Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsunfähigkeit eines vollschichtig Einsatzfähigen wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes

 

Orientierungssatz

Die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zur Erheblichkeit der Frage, ob für Teilzeitarbeitskräfte der Arbeitsmarkt offen oder verschlossen ist (vgl BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167, 175, BSG 1976-12-10 GS 2/75 = BSGE 43, 75, 79), kann grundsätzlich nicht auf Versicherte angewendet werden, die nach ihren gesundheitlichen Verhältnissen noch Vollzeittätigkeiten ausüben können (Anschluß BSG 1977-05-27 5 RJ 28/76 = BSGE 44, 39). Es können aber für Vollzeittätigkeiten, die von Tarifverträgen erfaßt sind, Ausnahmen in Betracht kommen, wenn der Versicherte nach seinem Gesundheitszustand zwar auch noch Vollzeittätigkeiten verrichten kann, aber nicht in der Lage ist, diese unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten, oder wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, Vollzeitarbeitsplätze von seiner Wohnung aus aufzusuchen (vgl BSG 1977-09-21 4 RJ 131/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 22).

 

Normenkette

RVO § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 28.06.1979; Aktenzeichen L 1 J 8/78)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 02.02.1978; Aktenzeichen S 15 J 66/75)

 

Tatbestand

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit.

Mit Bescheid vom 1. April 1975 lehnte es die Beklagte ab, dem 1927 geborenen, linksseitig unterschenkelamputierten, bis 1974 überwiegend als Hilfsarbeiter tätig gewesenen Kläger Versichertenrente zu gewähren: Nach den ärztlichen Gutachten könne der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vollschichtig arbeiten.

Das Sozialgericht (SG) hat nach weiterer ärztlicher Untersuchung und Begutachtung des Klägers die Klage abgewiesen; der Kläger könne noch leichte Arbeiten im Sitzen verrichten (Urteil vom 2. Februar 1978). Mit dem angegriffenen Urteil vom 28. Juni 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) das Ersturteil geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Februar 1976 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Im übrigen hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In der Begründung der Entscheidung heißt es, der zusätzlich an wesentlichen Verschleißerscheinungen des Bewegungs- und Stützapparats leidende Kläger sei erwerbsunfähig, weil sich das LSG nicht überzeugen könne, daß der Kläger tatsächlich noch leichte Arbeiten verrichten könne und weil ihm der Arbeitsmarkt verschlossen sei. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) schließe im Einzelfall nicht aus, daß ein vollschichtig Einsatzfähiger wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes berufs- oder erwerbsunfähig sei. Nach einer Auskunft des Landesarbeitsamtes Rheinland-Pfalz - Saarland sei der Arbeitsmarkt verschlossen.

Mit der gegenwärtigen Revision bekämpft die Beklagte dieses Urteil und führt aus, das LSG habe § 1247 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unzutreffend interpretiert. Aus den Gutachten der medizinischen Sachverständigen könne nicht der Schluß gezogen werden, daß der Arbeitsmarkt für den Kläger unbedingt verschlossen sei. Da der Kläger unstreitig noch vollschichtig einsetzbar sei, könnten die Grundsätze über den verschlossenen Arbeitsmarkt nicht herangezogen werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das

Saarland vom 28. Juni 1979 aufzuheben und die

Berufung des Klägers gegen das Urteil des

Sozialgerichts vom 2. Februar 1978

zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision kostenfällig zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, er sei - was immer streitig gewesen sei - keineswegs vollschichtig einsetzbar. An nichtmedizinische Annahmen der ärztlichen Gutachter sei das LSG nicht gebunden. Nach der Auskunft des Landesarbeitsamtes bestehe keine Möglichkeit, ihn in das Erwerbsleben einzugliedern.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Zutreffend rügt die Beklagte, daß das LSG im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gesichtspunkt der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes § 1247 Abs 2 RVO verkannt habe.

Nach der Entscheidung des 5. Senats des BSG vom 27. Mai 1977 in BSGE 44, 39 (= SozR 2200 § 1246 Nr 19) kann die zu §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 RVO ergangene Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zur Erheblichkeit der Frage, ob für Teilzeitarbeitskräfte der Arbeitsmarkt offen oder verschlossen ist (BSGE 30, 167, 175 = SozR Nr 79 zu § 1246 RVO; BSGE 30, 192, 199 = SozR Nr 20 zu 1247; BSGE 43, 75, 79 = SozR 2200 § 1246 Nr 13), grundsätzlich nicht auf Versicherte angewendet werden, die nach ihren gesundheitlichen Verhältnissen noch Vollzeittätigkeiten ausüben können; diese Rechtsprechung betreffe nur Teilzeitarbeitskräfte. Gleichwohl könnten für Vollzeittätigkeiten, die von Tarifverträgen erfaßt sind, Ausnahmen in Betracht kommen, wenn der Versicherte nach seinem Gesundheitszustand zwar auch noch Vollzeittätigkeiten verrichten könne, aber nicht in der Lage sei, diese unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten, oder wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei, Vollzeitarbeitsplätze von seiner Wohnung aus aufzusuchen. Dieser Rechtsprechung hat sich der 4. Senat des BSG voll angeschlossen (vgl SozR 2200 § 1246 Nrn 22 und 33 mwN). Der erkennende Senat tritt ihr hiermit ebenfalls bei.

Das LSG hat im angefochtenen Urteil nichts zu der Unfähigkeit des Klägers festgestellt, eine ihm mögliche Vollzeittätigkeit noch zu betriebsüblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten oder Vollzeitarbeitsplätze von seiner Wohnung aus aufzusuchen.

Das Gericht glaubt, daß sich für den Kläger die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes aus der Auskunft des Landesarbeitsamtes Rheinland-Pfalz - Saarland ergebe. In dieser Auskunft ist die Meinung vertreten, daß bezüglich einer Arbeitsvermittlung des Klägers aufgrund der vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen und des fortgeschrittenen Lebensalters so gut wie keine Möglichkeiten bestünden, ihn wieder in das Erwerbsleben "einzugliedern". Das Landesarbeitsamt hat sich mithin zu der Frage, ob der Kläger unter betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr arbeiten könne, ebensowenig wie das LSG geäußert.

Mangels der aufgrund der gesicherten Rechtsprechung des BSG erforderlichen Feststellungen kann der Senat nicht entscheiden, ob der Kläger trotz der gesundheitlichen Fähigkeit, noch vollschichtig zu arbeiten, erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs 2 RVO ist. Zwar hat das LSG gegen die Fähigkeit des Klägers zu Vollzeittätigkeiten mehrfach "Bedenken" angemeldet und sich von entsprechenden Annahmen medizinischer Sachverständiger als "nicht überzeugt" bezeichnet. Gleichwohl hat das Berufungsgericht davon abgesehen festzustellen, daß der Kläger nicht mehr vollschichtig einsatzfähig sei; es hat vielmehr den Kläger als den konkreten Einzelfall eines vollschichtig Einsatzfähigen bezeichnet, der wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes erwerbsunfähig sei. Von der vollschichtigen Einsatzfähigkeit des Klägers muß der Senat daher ausgehen. Dann aber hätte das Berufungsgericht die vorzitierte höchstrichterliche Rechtsprechung zu beachten und die hierzu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen gehabt.

Bei diesen Gegebenheiten braucht der Senat der Behauptung der Beklagten, das LSG habe aus den Gutachten der medizinischen Sachverständigen falsche Schlüsse gezogen, nicht nachzugehen, zumal das LSG nach § 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in seiner Beweiswürdigung frei ist, der Senat an dessen tatsächliche Feststellungen nach § 163 SGG gebunden ist und die Beklagte keine Verfahrensrügen in der Form des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG erhoben hat.

Der Kostenausspruch bleibt der Endentscheidung in der Sache vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657903

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