftsmäßige Besetzung eines LSG-Senats

 

Orientierungssatz

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG verbietet das Prinzip des Rechtsstaates, zu dessen besonderer Ausprägung die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit und die strengen Vorschriften der Gerichtsverfassung über die Besetzung der Spruchkörper gehören, die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Senat des LSG, ohne Rücksicht darauf, welche Gründe zu der gleichzeitigen Mitwirkung der zwei Hilfsrichter geführt haben (vgl BSG 1959-02-04 10 RV 663/58 = BSGE 9, 137).

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, § 33

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 12.08.1958)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 12. August 1958 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin, deren Ehemann Versorgungsbezüge nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. erhalten hatte, bekam nach dessen Tode Bestattungsgeld nur in Höhe vom 120,- DM, weil der Tod nicht auf eine Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zurückgeführt wurde. Aus dem gleichen Grunde wurde durch Bescheid vom 3. Mai 1955 auch der Antrag auf Hinterbliebenenrente abgelehnt. Der gegen beide Bescheide erhobene Widerspruch hatte keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) Schleswig sprach der Klägerin Hinterbliebenenversorgung sowie ein Bestattungsgeld in Höhe von 240,- DM zu. Das Landessozialgericht (LSG) wies durch Urteil vom 12. August 1958 die Berufung des Beklagten zurück. An dieser Entscheidung haben Landessozialgerichtsrat Dr. ... als Vorsitzender, Landesverwaltungsgerichtsrat M und Sozialgerichtsrat S als weitere Berufsrichter sowie zwei Landessozialrichter als ehrenamtliche Beisitzer mitgewirkt. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Der Beklagte hat gegen das am 1. Dezember 1958 zugestellte Urteil am 30. Dezember 1958 Revision eingelegt und diese am 25. Februar 1959 begründet, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 2. März 1959 verlängert worden war. Er hat beantragt,

das Urteil des 6. Senats des LSG Schleswig vom 12. August 1958 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte rügt als wesentlichen Verfahrensmangel vor allem die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, ferner Verstöße gegen die §§ 120 Abs. 1, 128 Abs. 2 SGG und hält die Revision außerdem nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG für statthaft. Er trägt vor, der 6. Senat des LSG Schleswig sei in der Sitzung am 12. August 1958 nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil an der Verhandlung und Entscheidung außer einem Landessozialgerichtsrat als Vorsitzenden zwei Hilfsrichter mitgewirkt hätten. Eine solche Besetzung gewährleiste nicht mehr die Stetigkeit und Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Der Beklagte macht ferner geltend, trotz ausdrücklichem Verlangen sei ihm die Möglichkeit, die Akten einzusehen, verweigert worden und bei der Entscheidung seien in der mündlichen Verhandlung überreichte Unterlagen der Klägerin verwertet worden, in die ihm keine Einsicht gewährt worden wäre.

Die Klägerin hat auf eine Erwiderung der Revisionsbegründung verzichtet, da sie die Rüge der fehlerhaften Besetzung des erkennenden Senats des LSG für berechtigt hält.

Der Senat hat eine Äußerung des Präsidenten des LSG Schleswig-Holstein über die Besetzung des 6. Senats dieses Gerichts am 12. August 1958 eingeholt. Danach waren Landesverwaltungsgerichtsrat M und Sozialgerichtsrat S, die an der Verhandlung am 12. August 1958 mitgewirkt haben, zu dieser Zeit als Hilfsrichter zum LSG abgeordnet. Der damalige Landesverwaltungsgerichtsrat M wurde auf einer Planstelle des Landesverwaltungsgerichts Schleswig, der Sozialgerichtsrat S auf einer Planstelle des Sozialgerichts Schleswig geführt.

Die gemäß den §§ 164, 166 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision ist vom LSG nicht zugelassen worden. Sie ist jedoch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; denn das Verfahren des LSG leidet, wie der Beklagte zutreffend gerügt hat, an einem wesentlichen Mangel.

Der 6. Senat des LSG Schleswig ist am 12. August 1958 nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil an dieser Sitzung ein Landesverwaltungsgerichtsrat und ein Sozialgerichtsrat als Hilfsrichter mitgewirkt haben (BSG, in ständiger Rechtsprechung vgl. BSG 9, 137 ff; BSG, Beschlüsse vom 15. September 1959 - 8 RV 301/59 - und vom 22. Januar 1960 - 11/8 RV 239/57 -; BSG, Urteile vom 23. März 1960 - 1 RA 153/59 und 1 RA 48/60 - sowie vom 26. Oktober 1961 - 10 RV 263/59; BSG 11, 22; 12, 298; Sozialrecht SGG § 33 Bl. Da 1 Nr. 4). Wie in diesen Entscheidungen ausgeführt worden ist, ist die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Senat des LSG nicht zulässig, weil dadurch die Einheitlichkeit und Güte der Rechtsprechung und vor allem der Grundsatz der Unabhängigkeit der Rechtspflege von Politik und Verwaltung gefährdet werde. Hilfsrichter sind mit der Rechtsprechung des höheren Gerichts, zu dem sie abgeordnet sind, in der Regel nicht so vertraut wie die ständigen Berufsrichter dieses Gerichts und insbesondere nicht so unabhängig wie die planmäßigen Richter. Das Hilfsrichter zum höheren Gericht nur abgeordnet sind und jederzeit mit der Aufhebung ihrer Abordnung rechnen müssen, ist es nicht ausgeschlossen, daß ihre richterliche Meinungsbildung dadurch beeinflußt wird. Andererseits pflegen die Rechtsuchenden einem Gericht, das mit Richtern besetzt ist, die auf diese Art von der Verwaltung abhängig sind, nur geringes Vertrauen entgegenzubringen. Das Prinzip des Rechtsstaates, zu dessen besonderer Ausprägung die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit und die strengen Vorschriften der Gerichtsverfassung über die Besetzung der Spruchkörper gehören, verbietet deshalb jedenfalls die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Senat des LSG, ohne Rücksicht darauf, welche Gründe zu der gleichzeitigen Mitwirkung der zwei Hilfsrichter geführt haben; denn die Stetigkeit und Güte der Rechtsprechung müssen in jedem Fall gewährleistet sein, über den der betreffende Spruchkörper zu entscheiden hat (vgl. BSG aaO). Der 6. Senat des LSG Schleswig ist mithin in der Sitzung am 12. August 1958 nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Das LSG hat dadurch insbesondere gegen § 33 SGG verstoßen. Da der Beklagte diesen Verfahrensmangel gerügt hat, ist die Revision schon aus diesem Grunde statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, ohne daß geprüft zu werden brauchte, ob sie auch noch aus den anderen, von dem Beklagten gerügten Verfahrensmängeln statthaft wäre.

Die Revision ist auch begründet, weil das angefochtene Urteil auf dem gerügten Verfahrensmangel beruht. Es ist möglich, daß das LSG bei ordnungsmäßiger Besetzung zu anderen Feststellungen und Schlußfolgerungen gekommen wäre. Das Urteil des LSG war daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Gleichzeitig war die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), weil die Feststellungen des LSG verfahrensrechtlich nicht einwandfrei zustande gekommen und deshalb für das Bundessozialgericht nicht bindend sind (§ 163 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2340730

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