Entscheidungsstichwort (Thema)

Abbruch einer berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation. Erstattungsanspruch. Erfüllung des Leistungsanspruchs

 

Orientierungssatz

1. Die die Sechswochenfrist des § 1241e Abs 2 RVO auslösende Verhinderung der weiteren Teilnahme des Versicherten an der berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation aus gesundheitlichen Gründen bezeichnet den Zeitpunkt, zu dem der Träger rechtswirksam den Abbruch der Maßnahme verfügt. "Beendigung der Maßnahme" dagegen ist der in dem die Rehabilitation bewilligenden Verwaltungsakt festgelegte Zeitpunkt des planmäßigen oder vorgesehenen Endes der Maßnahme.

2. Zweck des § 107 SGB 10 ist es, im materiellen Leistungsrecht nicht vorgesehene Doppelleistungen auszuschließen. Diese Wirkung muß unabhängig davon eintreten, daß im Einzelfall im Verhältnis der beteiligten Leistungsträger untereinander ein Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff SGB 10 nicht befriedigt wird.

 

Normenkette

RVO § 1241e Abs 1; RVO § 1241e Abs 2; SGB 10 §§ 105, 107 Abs 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 02.04.1985; Aktenzeichen L 5 J 16/84)

SG Lübeck (Entscheidung vom 25.11.1983; Aktenzeichen S 4 J 406/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch auf Übergangsgeld (Übg).

Die 1939 geborene, ungelernte, zuletzt als Packerin beschäftigt gewesene Klägerin leidet seit Jahren an Hals- und Lendenwirbelsäulenbeschwerden. Hierwegen hatte ihr die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) als Maßnahmen zur Rehabilitation wiederholt Heilbehandlung sowie berufliche Förderung gewährt. Eine in den Jahren 1979 und 1981 bewilligte Umschulung zum Bürokaufmann hatte die Beklagte mit dem bindend gewordenen Bescheid vom 6. März 1981 mit Wirkung vom 5. März 1981 abgebrochen, weil wegen längerer Krankheitszeiten ein erfolgreicher Abschluß der Ausbildung nicht zu erwarten sei. Zugleich empfahl die Beklagte der Klägerin, sich beim Arbeitsamt arbeitslos zu melden. Dieser Empfehlung folgte die Klägerin. Das Arbeitsamt Lübeck bewilligte ihr hierauf ab 6. März 1981 Arbeitslosengeld (Alg).

Mit dem streitigen Bescheid vom 31. März 1981, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 1981, lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin über den 5. März 1981 - Abbruch der Umschulung - hinaus Übg gemäß § 1241e Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 25. November 1983). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil in der angefochtenen Entscheidung vom 2. April 1985 abgeändert und die Beklagte - unter Zurückweisung der Berufung im übrigen - verurteilt, der Klägerin über den 5. März 1981 hinaus für sechs Wochen Übg zu gewähren. In der Begründung heißt es, nach § 1241e Abs 1 RVO stehe der Klägerin Übg nicht - bis zum 24. August 1981 - zu. Nach Abbruch der Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation durch Bescheid vom 6. März 1981 habe sich die Klägerin nicht mehr zur Verfügung der Beklagten halten müssen. Wie von der Beklagten empfohlen, habe sie sich arbeitslos gemeldet und im ganzen streitumfassenden Zeitraum vom Arbeitsamt Alg erhalten. Der Klägerin stehe jedoch Übg nach § 1241e Abs 2 RVO für die Dauer von sechs Wochen zu (Anschluß an BSGE 54, 146 f).

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Sie bringt vor, der vom LSG angezogenen Entscheidung des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) könne nicht gefolgt werden, wohl aber dem Urteil des 12. Senats des BSG vom 13. Mai 1980 - 12 RK 49/79 -. Mit "Beendigung der Maßnahme" meine § 1241e Abs 2 RVO den Zeitpunkt, zu dem die Maßnahme wegen der Erkrankung des Betreuten seitens des Trägers der Rehabilitation durch Abbruch rechtswirksam vorzeitig beendet werde. Eine andere Auslegung könne auch nicht daraus hergeleitet werden, daß § 1241e Abs 2 RVO zwischen zwei Vorschriften (Absätzen) stehe, welche die Weitergewährung des Übg für Zeiten "nach Abschluß" einer Maßnahme bzw "im Anschluß an eine abgeschlossene" Maßnahme regelten. Demgemäß komme eine Weiterzahlung des Übg über den Zeitpunkt des Abbruchs hinaus nicht in Betracht. Auch die vergleichende Heranziehung der Grundsätze über die Lohnfortzahlung könne ihre, der Beklagten, Auffassung nur bestätigen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 2. April 1985 aufzuheben und die Berufung der Klägerin in vollem Umfang als unbegründet zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 2. April 1985 zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, der zutreffenden Rechtsauffassung des 8. Senats des BSG stehe das Urteil des 12. Senats vom 13. Mai 1980 nicht entgegen. Falls der erkennende Senat von der Rechtsauffassung des 8. Senats abweichen wolle, müsse er den Großen Senat des BSG anrufen, es sei denn, der 8. Senat gäbe seine Rechtsauffassung auf.

Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig und insoweit begründet, als die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen ist.

Kann ein Betreuter an einer berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation "nicht weiter teilnehmen", so wird das Übg nach § 1241e Abs 2 RVO bis zu sechs Wochen, längstens jedoch "bis zum Tage der Beendigung der Maßnahme" weitergewährt. Die Beklagte legt diese Vorschrift dahin aus, daß die Sechswochenfrist zur Weitergewährung von Übg bereits mit der gesundheitlichen Verhinderung des Betreuten beginne und daß als "Beendigung der Maßnahme" - der Zeitpunkt, bis zu dem Übg längstens weiterzugewähren ist - nicht deren planmäßiges Ende, sondern der Zeitpunkt anzusehen sei, zu dem der Träger der Rehabilitation die Maßnahme vorzeitig abbreche. Dem kann nicht gefolgt werden.

Der 8. Senat des BSG hat in seiner veröffentlichten Entscheidung vom 28. Oktober 1982 in BSGE 54, 146 (= SozR 5090 § 17 Nr 2) § 1241e Abs 2 RVO dahin ausgelegt, daß die die Sechswochenfrist auslösende Verhinderung der weiteren Teilnahme des Versicherten an der Maßnahme aus gesundheitlichen Gründen den Zeitpunkt bezeichne, zu dem der Träger rechtswirksam den Abbruch der Maßnahme verfüge. "Beendigung der Maßnahme" dagegen sei der in dem die Rehabilitation bewilligenden Verwaltungsakt festgelegte Zeitpunkt des planmäßigen oder vorgesehenen Endes der Maßnahme. Zur Begründung hat der 8. Senat im wesentlichen ausgeführt, § 1241e Abs 2 RVO weise sich schon gesetzessystematisch als eine der Vorschriften aus, die einen Anspruch auf Übg auch noch nach dem Ende von Rehabilitationsmaßnahmen begründeten. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf Fälle der krankheitsbedingten Unterbrechung der tatsächlichen Teilnahme an der Maßnahme widerspreche im übrigen auch dem Grundsatz des § 1240 RVO, wonach der Rehabilitationsträger ohnedies für die wirtschaftliche Sicherung einer krankheitsbedingt vorübergehenden Rehabilitationsunfähigkeit des Betreuten eintreten müsse.

Dieser Entscheidung des 8. Senats ist der erkennende Senat in seinem Urteil vom 28. November 1985 - 4a RJ 65/84 - (SozR 2200 § 1241e Nr 17) beigetreten. Er hat dazu ausgeführt, die gegenteilige Ansicht übersehe, daß der Rentenversicherungsträger nicht selten erst geraume Zeit nach dem Zeitpunkt, zu dem bei dem Betreuten Arbeitsunfähigkeit (Rehabilitationsunfähigkeit) eingetreten ist, zu beurteilen in der Lage sein werde, ob bei ihm gesundheitliche Gründe vorlägen, die nicht nur vorübergehend, sondern schlechthin einer "weiteren Teilnahme" an der berufsfördernden Maßnahme entgegenstünden. Für eine nur vorübergehende Arbeitsunfähigkeit (vorübergehende Rehabilitationsunfähigkeit) sei der Maßnahmeträger ohnedies zuständig; ob sich eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit zum gesundheitlichen Grund für die Unmöglichkeit "auswachse", schlechthin an einer Maßnahme weiter teilzunehmen, sei oft erst bei rückschauender Würdigung eines nicht zu kurzen Krankheitsverlaufs möglich. Eine "Weitergewährung" nach dauernder gesundheitlicher Verhinderung einer weiteren Teilnahme an der Maßnahme komme so sinnvollerweise erst dann in Betracht, wenn der Versicherungsträger den Abbruch der Maßnahme rechtswirksam angeordnet habe. Hätte aber die Rehabilitationsmaßnahme nach dem Bewilligungsbescheid des Trägers schon früher geendet, dann müsse das Übg freilich mit dem "normalen Ende" der Maßnahme entfallen (Hinweis auf Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, § 1241e RVO Anm 6; Zweng/Scheerer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, § 1241e RVO, Anm II A 2).

In einer weiteren Entscheidung vom 20. Februar 1986 - 4a RJ 59/84 - hat der erkennende Senat unter Aufrechterhaltung seines Rechtsstandpunkts zusätzlich ausgeführt, er setze sich auch nicht zu dem Urteil des 12. Senats des BSG vom 13. Mai 1980 in SozR 2200 § 381 Nr 40 in Widerspruch. Diese Entscheidung betreffe einen wesentlich anders liegenden Sachverhalt. Der 12. Senat, der im übrigen nicht mehr für Streitsachen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuständig sei, habe nicht über einen Anspruch auf Verletztengeld für Zeiten nach der Aufhebung des diese Leistung bewilligenden Bescheids zu befinden gehabt. Vielmehr sei dort dem Unfallverletzten, dem der Unfallversicherungsträger ein berufliches Heilverfahren gewährt hatte, zum wiederholten Male nur einige Tage bzw in zwei Zeitabschnitten insgesamt jeweils nur weniger als sechs Wochen krank gewesen, so daß es nach der Auffassung des 12. Senats (aaO S 108) "der Abgrenzung der in § 568a Abs 2 RVO bestimmten Sechswochenfrist" bedurft habe. Der 12. Senat habe entschieden, daß die Weitergewährung von Übg nicht schon dann entfalle, wenn der Unfallverletzte "insgesamt bis zu sechs Wochen nicht teilgenommen" habe; vielmehr ende der Anspruch auf Fortzahlung des Übg "in jedem Wiederholungsfalle" erst nach Ablauf der sechsten Woche. Nicht nur die konkrete Gestaltung dieses vom 12. Senat entschiedenen Falles, sondern auch dessen rechtliche Problematik unterscheide sich grundlegend vom vorliegenden Fall.

Mit dieser Auffassung, an der der erkennende Senat nach erneuter Prüfung festhält, hat das LSG § 1241e Abs 2 RVO zutreffend ausgelegt, so daß die Klägerin über den 5. März 1981 hinaus für sechs Wochen Anspruch gegen die Beklagte auf Übg hatte.

Die entsprechende uneingeschränkte Verurteilung der Beklagten zur Leistung ist gleichwohl rechtsfehlerhaft. Das LSG hat übersehen, daß der Anspruch der Klägerin zumindest zum Teil als bereits e r f ü l l t gilt.

Nach § 118 Abs 1 Satz 1 Nr 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) idF des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 (BGBl I S 1881) ruht der Anspruch auf Alg während der Zeit, für die dem Arbeitslosen ua Anspruch auf Übg zuerkannt ist. Nach den vorstehenden Ausführungen stand der Klägerin zwar Übg über den 5. März 1981 hinaus auf weitere sechs Wochen zu, so daß ihr Anspruch gegen die Bundesanstalt für Arbeit (BA) auf Alg für diese Zeitspanne ruhte. Die vom Arbeitsamt trotz des Ruhens für diese Zeit tatsächlich der Klägerin gezahlten Beträge hat die BA als unzuständiger Leistungsträger erbracht mit der Folge, daß sie gegen die beklagte LVA nach § 105 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) einen entsprechenden Erstattungsanspruch geltend machen könnte. Dem steht nicht entgegen, daß die Sozialleistungen bereits im Jahre 1981, also vor dem Inkrafttreten des 3. Kapitels des SGB 10 am 1. Juli 1983 geleistet worden sind (Art II § 25 Abs 1 des Gesetzes vom 4. November 1982 -BGBl I S 1450-). Nach Art II § 21 aaO sind vor dem 1. Juli 1983 begonnene Verfahren nach den neuen Vorschriften zu Ende zu führen. Erst recht gilt das für einen Erstattungsanspruch nach dem neuen Recht der §§ 102 ff SGB 10 in bezug auf solche Sachverhalte, die schon vor dem 1. Juli 1983 abgeschlossen vorlagen, hinsichtlich derer aber ein Erstattungsverfahren noch nicht einmal begonnen worden ist.

Das Bestehen eines Erstattungsanspruchs der BA gegen die Beklagte hinsichtlich der Sozialleistungen, die sie in den an den 5. März 1981 anschließenden sechs Wochen tatsächlich erbracht hat, hat nach § 107 Abs 1 SGB 10 die weitere rechtliche Folge, daß der Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte als den zur Leistung von Übg verpflichteten Träger "als erfüllt gilt", und zwar unabhängig davon, daß weder die BA einen solchen Erstattungsanspruch bisher überhaupt geltend gemacht noch die Beklagte einen solchen Anspruch erfüllt hat (allgemeine Meinung, vgl zB Hauck/Haines, SGB X 3, K § 107 RdNr 6; von Maydel/Schellhorn, GK-SGB X 3 § 107 RdNr 5 mwN). Auch ein Erlöschen des Erstattungsanspruchs des vorleistenden unzuständigen Trägers nach ungenutztem Ablauf der in § 111 SGB 10 vorgesehenen Frist für die Geltendmachung des Anspruchs führt nicht dazu, daß die gemäß § 107 aaO bereits entstandene Fiktion der Erfüllung des gegen den zuständigen Träger zustehenden Anspruchs nachträglich entfiele (Verbandskommentar, SGB X, § 107 Anm 3). Zweck des § 107 SGB 10 ist es, im materiellen Leistungsrecht nicht vorgesehene Doppelleistungen auszuschließen. Diese Wirkung muß unabhängig davon eintreten, daß im Einzelfall im Verhältnis der beteiligten Leistungsträger untereinander ein Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff SGB 10 nicht befriedigt wird (Hauck/Haines, aaO, RdNr 8 und die dortigen Hinweise auf das Schrifttum).

Fingiert nach alledem § 107 SGB 10, daß der Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Übg für den streitumfaßten Zeitraum insoweit erfüllt ist, als die BA unzuständig in Form von Alg an die Klägerin bereits "vorgeleistet" hat, so ist das Begehren der Klägerin nur dann und nur insoweit begründet, als der Anspruch auf Übg die bereits erbrachten Leistungen überschreitet. Hierzu hat das LSG keine Feststellungen getroffen. Das angefochtene Urteil mußte deshalb aufgehoben und dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit gegeben werden, den Sachverhalt zu diesem Punkt abzuklären und hernach zu prüfen, ob und inwieweit die Klägerin gegen die Beklagte Übg zu beanspruchen hat und ob eine Beiladung der BA in Betracht kommt (§ 75 SGG; vgl dazu die Entscheidung des BSG vom 12. Juni 1986 - 8 RK 61/84 -).

Der Ausspruch im Kostenpunkte war der Endentscheidung in der Sache vorzubehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664216

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