Orientierungssatz

Zur Frage, ob eine Einrichtung ein Kindergarten iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a ist:

Der ständige Heimaufenthalt von Kindern im Vorschulalter in einem "Vollheim" erfordert es zwar auch, daß die Kinder "bewahrt", uU auch pflegerisch betreut werden. Das schließt aber nicht von vornherein aus, daß eine Einrichtung zur ständigen Aufnahme von drei- bis sechsjährigen Kindern nach ihrer gesamten Ausgestaltung die für einen Kindergarten iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a erforderlichen Merkmale aufweist. Maßgebend sind die Umstände des einzelnen Falles, aus denen sich ergeben kann, daß nicht das Bewahren und Betreuen, sondern die Erziehung - insbesondere eine vorschulische Erziehung - der Kinder den Charakter der Einrichtung bestimmen. Um dies annehmen zu können, bedarf es ua fachlich qualifizierten Personals sowie gewisser räumlicher Voraussetzungen und einer bestimmten materiellen Grundausstattung.

Ebenso setzen die einem Kindergarten eigentümliche Erziehung und insbesondere die vorschulische Erziehung voraus, daß die Fachkräfte in geeigneten Einrichtungen eine gewisse Mindestzeit für die Aufgaben der angestrebten Erziehung der Kinder zur Verfügung stehen.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. a Fassung: 1971-03-18

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.07.1975; Aktenzeichen L 2 U 98/74)

SG Nürnberg (Entscheidung vom 18.01.1974; Aktenzeichen S 2 U 213/73)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Juli 1975 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist der Ersatzanspruch der Klägerin wegen der von ihr übernommenen Kosten für eine stationäre Behandlung des 1967 geborenen Kindes Michael D (D.), das sich am 1. September 1972 im J-Heim der I M in W einen Bruch des rechten Unterarms zugezogen hat. Die Klägerin ist der Ansicht, das Kind D. sei als Besucher eines Kindergartens versichert gewesen, der Beklagte sei deshalb zum Ersatz verpflichtet (§§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a, 1531 ff der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der Beklagte lehnte den Ersatzanspruch ab, da Besucher von Einrichtungen, die nicht der vorschulischen Erziehung, sondern der Betreuung von Kindern dienten, keine Kindergärten im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO seien.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Nürnberg den Beklagten verurteilt, der Klägerin 2.182,40 DM zu erstatten; wegen eines im Berufungs- und Revisionsverfahrens nicht mehr streitigen Anspruchs hat es die Klage abgewiesen. Das SG ist der Auffassung, die Bildungs- und Erziehungsfunktion eines Kindergartens sei bei dem Unfall, der sich während einer Spielstunde unter Aufsicht einer Kindergärtnerin ereignet habe, zumindest im weiteren Sinne in Erscheinung getreten. Die Spielstunde im Kindergarten entspreche der Turnstunde schulpflichtiger Kinder. Der Versicherungsschutz entfalle nicht dadurch, daß das verletzte Kind ganztags in einem Vollheim und nicht in einem Tageskindergarten untergebracht gewesen sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 16. Juli 1975). Zur Begründung hat es ausgeführt: Unzutreffend sei zwar die Ansicht des Beklagten, nur der ambulante Kindergartenbesuch sei vom Versicherungsschutz erfaßt, ganztags (stationär) untergebrachte Kinder seien dagegen nicht versichert, weil nicht die vorschulische Erziehung, sondern die physische und psychische Betreuung im Vordergrund stünden. Dem sei entgegenzuhalten, daß auch Internatsschüler bei den mit dem Schulbesuch zusammenhängenden Vorrichtungen nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO versichert seien. Beizupflichten sei dem Beklagten jedoch darin, daß nicht die vorschulische Erziehung, sondern die physische und psychische Betreuung bei den ganztags in Heimen und ähnlichen Anstalten untergebrachten, noch nicht schulpflichtigen Kindern weitaus im Vordergrund stehe. Bei Internatsschülern lasse sich in aller Regel scharf abgrenzen, was der Schulausbildung und was der eigenwirtschaftlichen Freizeitgestaltung zuzurechnen sei. Bei noch nicht schulpflichtigen Kindern in Vollheimen möge zwar die vorschulische Erziehung in den einzelnen Phasen des Tagesablaufs eine gewisse Rolle spielen. Sie trete indessen gegenüber der physischen und psychischen Betreuung entscheidend zurück und sei nur ein Teil dieser im Vordergrund stehenden Betreuung. Kindergärten seien nur unter dem Aspekt ihrer elementaren Bildungs- und Erziehungsfunktion im Rahmen eines integrierten Bildungssystems in den Versicherungsschutz einbezogen worden. Erziehungseinrichtungen, die diesem System nicht zugehörten, auch wenn sie das System ergänzten, seien von § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO nicht erfaßt. Es brauche deshalb nicht geprüft zu werden, aus welchem Grund das Kind D. sich im Vollheim aufgehalten habe und in welchem Grade bei ihm physische und psychische Störungen vorhanden seien. Allein die Tatsache, daß die Unterbringung in einem Vollheim erforderlich gewesen sei, reiche aus, den Heimaufenthalt nicht als Besuch eines Kindergartens anzusehen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Die vom LSG vertretene Ansicht führe dazu, daß Kinder aus sozial schwachen Schichten, die - wie D. - nicht aus physischen oder psychischen Gründen, sondern wegen der erzieherischen Vernachlässigung durch die Eltern in einem Heim betreut werden müßten, vom Versicherungsschutz ausgeschlossen seien, obwohl sie, wenn auch in die Heimbetreuung integriert, in derselben Weise vorschulisch erzogen würden wie die ambulant in Kindergärten betreuten Kinder. Jedenfalls in der Spielstunde, in der die vorschulische Erziehung im weiteren Sinne in Erscheinung getreten sei, habe D. unter Versicherungsschutz gestanden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die vom LSG bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen zur Entscheidung über den von der Klägerin erhobenen Ersatzanspruch (§§ 1531 ff RVO) nicht aus.

Nach § 1531 RVO kann ein Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit unterstützt, für die er einen Anspruch nach der RVO hatte oder hat, bis zur Höhe dieses Anspruchs nach den §§ 1532 bis 1537 RVO Ersatz beanspruchen. Das LSG hat im angefochtenen Urteil keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, denen entnommen werden kann, ob die Klägerin als Träger der Sozialhilfe eine Unterstützung aufgrund gesetzlicher Pflicht geleistet hat und das Kind Michael D. hilfsbedürftig im Sinne des § 1531 RVO gewesen ist. Eine Zurückverweisung der Sache an das LSG zur Feststellung dieser Anspruchsvoraussetzungen würde sich allerdings erübrigen, wenn die Klage - wie das LSG angenommen hat - schon daran scheitert, daß dem Kind D. für die Zeit, für die eine Unterstützung gewährt worden ist, kein Anspruch nach der RVO zustand. Auch dies läßt sich jedoch aufgrund der bisher vom LSG getroffenen Feststellungen nicht beurteilen.

Der Anspruch der Klägerin auf Ersatz der von ihr für das Kind D. aufgewendeten Kosten der stationären Behandlung hängt davon ab, ob das Kind nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO gegen Arbeitsunfall versichert war und der Beklagte der für die Entschädigung des Verletzten zuständige Versicherungsträger ist.

Nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO sind Kinder während des Besuchs von Kindergärten versichert. Für den Versicherungsschutz während des Besuchs von Kindergärten kommt es nicht darauf an, ob die Einrichtung den Namen Kindergarten trägt oder eine andere Bezeichnung führt. Entscheidend ist vielmehr, ob sie ein Kindergarten im Sinne dieser Vorschrift ist (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juli 1977 - 2 RU 5/77 -).

§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO idF des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) ist auf Vorschlag des Bundesrates in das Gesetz aufgenommen worden. In der Begründung hat der Bundesrat (s. BT-Drucks VI/1333, S. 7) ausgeführt, die Reform und der Ausbau der Vorschulerziehung sei als erste Stufe des Bildungswesens eine vordringliche bildungspolitische Aufgabe. Die Kindergartenstufe solle als Elementarbereich in das Bildungssystem einbezogen werden. Aus Gründen der Gleichbehandlung mit den Schülern seien auch Kinder, die einen Kindergarten besuchen, in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einzubeziehen. Auch in der weiteren parlamentarischen Beratung des Gesetzentwurfs ist die Ausdehnung des Versicherungsschutzes mit der Bedeutung der vorschulischen Erziehung begründet worden (vgl Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung - BT-Drucks VI/1644, S. 1 unter Bezugnahme auf die Begründung des Bundesrates). Ausschlaggebend für die Ausdehnung des Unfallversicherungsschutzes auf Kinder während des Besuchs von Kindergärten war danach die vorschulische Erziehung, die in der Regel drei- bis sechsjährige Kinder in Kindergärten erhalten.

Welche Merkmale im einzelnen die vorschulische Erziehung in einem Kindergarten kennzeichnen und in welchem Umfang die vorschulische Erziehung den regelmäßigen Tagesablauf eines Kindergartens bestimmen muß, bedarf aus Anlaß dieses Falles keiner abschließenden Entscheidung. Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 28. Juli 1977 (2 RU 5/77) ausgeführt hat, fallen nach den Zielvorstellungen des Gesetzes jedenfalls nicht unter den Kindergartenbegriff des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO alle Kindergarteneinrichtungen, die vom durchschnittlichen Alter der aufzunehmenden Kinder her keine vorschulische Erziehung im Sinne der obigen Ausführungen bieten können. Es scheiden daher Einrichtungen für Säuglinge und Kleinkinder (zB sog Kinderkrippen) ebenso aus wie Betreuungsstätten für schulpflichtige Kinder (zB sog Kinderhorte).

Den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen, nach denen das damals 5-jährige Kind D in einem "Vollheim" untergebracht war, ist nicht zu entnehmen, daß es schon aus diesem Grund an den Begriffsmerkmalen eines Kindergartens fehlt. Ob eine Einrichtung ein Kindergarten im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO ist, richtet sich, wie der Senat in seinem Urteil vom 28. Juli 1977 (2 RU 5/77) dargelegt hat, nicht streng nach den einzelnen Kriterien, sondern unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles nach dem Gesamtbild der Einrichtung. Aus der Bezeichnung Vollheim ist zwar zu schließen, daß Kinder - zumindest auch - zur ständigen Betreuung aufgenommen werden, ohne daß allerdings daraus auch der Anlaß für die Aufnahme der Kinder ersichtlich ist. Ob es sich zB um ein Waisenheim, um ein Heim zur Betreuung körperlich oder geistig behinderter Kinder oder um eine Einrichtung handelt, in der Kinder aus unterschiedlichen Gründen aufgenommen werden, hat das LSG nicht festgestellt. Auch darüber, für welche Altersgruppen das Heim eingerichtet ist, enthält das angefochtene Urteil keine Feststellungen. Ebenso steht nicht fest, ob das Heim ausschließlich als Vollheim betrieben wird oder ob daneben eine Einrichtung besteht, in der auch nicht ständig im Heim untergebrachte Kinder vorschulisch erzogen werden. Der ständige Heimaufenthalt von Kindern im Vorschulalter, die häufig in besonderen Kindergartengruppen zusammengefaßt sind, erfordert es zwar auch, daß die Kinder "bewahrt", uU auch pflegerisch betreut werden. Das schließt aber entgegen der Ansicht des Beklagten (s. auch Vollmar, Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten, - in Fortbildung und Praxis, Schriftenreihe der Zeitschrift Wege zur Sozialversicherung, 2. Aufl, 1975, S. 16) nicht von vornherein aus, daß eine Einrichtung zur ständigen Aufnahme von drei- bis sechsjährigen Kindern nach ihrer gesamten Ausgestaltung die für einen Kindergarten im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO erforderlichen Merkmale aufweist. Maßgebend sind die Umstände des einzelnen Falles, aus denen sich ergeben kann, daß nicht das Bewahren und Betreuen, sondern die Erziehung - insbesondere eine vorschulische Erziehung - der Kinder den Charakter der Einrichtung bestimmen. Um dies annehmen zu können, bedarf es ua fachlich qualifizierten Personals sowie gewisser räumlicher Voraussetzungen und einer bestimmten materiellen Grundausstattung (ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl, Bd II S. 474 q III; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, Anm 84 zu § 539; Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juli 1977 - 2 RU 5/77 - mit weiteren Nachweisen). Ebenso setzen die einem Kindergarten eigentümliche Erziehung und insbesondere die vorschulische Erziehung voraus, daß die Fachkräfte in geeigneten Einrichtungen eine gewisse Mindestzeit für die Aufgaben der angestrebten Erziehung der Kinder zur Verfügung stehen. Diese Abgrenzungskriterien sind auch den in einzelnen Bundesländern ergangenen Kindergartengesetzen und den Verwaltungsvorschriften zu entnehmen, deren Zielsetzung im übrigen allerdings nicht stets übereinstimmt und die auch nicht einheitliche Voraussetzungen an die Qualifikation der in Kindergärten tätigen Fachkräfte enthalten (vgl für Bayern: Kindergartengesetz vom 25. Juli 1972 - GVBl 297; Baden-Württemberg: 2. Ges. zur Ausführung des Ges. für Jugendwohlfahrt vom 29. Februar 1972 - GVBl 61; Nordrhein-Westfalen: 2. Ges. zur Ausführung des Ges. für Jugendwohlfahrt vom 21. Dezember 1971 - GVBl 534; Rheinland-Pfalz: 2. Ges. zur Ausführung des Ges. für Jugendwohlfahrt - Kindergartengesetz - vom 15. Juli 1970 - GVBl 237; Saarland: Ges. Nr 969 zur Förderung der vorschulischen Erziehung vom 19. Mai 1973 - AmtsBl 373; Hessen: Kindergartengesetz vom 4. September 1974 - GVBl I 399, einstweilen außer Kraft gesetzt durch Ges. vom 15. Dezember 1975 - GVBl 303).

Da das Bundessozialgericht die zur Entscheidung über den erhobenen Anspruch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654133

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