Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsmittelbelehrung. Zustellung. Bekanntgabe. eingeschriebener Brief. Einschreiben. Klagefrist

 

Leitsatz (amtlich)

Die Rechtsmittelbelehrung eines mittels eingeschriebenen Briefes zugestellten Widerspruchsbescheides, nach der die Klage innerhalb eines Monats nach der “Bekanntgabe” des Widerspruchsbescheides erhoben werden kann, ist unrichtig (Abgrenzung zu Buchholz 310 § 74 VwGO Nr 9).

 

Normenkette

SGG §§ 66, 87; VwZG § 4 Abs. 1; SGB X § 37 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 12.01.1995; Aktenzeichen L 14 Ar 372/94)

SG Augsburg (Urteil vom 01.07.1994; Aktenzeichen S 7 Ar 572/93)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Januar 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 1. Juli 1994 aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Vormerkung von Anrechnungszeiten. Im Gerichtsverfahren ist vorrangig zu klären, ob die Klage wegen Fristversäumnis unzulässig ist.

Der 1942 geborene Kläger stellte im April 1993 bei der Beklagten einen Antrag auf Kontenklärung. Daraufhin erteilte diese ihm unter dem 4. Mai 1993 einen Bescheid über die in seinem Versicherungsverlauf bis 31. Dezember 1986 enthaltenen Daten. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1993 zurück, der am 28. Oktober 1993 als Einschreibesendung zur Post gegeben wurde. Er enthält die Rechtsmittelbelehrung, daß “der Bescheid vom 4.5.93 in Gestalt dieses Widerspruchsbescheides … innerhalb eines Monats nach seiner Bekanntgabe mit der Klage angefochten werden” könne.

Am 1. Dezember 1993 erhob der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten mittels Telefax beim Sozialgericht Augsburg (SG) Klage, die auf Anerkennung weiterer Versicherungszeiten (Anrechnungszeiten) gerichtet war. Nachdem die Beklagte eine Auskunft des Postamtes Landshut vom 28. Dezember 1993 darüber vorgelegt hatte, daß der Einschreibebrief am 30. Oktober 1993 dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers in S.… ausgeliefert worden sei, vertrat der Kläger die Ansicht, die Sendung dürfe erst als am 2. November 1993 zugestellt gelten, weil der dritte Tag nach Aufgabe des Einschreibens zur Post auf einen Sonntag (31. Oktober 1993) falle und der folgende Tag (1. November 1993) in Bayern ein Feiertag (Allerheiligen) gewesen sei. Hilfsweise beantragte er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung, daß seine Rechtsauffassung zum Fristbeginn vertretbar sei. Das SG wies die Klage durch Gerichtsbescheid vom 1. Juli 1994 wegen Fristversäumnis als unzulässig ab. Die Berufung des Klägers wurde durch Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 12. Januar 1995 zurückgewiesen. Diese Entscheidung ist auf folgende Erwägungen gestützt worden:

Bei Zustellung mit Einschreiben gelte ein Bescheid gemäß § 4 Abs 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als zugestellt, auch wenn er früher zugegangen sei oder wenn der dritte Tag auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag falle. Für eine Fristverlängerung durch Sonn- und Feiertage bestehe kein Raum. Eine wesentliche Benachteiligung des Adressaten, die uU eine andere Auslegung erzwingen könnte, werde hierdurch nicht bewirkt. Die Frist des § 4 VwZG sei bereits länger als die übliche Zeit des Postlaufs bemessen. Einem berechtigten Schutzbedürfnis werde weiterhin dadurch Rechnung getragen, daß ggf auf einen späteren tatsächlichen Zugang abzustellen sei und der Absender im Zweifelsfalle die Last trage, daß sich ein Zugang spätestens am dritten Tage nach Aufgabe zur Post nicht feststellen lasse.

Dem Kläger könne keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, da er nicht ohne Verschulden gehindert gewesen sei, die Klagefrist einzuhalten (§ 67 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Er habe das Rechtsmittel so frühzeitig einlegen müssen, daß auch bei Beachtung der engeren von verschiedenen in der Literatur vertretenen Rechtsauffassungen die Klagefrist gewahrt bliebe.

Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend: Das LSG sei auf die von ihm vertretene Gegenmeinung nur unzureichend eingegangen; immerhin werde sie in der Literatur mit beachtlichen Gründen vertreten. An der Vermutung des § 4 Abs 1 VwZG seien stets dann Zweifel iS des 2. Halbsatzes dieser Bestimmung angebracht, wenn der dritte Tag auf einen Tag falle, an dem keine Post zugestellt werde. Dabei müsse eine frühere Zustellung außer Betracht bleiben. Es seien auch die heutigen Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die von schul- und arbeitsfreien Sonnabenden sowie von Kurzurlauben über verlängerte Wochenenden (hier über Allerheiligen) geprägt seien. Insoweit sei es notwendig, daß die Monatsfrist für die Klageerhebung in voller Länge zur Verfügung stehe. Diese Frist werde durch die vom LSG vertretene Auffassung verkürzt.

Wollte man anderer Meinung sein, müsse jedenfalls eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfolgen. Sein Prozeßbevollmächtigter habe sich zu Recht auf eine in maßgeblichen Kommentaren und teilweise auch in der Rechtsprechung vertretene Auffassung verlassen. Ein anwaltlicher Rechtsirrtum sei grundsätzlich unverschuldet bei falscher Darstellung in einem gängigen Handkommentar oder bei unsicherer Rechtslage. Die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts dürften nicht überspannt werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG vom 12. Januar 1995 aufzuheben und die Sache zu erneuter Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG vom 12. Januar 1995 sowie das Urteil des SG vom 1. Januar 1994 aufzuheben und die Sache zu erneuter Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 SGG). Der erkennende Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 15. November 1996 darauf hingewiesen, daß bei der für den 6. Dezember 1996 vorgesehenen Entscheidung auch darüber zu befinden sein werde, ob die Rechtsmittelbelehrung des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 1993 iS von § 66 Abs 2 SGG unrichtig ist.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und auch begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das SG. Die Vorinstanzen haben die gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. Mai 1993 idF des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 1993 gerichtete Klage zu Unrecht als unzulässig angesehen.

Gemäß § 87 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 2 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheides (vgl § 85 Abs 3 SGG) zu erheben. Diese Frist beginnt nach § 66 Abs 1 SGG nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. Ist die Belehrung unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs grundsätzlich nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung zulässig (vgl § 66 Abs 2 SGG). Im vorliegenden Fall gilt diese Jahresfrist, weil die dem Kläger im Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1993 erteilte Rechtsmittelbelehrung unrichtig ist. Darin ist dem Kläger mitgeteilt worden, daß der Bescheid vom 4. Mai 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides innerhalb eines Monats “nach seiner Bekanntgabe” mit der Klage angefochten werden könne. Abgesehen davon, daß in dieser Formulierung grammatikalisch unklar ist, ob sich der Begriff “nach seiner Bekanntgabe” auf den Bescheid vom 4. Mai 1993 oder auf den Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1993 beziehen soll, ist dieser Hinweis jedenfalls deshalb unzutreffend, weil der Widerspruchsbescheid dem Kläger nicht (formlos) bekanntgegeben (vgl § 37 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫; § 87 Abs 1 Satz 1, 2. Alternative SGG), sondern zugestellt worden ist (vgl § 85 Abs 3 Satz 1, § 87 Abs 1 Satz 1, 1. Alternative, Abs 2 SGG, § 63 Abs 2 SGG iVm § 4 VwZG).

§ 66 SGG will verhüten helfen, daß jemand aus Unkenntnis eines Rechtsmittels verlustig geht (vgl Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 66 SGG Anm 2). Ziel der Rechtsmittelbelehrung muß es demnach sein, den Empfänger der Entscheidung über den wesentlichen Inhalt der zu beachtenden Vorschriften zu unterrichten und es ihm so zu ermöglichen, ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte zur Durchführung des Rechtsmittels einzuleiten (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ SozR 3-1500 § 66 Nr 2 S 8 mwN). Wie sich aus der Verlängerung der Rechtsmittelfrist auf ein Jahr schließen läßt, sollen durch eine ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung nicht zuletzt Fristversäumnisse verhindert werden. Die in der Rechtsmittelbelehrung enthaltenen Hinweise müssen daher gerade auch insofern dem Informationsbedürfnis des Empfängers Rechnung tragen.

Da Beginn und Dauer der Klagefrist vom Ort (im Inland oder Ausland) und von der Art der Eröffnung des Verwaltungsaktes an den Empfänger (Zustellung oder Bekanntgabe) abhängen können (vgl § 87 SGG), kommt den diesbezüglichen Angaben in der Rechtsmittelbelehrung eine große Bedeutung zu. Sie müssen in bezug auf den konkreten Fall zutreffend sein, wie er sich für die Behörde bei der Versendung des Verwaltungsaktes darstellt. Schon aus praktischen Gründen wird sie dagegen – soweit es den Beginn der Klagefrist betrifft – die Formulierung der Rechtsmittelbelehrung nicht darauf ausrichten können, auf welche Weise der Empfänger die betreffende Sendung tatsächlich erhält. Dies hängt nämlich von Zufälligkeiten ab, insbesondere zB davon, ob der Postzusteller den Empfänger in seiner Wohnung antrifft.

Gemessen an diesen Kriterien kann die Verwendung des Wortes “Bekanntgabe” anstatt “Zustellung” im Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1993 nicht als unschädlich angesehen werden (ebenso: Gesamtkommentar – Sozialversicherung/Bley, § 66 SGG Anm 5 Buchst e; Hennig/Danckwerts, SGG, § 66 RdNr 4; Meyer-Ladewig, SGG mit Erl, 5. Aufl, § 66 RdNr 8; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 66 SGG Anm 3 Buchst e; Rohwer/Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, § 66 SGG RdNr 17; ähnlich auch LSG Nordrhein-Westfalen, Breithaupt 1966, 884; zu § 58 VwGO: OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1973, 165; VGH Baden-Württemberg, VBlBW 1988, 255; Eyermann-Fröhler, 9. Aufl, § 58 VwGO RdNr 11; Kopp, 10. Aufl, § 58 VwGO RdNr 13; Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner/Meissner, § 58 VwGO RdNr 31; aA Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ Buchholz 310 § 74 Nr 9 und Hess VGH ESVGH 38, 289 ≪bei Postzustellungsurkunde≫; Redeker/von Oertzen, 11. Aufl § 58 VwGO RdNr 8; zum umgekehrten Fall vgl Bay. LSG, KOV 1955, Rspr Nr 170; BVerwG, JR 1967, 309). Zwar ist die Bekanntgabe der umfassendere Begriff (vgl dazu § 37 Abs 5 SGB X); sie schließt die Eröffnung durch Zustellung mit ein (vgl BVerwGE 22, 14, 15). Damit ist dieser Begriff jedoch zugleich auch ungenauer. Vergleicht man seine Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch mit den gesetzlichen Bestimmungen über die Bekanntgabe von Verwaltungsakten (vgl § 37 SGB X), so kann man ihn sogar als mißverständlich bezeichnen (vgl dazu BSG SozR 1500 § 84 Nr 6 S 20; BSG, Urteil vom 27. September 1983 – 12 RK 75/82 –, Umdr S 9). Während “bekanntgeben” gemeinhin die Bedeutung von (öffentlich bzw förmlich) “mitteilen” hat (vgl dazu Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1980, unter “bekanntgeben”), also auf einen tatsächlichen Vorgang abstellt, enthält § 37 SGB X davon abweichende Regelungen: So gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post im Geltungsbereich des SGB übermittelt wird, gemäß § 37 Abs 2 SGB X mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Bis zum Ablauf des dritten Tages nach Aufgabe der Sendung zur Post kommt es also nicht auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Bekanntgabe an, vielmehr wird insoweit vermutet, daß diese gerade am dritten Tage erfolgt ist (vgl zB Hauck/Haines/Recht, § 37 SGB X RdNr 16; Gesamtkomm-Sozialversicherung/Schneider-Danwitz, § 37 SGB X Anm 39).

Der erkennende Senat braucht hier nicht darüber zu entscheiden, ob im Hinblick auf diese Gegebenheiten bei der Versendung eines schriftlichen Verwaltungsaktes im Inland in dessen Rechtsbehelfsbelehrung auf den Inhalt des § 37 Abs 2 SGB X hingewiesen werden muß. Jedenfalls lassen es diese mit dem Begriff “Bekanntgabe” verbundenen Unklarheiten geboten erscheinen, grundsätzlich den Begriff “Zustellung” zu verwenden, wenn der betreffende Verwaltungsakt zugestellt wird (vgl BSG SozR 1500 § 84 Nr 6 S 20). Diese Verfahrensweise entspricht nicht nur der gesetzlichen Regelung in § 87 Abs 1 SGG, welche für den Fristbeginn ausdrücklich zwischen der Bekanntgabe und der Zustellung unterscheidet, sondern hilft auch Fehler bei der Bestimmung der Klagefrist zu vermeiden. Denn auch Rechtsunkundigen ist regelmäßig bekannt, daß sich die Zustellung von Schriftstücken nach besonderen Vorschriften richtet, auf die der Empfänger damit für die ihm obliegende Fristberechnung verwiesen wird.

Hinzu kommt, daß gerade die hier von der Beklagten gewählte Form der Zustellung mittels eingeschriebenen Briefes hinsichtlich der Berechnung der Klagefrist besondere Schwierigkeiten bereitet, welche die (abstrakte) Möglichkeit von Irrtümern (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 66 Nr 3 S 12) mit sich bringen. Gemäß § 4 Abs 1 VwZG gilt (entsprechend der Regelung in § 37 Abs 2 SGB X) der eingeschriebene Brief nämlich mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als zugestellt, auch wenn ihn der Empfänger schon früher erhalten hat (vgl BSGE 5, 53; BVerwGE 22, 11). Diese Vorschrift ist für Rechtsunkundige nur schwer verständlich, weil sie eine grundsätzlich unwiderlegbare Vermutung enthält, die nur dann nicht Platz greift, wenn das zuzustellende Schriftstück überhaupt nicht oder später als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post zugegangen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 66 Nr 2 S 8). Darüber hinaus wirft sie die – in den Vorinstanzen umstrittene – Frage auf, ob der “dritte Tag” auf einen Sonnabend, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag fallen kann (vgl dazu BSGE 5, 53, 54 f). Wenn schon auf diese Besonderheiten in der Rechtsmittelbelehrung des Widerspruchsbescheides zur Vermeidung von Verwirrung nicht hingewiesen werden muß (vgl dazu BSG SozR Nr 32 zu § 66 SGG; BSG SozR 3-1500 § 66 Nr 2; ebenso BVerwG Buchholz 310 § 60 Nr 133), so kommt es um so mehr darauf an, daß dort durch die Formulierung “nach Zustellung” (anstatt “nach Bekanntgabe”) ein möglichst präziser Hinweis auf die besondere Form der Übermittlung gegeben wird, und damit auf die Notwendigkeit, besondere Regelungen zu beachten.

Schließlich führt die Verwendung des Begriffes “Bekanntgabe” im vorliegenden Fall auch deshalb zu einer Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung, weil einerseits die Bekanntgabe eines Schriftstückes nicht immer mit dessen Zustellung zusammenfällt (vgl dazu OVG Nordrhein-Westfalen 1973, 165; VGH Baden-Württemberg VBlBW 1988, 255; Hess VGH ESVGH 38, 289) und andererseits eine formlose Bekanntgabe die Klagefrist nicht in Lauf setzt, wenn – wie hier für einen Widerspruchsbescheid (vgl § 85 Abs 3 SGG) – die Zustellung vorgeschrieben ist (vgl Meyer-Ladewig, SGG mit Erl. 5. Aufl, § 87 RdNr 4). Ohne weiteres ersichtlich ist dies dann, wenn ein Widerspruchsbescheid mit einfachem Brief an den Empfänger abgesandt wird. Dieser Satz gilt aber auch in Fällen, wo die Behörde eine Zustellung veranlaßt. Läßt sich nämlich die formgerechte Zustellung des Widerspruchsbescheides nicht nachweisen oder ist er unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so beginnt die Klagefrist unabhängig davon nicht zu laufen, ob und ggf wann der Empfangsberechtigte das Schriftstück erhalten hat (vgl § 9 Abs 2 iVm Abs 1 VwZG).

Das Urteil des BVerwG vom 27. April 1990 – BVerwG 8 C 70.88 – (in Buchholz 310 § 74 Nr 9) macht eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nicht erforderlich. Eine Abweichung iS von § 11 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl I, 661) liegt insoweit nicht vor. Das BVerwG hat nämlich seine Entscheidung, daß die Rechtsmittelbelehrung eines Widerspruchsbescheides, nach der die Klage innerhalb eines Monats nach “Bekanntgabe” des Widerspruchs bereits erhoben werden kann, nicht unrichtig sei, ausdrücklich auf den Fall beschränkt, daß der Widerspruchsbescheid mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden ist. Hier geht es hingegen um die Richtigkeit einer entsprechend formulierten Rechtsmittelbelehrung eines mittels eingeschriebenen Briefes zugestellten Widerspruchsbescheides. Dabei ist zu berücksichtigen, daß diese Zustellungsart gemäß § 4 Abs 1 VwZG Besonderheiten aufweist, die eine Bestimmung des Zustellungszeitpunktes und damit des Beginns der Klagefrist erschweren.

Mit seiner am 1. Dezember 1993 als Telebrief beim SG eingegangenen Klage hat der Kläger die Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG eingehalten. Die nach § 90 SGG erforderliche Schriftform ist bei einer Klageerhebung durch Fernkopie (Telefax) gewahrt (vgl BSGE 72, 158, 159 = SozR 3-1500 § 67 Nr 7 mwN; Meyer-Ladewig, SGG mit Erl, § 90 RdNr 5 mwN). Die Frist begann gemäß § 64 Abs 1 SGG mit dem Tage nach der Zustellung, also frühestens am 1. November 1993; denn der Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1993 gilt gemäß § 4 Abs 1 VwZG jedenfalls nicht vor dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post (28. Oktober 1993) – demgemäß hier nicht vor dem 31. Oktober 1993 – als zugestellt (vgl BSGE 5, 53). Da vom 1. November 1993 bis zum 1. Dezember 1993 nur etwas über ein Monat – also deutlich weniger als ein Jahr – verstrichen ist, kommt es nicht darauf an, ob sich der Fristbeginn – entsprechend der Ansicht des Klägers – möglicherweise dadurch sogar auf den 3. November 1993 verschiebt, daß die Zustellung als erst am 2. November 1993 erfolgt zu gelten hätte.

Der erkennende Senat sieht sich gehindert, über den Klageanspruch in der Sache zu entscheiden. Die Vorinstanzen haben dazu – konsequenterweise – keine Tatsachenfeststellungen getroffen. Da der Senat im Revisionsverfahren keine Sachaufklärung nachholen kann (vgl § 163 SGG) und bislang weder das SG noch das LSG eine Prüfung des Klagebegehrens selbst vorgenommen hat, erscheint es angebracht, entsprechend § 170 Abs 2 iVm § 159 Abs 1 Nr 1 SGG beide vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen (vgl BSGE 51, 223; BSG SozR 1500 § 136 Nr 6). Dieses Gericht wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

BSGE, 293

NVwZ 1998, 109

DÖV 1998, 42

Breith. 1997, 571

SozSi 1997, 240

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