Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflicht zur wirtschaftlichen Erbringung kassenärztlicher Leistungen

 

Leitsatz (amtlich)

Das Wirtschaftlichkeitsgebot gilt auch bei der Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nach Nr 14a BMÄ '78. Bei einer entsprechenden Wirtschaftlichkeitsprüfung ist die Methode des statistischen Vergleichs zulässig.

 

Orientierungssatz

Die Pflicht des Kassenarztes zur wirtschaftlichen Erbringung seiner Leistungen ist nicht begrenzt auf Behandlungs- und Versorgungsleistungen im engeren Sinne. Sie umgreift auch solche Leistungen, die etwa diagnostischer oder beratender Natur sind, wenn sie nur vom Versicherten als gesetzlich zu erbringende ärztliche Maßnahmen verlangt werden können und dem Versicherungsträger typischerweise Kosten verursachen. Diese Voraussetzung ist aber bei jeder kassenärztlichen Maßnahme gegeben, die einen gebührenrechtlichen Anspruch des Kassenarztes auslöst oder die, wie bei den Verordnungen, im Zusammenhang mit gebührenauslösenden Leistungen regelmäßig mit Kostenbelastungen des Versicherungsträgers verbunden sind.

 

Normenkette

RVO § 368n Abs 5; BMÄ Nr 14a; BMV-Ä § 34 Abs 1; RVO § 182 Abs 1 Nr 1, § 368e

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 07.12.1983; Aktenzeichen L 12 Ka 45/82)

SG München (Entscheidung vom 26.04.1982; Aktenzeichen S 31 Ka 341/80)

 

Tatbestand

Streitig ist eine Honorarkürzung im ersten Quartal 1979.

Die Klägerin ist als Allgemeinärztin zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen. Von den 762 Kassenmitgliedern (Familienangehörige: 153; Rentner: 184), die sie im 1. Quartal 1979 (I/79) behandelte, hat sie 520 Mitgliedern 836 mal Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Bescheinigungen) ausgestellt (Nr 14a Bewertungsmaßstab für kassenärztliche Leistungen 1978 - BMÄ'78 -). Der Prüfungsausschuß der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KÄV) hat mit Bescheid vom 6. August 1979 das von der Klägerin insoweit angeforderte Honorar wegen Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts (148,92 %) um 40 % gekürzt. Der beklagte Beschwerdeausschuß hat den Widerspruch der Ärztin mit der Begründung zurückgewiesen, der hohe Anteil an Mitgliederpatienten (im Verhältnis zu Familienangehörigen und Rentnern) und an Gastarbeitern könne eine derart hohe Überschreitung nicht rechtfertigen. Mit ihrer Klage hat die Ärztin geltend gemacht, sie führe eine "Ausländerpraxis" mit einem Ausländeranteil von 60 %; bei diesem Personenkreis sei eine behauptete AU viel schwerer zu widerlegen als bei einheimischen Patienten; zudem könne ein nach Nr 14a BMÄ'78 angefallenes Honorar grundsätzlich auch gar nicht im Wege der Wirtschaftlichkeitsprüfung gekürzt werden.

Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide mit der Begründung aufgehoben, beim Ausstellen einer AU-Bescheinigung handele es sich weder um eine Behandlungs- noch um eine Verordnungsweise des Arztes; es werde nur das Ausstellen der Bescheinigung honoriert. Das Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren sei für derartige Fälle nicht geeignet. Auf die Berufung des Beigeladenen zu 5) (Landesverband der Ortskrankenkassen in Bayern -LdO-) hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt: Mit der Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um 148,92 % liege ein offensichtliches Mißverhältnis vor. Die Kürzungsmaßnahme (mit der belassenen Überschreitung von 52 %) sei nicht zu beanstanden. Bei der Feststellung der AU und der Verordnung von Bettruhe handele es sich um flankierende Maßnahmen der Behandlung. Die Prüfbefugnis umfasse daher auch die Bescheinigungsweise; der Kassenarzt habe seine Wirtschaftlichkeitspflichten auch bei der Ausstellung von AU-Bescheinigungen zu erfüllen. Zwar werde lediglich die Ausstellung als solche honoriert, jedoch sei davon auszugehen, daß das Krankengut auf diese Weise betreut worden sei. Die Klägerin müsse sich daher auch insoweit, wie bei jeder anderen gebührenauslösenden Tätigkeit, mit ihren Fachkollegen vergleichen lassen. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts und der Beigeladenen zu 1) (KÄV) habe die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Bescheinigungsweise nicht im Rahmen einer Einzelfallprüfung zu erfolgen, zumal diese im Nachhinein nicht mehr durchzuführen wäre; eine pauschalierende Betrachtungsweise sei ausreichend.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts und trägt ua vor, daß mit der Leistung nach Nr 14a BMÄ'78, die sie in der Tat in weit überdurchschnittlichem Umfange abrechne, entgegen der Ansicht des LSG nur die Ausstellung als solche honoriert werde und daß diese AU-Bescheinigung auch nur von der Feststellung äußerer Umstände abhängig sei.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Dezember 1983 - L 12 Ka 45/82 - aufzuheben und die Berufung des Beigeladenen zu 5) gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 26. April 1982 - S 31 Ka 341/80 - zurückzuweisen.

Die Beigeladene zu 5) beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Beklagte und die Beigeladenen zu 1) bis 4) haben keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Eine Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Leistungen ist nur dort möglich und legitim, wo der Kassenarzt verpflichtet ist, bei seinen Leistungen wirtschaftlich zu handeln. Diese Pflicht obliegt ihm eindeutig bei der Erbringung der Krankenhilfeleistungen nach § 182 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), nämlich bei der ärztlichen Behandlung und Versorgung. Das ergibt sich ausdrücklich aus den §§ 182 Abs 2, 368e RVO. Die Pflicht des Kassenarztes zur wirtschaftlichen Erbringung seiner Leistungen ist aber nicht begrenzt auf Behandlungs- und Versorgungsleistungen im engeren Sinne. Sie umgreift auch solche Leistungen, die etwa diagnostischer oder beratender Natur sind, wenn sie nur vom Versicherten als gesetzlich zu erbringende ärztliche Maßnahmen verlangt werden können und dem Versicherungsträger typischerweise Kosten verursachen. Diese Voraussetzung ist aber bei jeder kassenärztlichen Maßnahme gegeben, die einen gebührenrechtlichen Anspruch des Kassenarztes auslöst oder die, wie bei den Verordnungen, im Zusammenhang mit gebührenauslösenden Leistungen regelmäßig mit Kostenbelastungen des Versicherungsträgers verbunden sind. Hinsichtlich der Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten und nach den §§ 202e und f RVO (Ärztliche Beratung zur Empfängnisregelung und Leistungen bei nicht rechtswidriger Sterilisation und bei nicht rechtswidrigem Schwangerschaftsabbruch) ist eine entsprechende Anwendung des Wirtschaftlichkeitsgebots ausdrücklich in § 368e Satz 3 RVO vorgeschrieben. Dieses Gebot gilt auch bei der Ausstellung von AU-Bescheinigungen nach Nr 14a BMÄ'78, da es sich auch insoweit um eine gesetzlich zu erbringende ärztliche Leistung handelt, die mit einem ärztlichen Gebührenanspruch verbunden ist. Dementsprechend wird auch von der Beigeladenen zu 1) - der KÄV -, welche im wesentlichen die Rechtsansicht der Klägerin vertritt, vorgebracht, daß die Leistung nach Nr 14a BMÄ'78 "selbstverständlich dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 368e RVO unterliegt".

Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die nach den §§ 368g Abs 3, 368n Abs 5 RVO zur Überwachung der Wirtschaftlichkeit ergangenen Vorschriften des Bundesmantelvertrages-Ärzte (BMV-Ä), denn nach der Vorschrift des § 33 Abs 1 BMV-Ä, wonach die kassenärztliche Tätigkeit im Hinblick auf die kassenärztliche Versorgung durch die Prüfungseinrichtungen der kassenärztlichen Versorgung überwacht wird, heißt es in § 34 Abs 1 BMV-Ä ua, daß die der Kassenärztlichen Vereinigung obliegende Prüfung der von den Ärzten ausgeführten Leistungen sowie der von ihnen vorgenommenen Verordnungen und ausgestellten Bescheinigungen den Zweck habe, die Honoraranforderungen ärztlich nach Maßgabe der in § 368e RVO bestimmten Erfordernisse zu überprüfen und ggfs Abstriche an den Honoraranforderungen vorzunehmen. Demnach bestehen keine rechtlichen Bedenken insoweit, als die Prüfeinrichtungen hier die Wirtschaftlichkeit der AU-Bescheinigungen überprüft haben und auch nicht hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Berechtigung, auch bei AU-Bescheinigungen, soweit sie "nicht notwendig oder unwirtschaftlich" waren, die Honoraranforderungen der Klägerin zu kürzen.

Die bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Leistungen von den Prüforganen der Kassenärztlichen Vereinigungen angewandte Methode des statistischen Vergleichs hält das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung für rechtlich zulässig (Urteil des Senats vom 22. Mai 1984 - 6 RKa 21/82 = KVRS -A-6100/11 mwN- zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen); das Bundesverfassungsgericht hat sie ausdrücklich gebilligt (Beschluß vom 29. Mai 1978 - 1 BvR 951/77 - SozR 2200 § 368e RVO Nr 3). Entgegen der Ansicht der Revision liegen bei der Leistung der AU-Bescheinigung auch keine Umstände vor, welche einen Unwirtschaftlichkeitsbeweis nach der statistischen Methode ausschließen würden. Wie bei den eigentlichen Leistungen der Behandlung und Verordnung der Arzt unter Berücksichtigung der konkreten Krankheit im Rahmen der diagnostischen Erkenntnis des Krankheitsbildes oder beim therapeutischen Einsatz eines Mittels über die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der Leistung zu entscheiden hat, so auch hier bei der Frage, ob eine AU, die nach § 21 Abs 1 zweiter Halbsatz BMV-Ä nur aufgrund einer ärztlichen Untersuchung bescheinigt werden darf, vorliegt oder nicht. Diese Feststellungen sind im Durchschnitt nicht leichter objektivierbar als die dort zu treffenden, da die Zuordnung zum Begriff der Arbeitsunfähigkeit in vielen Fällen zweifelhaft sein wird. Die Ansicht der Revision, über die AU sei ohne weiteres mit "Ja" oder "Nein" zu entscheiden, die dabei zu treffenden Feststellungen seien ohne irgendwelche Zweifelsbereiche eindeutig zuordbar, trifft daher nicht zu. Ihr Argument, die eindeutige Bestimmbarkeit einer AU lasse für die Methode des statistischen Vergleichs (zur Feststellung unwirtschaftlichen ärztlichen Verhaltens) keinen Raum, ist somit nicht stichhaltig.

Die rechtlichen Ausführungen des Berufungsgerichts zur Überschreitung des Fallkostendurchschnitts und zur Kürzung der Honoraranforderungen enthalten keine Rechtsfehler; sie wurden von der Revision auch gar nicht beanstandet.

Die Revision konnte demnach keinen Erfolg haben. Sie war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663286

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