Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung. Versäumung der Antragsfrist nach ArVNG Art 2 § 51a Abs 3 S 1. Nachsichtgewährung. Treu und Glauben. Begrenzung der Nachholungsfrist für versäumte Handlungen

 

Orientierungssatz

1. Bei Versäumung einer gesetzlichen Ausschlußfrist kann auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben (vgl BSG 1979-02-01 12 RK 33/77 = BSGE 48, 12) Nachsicht in der Regel dann nicht mehr gewährt werden, wenn die versäumte Rechtshandlung nicht innerhalb eines Jahres nach Fristablauf nachgeholt worden ist (vgl BSG 1981-10-28 12 RK 67/79 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 49).

2. Die Möglichkeit, eine versäumte Handlung nachzuholen ist von Ausnahmen abgesehen (so zB in Fällen höherer Gewalt und allgemein insbesondere im Strafrecht und im Ordnungswidrigkeitenrecht - so § 44 der StPO und § 52 OWiG) auf ein Jahr begrenzt (vgl BSG 1981-10-28 12 RK 67/79 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 49).

3. SGB 10 § 27 ist nicht nur als eine gesetzliche Konkretisierung schon vorher anerkannter Rechtsgrundsätze anzusehen; vielmehr handelt es sich um eine Neuregelung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die - soweit sie materiell-rechtliche Ausschlußfrist betreffen sollte - nicht lediglich eine gefestigte Rechtsauffassung festschreibt, sondern eine bisher überwiegend anders beantwortete Rechtsfrage neu und abweichend regelt (vgl BSG 1979-02-01 12 RK 33/77 = BSGE 48, 12, 16).

 

Normenkette

AnVNG Art 2 § 49a Abs 3 S 1 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 3 S 1 Fassung: 1972-10-16; SGB 10 § 27 Fassung: 1980-08-18; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 20.08.1979; Aktenzeichen L 9 J 542/79)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 19.02.1979; Aktenzeichen S 6 J 142/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, freiwillig Beiträge nach Art 2 § 51a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nachzuentrichten.

Die Klägerin bezieht von der Beklagten seit 1971 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit Schreiben vom 15. September 1977 übersandte ihr ehemaliger Arbeitgeber K M der Beklagten die Durchschrift eines an das "Rentenamt Stuttgart" gerichteten Schreibens der Klägerin vom 16. Dezember 1975 folgenden Inhalts: "Ich beantrage, für alle Zeitlücken in meinen zurückliegenden Beschäftigungsverhältnissen Beiträge nachzuzahlen und bitte daher um gelegentliche Mitteilung, in welcher Höhe ich insgesamt Beiträge nachzahlen kann". Mit Bescheid vom 21. Oktober 1977 lehnte die Beklagte die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 51a ArVNG mit der Begründung ab, daß ein entsprechender Antrag erst nach dem 31. Dezember 1975 eingegangen sei. Dem Widerspruch, den die Klägerin damit begründete, daß ihr Antrag vom 15. Dezember 1975 mit einem Begleitschreiben versehen am 21. Dezember 1975 über ihren Arbeitgeber als einfacher Brief weitergeleitet worden sei, half die Beklagte nicht ab (Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 1978). Klage und Berufung der Klägerin sind ebenfalls ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- Stuttgart vom 19. Februar 1979 und des Landessozialgerichts -LSG- Baden-Württemberg vom 20. August 1979). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Nach  rt 2 § 51a Abs 3 Satz 1 ArVNG sei ein Antrag auf Beitragsnachentrichtung bis zum 31. Dezember 1975 zu stellen. Ein solcher Antrag sei der Beklagten nicht innerhalb dieser Frist zugegangen. Auf den Zugang bei der Beklagten komme es jedoch entscheidend an, denn nach dem auf Willenserklärungen des öffentlichen Rechts entsprechend anzuwendenden § 130 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) werde die einem anderen - auch einer Behörde - gegenüber abzugebende Willenserklärung erst in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie ihm zugeht. Das Übermittlungsrisiko bei der Postbeförderung trage der Absendende. Auf den rechtzeitigen Einwurf in einen Postbriefkasten komme es deshalb nicht an. Wegen der Fristversäumnis sei keine Wiedereinsetzung zugelassen. Die hier zu beachtende Frist sei eine Ausschlußfrist, bei der es um die Ausübung eines Gestaltungsrechts gehe und bei der ihrem Wesen nach eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht komme. Die Beklagte habe sich auch nicht rechtsmißbräuchlich auf die Ausschlußfrist berufen. Zum einen habe sie die Fristwahrung nicht vorsätzlich vereitelt. Zum anderen sei die Ausschlußfrist nicht nur für die Klägerin, sondern auch für die Beklagte von erheblicher Bedeutung. Durch die Ausschlußfrist solle der Nachteil begrenzt werden, der der Versichertengemeinschaft dadurch entstehe, daß die Nachentrichtungsmöglichkeit nach Art 2 § 51a ArVNG die sonst geltenden Grundsätze der Nachentrichtung durchbreche und deshalb aus Beiträgen, die der Solidargemeinschaft nicht in der üblichen Weise zur Verfügung gestanden hätten, Leistungen erbracht werden müßten.

Mit der - vom Senat mit Beschluß vom 27. März 1980 zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Sie macht geltend, daß die Antragsschrift noch so rechtzeitig zur Post gegeben worden sei, daß sie der Beklagten unter Berücksichtigung der gewöhnlichen Postlaufzeiten noch am 31. Dezember 1975 hätte zugehen müssen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sei das Übermittlungsrisiko bei der Postbeförderung nicht vom Bürger zu tragen. Hiermit sei es nicht vereinbar, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Ausschlußfrist nur in den ausdrücklich durch Gesetz vorgesehenen Fällen für statthaft zu erklären. Die Rechtsprechung des BVerfG, die frühere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und die gesetzliche Ausgestaltung in § 32 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) sowie des § 110 der Abgabenordnung (AO) müßten Anwendung für das Verfahren der Sozialversicherungsträger finden. Der Klägerin dürfe demnach eine Fristversäumnis nicht angelastet werden. Die Berufung auf die Versäumung der gesetzlichen Ausschlußfrist sei auch rechtsmißbräuchlich, weil es der Klägerin durch das Versäumen der Antragsfrist nicht möglich sei, durch Nachentrichten von Beiträgen ihre Rente in erheblichem Umfange günstiger zu gestalten. Damit stünden für sie erhebliche, langfristig wirksame Interessen auf dem Spiel, wogegen die versäumte Frist für die Beklagte von erheblich geringerer Bedeutung sei.

Die Klägerin beantragt,

die Urteil des LSG und des SG sowie den Bescheid

der Beklagten vom 21. Oktober 1977 in der Gestalt

des Widerspruchsbescheides vom 13. Januar 1978 aufzuheben

und die Beklagte zu verpflichten, ihr die Nachentrichtung

von Beiträgen nach Art 2 § 51a ArVNG zu gestatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß die Klägerin nicht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 51a ArVNG berechtigt ist.

Mit dem LSG ist davon auszugehen, daß ein Nachentrichtungsantrag bis zum Ablauf des 31. Dezember 1975 bei der Beklagten nicht eingegangen ist und die Klägerin deshalb die gesetzliche Ausschlußfrist des Art 2 § 51a Abs 3 Satz 1 ArVNG versäumt hat. Dem LSG ist auch darin beizupflichten, daß gegen die Versäumung dieser Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann. Der Fall bietet auch keine Möglichkeit, unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben gegen die Fristversäumung Nachsicht zu gewähren.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht, weil es sich bei der versäumten Frist um eine Ausschlußfrist des materiellen Rechts handelt, für die das hier noch anzuwendende frühere Recht Wiedereinsetzungsmöglichkeiten nicht vorsah. Eine Anwendung von § 27 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - vom 18. August 1980 (SGB X) scheidet aus, weil diese Vorschrift erst 1981 in Kraft getreten ist. Sie ist auch nicht nur als eine gesetzliche Konkretisierung schon vorher anerkannter Rechtsgrundsätze anzusehen; vielmehr handelt es sich - ebenso wie bei § 32 VwVfG und § 110 AO 1977 - um eine Neuregelung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die - soweit sie materiell-rechtliche Ausschlußfristen betreffen sollte - nicht lediglich eine gefestigte Rechtsauffassung festschreibt, sondern eine bisher überwiegend anders beantwortete Rechtsfrage neu und abweichend regelt (vgl dazu Urteil des erkennenden Senats vom 1. Februar 1979 - 12 RK 33/77 - BSGE 48, 12, 16). Auch eine Nachsichtgewährung unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben kann nicht in Betracht kommen. Sie ist regelmäßig nur möglich, wenn die versäumte Rechtshandlung innerhalb eines Jahres nachgeholt worden ist (Urteil des Senats vom 28. Oktober 1981 - 12 RK 67/79 -).

Der Gesetzgeber hat in einer Reihe von Vorschriften zu erkennen gegeben, daß bei einer Abwägung zwischen dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit, das in gesetzlichen Fristen zum Ausdruck kommt, und dem Individualinteresse, dessen angemessene Berücksichtigung im Einzelfall eine Durchbrechung dieser Fristen erfordern kann, im allgemeinen eine Grenze von einem Jahr gilt. Hinzuweisen ist hier auf die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 234 Abs 3 der Zivilprozeßordnung, § 60 Abs 3 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-, § 67 Abs 3 SGG, § 56 Abs 3 der Finanzgerichtsordnung, § 26 Abs 4 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz, § 32 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, § 27 SGB X, § 110 Abs 3 der Abgabenordnung 1977) und die Vorschriften über die Verlängerung von Verfahrensfristen bei unterbliebener oder falscher Rechtsmittelbelehrung (zB § 66 Abs 2 SGG, § 58 Abs 2 VwGO). Aus allen diesen Vorschriften ergibt sich, daß die Möglichkeit, eine versäumte Handlung nachzuholen, von Ausnahmen abgesehen (so zB in Fällen höherer Gewalt und allgemein insbesondere im Strafrecht und im Ordnungswidrigkeitenrecht: s § 44 der Strafprozeßordnung und § 52 des Ordnungswidrigkeitengesetzes), auf ein Jahr begrenzt ist. Wenn der Gesetzgeber aber so deutlich in einer Vielzahl von Vorschriften eine zeitliche Grenze von einem Jahr für die Nachholung einer versäumten Handlung gezogen hat, so hat er damit zugleich einen Hinweis gegeben, welches Gewicht dem Ablauf eines Jahres bei der Abwägung zwischen Rechtssicherheit einerseits und Individualinteresse andererseits beizumessen ist; dieser Hinweis kann auch im Rahmen einer Nachsichtgewährung nach Treu und Glauben nicht unbeachtet bleiben. Mit einer solchen zeitlichen Grenzziehung werden, jedenfalls in Fällen wie dem hier zu entscheidenden, auch die Schwierigkeiten, denen sich der Bürger im Umgang mit dem Recht und mit der Verwaltung häufig ausgesetzt sieht, ausreichend berücksichtigt; denn im Laufe eines Jahres besteht in aller Regel die Möglichkeit, die Hindernisse zu beseitigen, die eine Fristversäumnis bewirkt haben. Auch einem rechtskundigen Bürger wird es im allgemeinen durchaus möglich und zumutbar sein, innerhalb eines Jahres sich darum zu kümmern, warum sein Antrag bisher nicht entschieden worden ist und ob er überhaupt bei der Behörde angekommen ist. Besondere Behinderungen oder Interessen der Klägerin, die so schwer wiegen, daß ihretwegen das Bedürfnis nach Rechtssicherheit ausnahmsweise noch weiter zurückzustellen wäre, sind hier nicht ersichtlich.

Die Klägerin hat nicht innerhalb eines Jahres den versäumten Antrag nachgeholt. Sie hat nicht schon im Jahre 1976, sondern erst im September 1977 bei der Beklagten nachfragen lassen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, daß sie durch höhere Gewalt gehindert gewesen wäre, sich vorher um den Verbleib ihres Antrags zu kümmern und zu klären, warum sie auf ihn keine Antwort erhalten hatte. Die Revision konnte deshalb keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659348

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge