Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Beiladung bei Streit um die Erfüllung eines Erstattungsanspruchs betreffend verrechneter Rentenanteile

 

Orientierungssatz

Betrifft das streitige Rechtsverhältnis die Erfüllung eines Erstattungsanspruchs des Sozialhilfeträgers den von dem Rentenversicherungsträger zugunsten der beigeladenen Krankenkasse verrechneten Rentenanteil, so ist an diesem Rechtsverhältnis der Versicherte beteiligt, weil infolge der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB 10 seine Rentenansprüche gegen den Rentenversicherungsträger möglicherweise als erfüllt gelten und nicht mehr für eine Tilgung der Regreßforderung zur Verfügung stehen, die die beigeladene Krankenkasse gegen ihn hat. Die Entscheidung darüber, ob die umstrittenen Rententeile dem Kläger als Sozialhilfeträger oder der Krankenkasse zustehen, kann auch dem Versicherten als dem Rentenberechtigten gegenüber nur einheitlich iS des § 75 Abs 2 SGG ergehen (vgl BSG vom 2.11.1988 - 8/5a RKn 11/85 = SozR 1500 § 75 Nr 73 und BSG vom 22.2.1989 - 5/5b RJ 56/87).

 

Normenkette

SGG § 75 Abs 2; SGB 10 § 107 Abs 1, § 104 Abs 3; SGB 1 § 52

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 22.04.1988; Aktenzeichen L 5 J 55/86)

SG Berlin (Entscheidung vom 17.04.1986; Aktenzeichen S 26 J 1176/84)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt als Träger der Sozialhilfe von dem beklagten Träger der gesetzlichen Rentenversicherung die Auszahlung der vollen Rente des Versicherten L. für die Zeit vom 1. September 1982 bis zum 31. Mai 1983.

Die Beklagte bewilligte dem Versicherten mit Bescheid vom 6. September 1978 Altersruhegeld, das sich ab Januar 1982 auf monatlich 1.490,70 DM belief. Am 14. September 1979 gab er wegen einer Regreßforderung der beigeladenen Krankenkasse dieser ein Schuldanerkenntnis über 6.014,-- DM, aufgrund dessen die Beigeladene beim Amtsgericht (AG) Tempelhof/Kreuzberg einen Vollstreckungsbescheid vom 26. Oktober 1981 erwirkte. Mit Schreiben vom 24. März 1982 bat die Beigeladene die Beklagte, die Regreßforderung nebst Zinsen und Kosten mit dem Altersruhegeld des Versicherten zu verrechnen. Dem entsprach die Beklagte im Bescheid vom 27. Mai 1982, wonach sie - beginnend mit dem 1. Juli 1982 - monatlich 651,70 DM verrechnete.

Durch Beschluß des AG Wedding vom 20. Juli 1982 wurde der Kläger zum Pfleger über den Versicherten bestellt. Der Wirkungskreis umfaßt die Bestimmung des Aufenthalts, Zustimmung zur ärztlichen Behandlung und Wahrnehmung der Vermögensangelegenheiten. Wegen seiner Heimunterbringung erhält der Versicherte vom Kläger seit dem 1. Juni 1982 laufend Leistungen der Sozialhilfe. Deshalb meldete der Kläger mit Schreiben vom 19. August 1982 seinen Ersatzanspruch gemäß §§ 1531 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) bei der Beklagten an. Diese überwies ab 1. November 1982 von der monatlichen Rente des Versicherten 839,-- DM an den Kläger und 651,70 DM an die Beigeladene, deren Verrechnung bis zur Tilgung vorrangig durchzuführen sei. Ab 1. Juni 1983 zahlt die Beklagte die volle Rente an den Kläger aus.

Am 16. August 1984 hat der Kläger Klage erhoben, und das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die volle Rente des Versicherten für die Zeit vom 1. September 1982 bis zum 31. Mai 1983 auszuzahlen (Urteil vom 17. April 1986). Auf die - vom SG zugelassenen - Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. April 1988). Das Berufungsgericht hat ausgeführt, Rechtsgrundlage des vom Kläger geltend gemachten Erstattungsanspruchs sei § 104 des Sozialgesetzbuches, Zehntes Buch (SGB 10). Dieser Anspruch sei "belastet" mit der von der Beklagten zugunsten der Beigeladenen bindend durchgeführten Verrechnung, die zeitlich vor dem Erstattungsbegehren des Klägers liege und diesem nach dem Prioritätsprinzip vorgehe.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er ist der Ansicht, daß ihm während des gesamten streitigen Zeitraumes die volle Rente des Versicherten hätte überwiesen werden müssen.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil des LSG Berlin aufzuheben und die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des SG Berlin vom 17. April 1986 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladene beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Revision zurückzuweisen.

Ihrer Ansicht nach ist die Revision vom Kläger nicht ausreichend begründet worden.

 

Entscheidungsgründe

Die vom LSG zugelassene Revision ist statthaft, sie ist im Gegensatz zur Ansicht der Beigeladenen auch formgerecht begründet worden; denn die Voraussetzungen des § 164 Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind vom Kläger erfüllt worden. Begründet ist die Revision insofern, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Das Berufungsgericht hat die notwendige Beiladung des Versicherten nachzuholen.

Ist eine nach § 75 Abs 2 SGG notwendige Beiladung unterblieben, so ist das bei zulässiger Revision vom Bundessozialgericht (BSG) von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl BSG in SozR 1500 § 75 Nr 68, ständige Rechtsprechung). Die genannte Vorschrift fordert, Dritte zu dem Verfahren beizuladen, wenn sie an dem Rechtsstreit derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Das ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG zu bejahen, sofern die in dem Rechtsstreit zu erwartende Entscheidung zugleich in die Rechtssphäre des Dritten unmittelbar eingreift (vgl BSG aaO Nr 60 mwN), was hier hinsichtlich des Versicherten zu bejahen ist. Streitiges Rechtsverhältnis ist die Erfüllung eines Erstattungsanspruchs, der den von der Beklagten zugunsten der beigeladenen Krankenkasse verrechneten Rentenanteil betrifft. An diesem Rechtsverhältnis ist der Versicherte beteiligt, weil infolge der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB 10 seine Rentenansprüche gegen die Beklagte möglicherweise als erfüllt gelten und nicht mehr für eine Tilgung der Regreßforderung zur Verfügung stehen, die die beigeladene Krankenkasse gegen ihn hat. Die Entscheidung darüber, ob die umstrittenen Rententeile dem Kläger als Sozialhilfeträger oder der Krankenkasse zustehen, kann auch dem Versicherten als dem Rentenberechtigten gegenüber nur einheitlich iS des § 75 Abs 2 SGG ergehen (vgl BSG aaO Nr 73 und Urteil des erkennenden Senats vom 22. Februar 1989 - 5/5b RJ 56/87 -).

Die Verpflichtung zur - notwendigen - Beiladung des Versicherten entfällt hier nicht deshalb, weil der Kläger zum Pfleger für den Versicherten bestellt worden ist und zum Wirkungskreis des Pflegers die Wahrnehmung der Vermögensangelegenheiten gehört. Beizuladen ist der Inhaber des Rechts, hier also der Versicherte, auch wenn er gesetzlich vertreten wird. Ob eine Interessenkollision beim Kläger, der einerseits als Amtspfleger die Interessen des Versicherten und andererseits als Träger der Sozialhilfe eigene Interessen vertritt, eine Änderung der Pflegschaft angezeigt erscheinen läßt, wird das LSG zu prüfen haben; für den Versicherten kann es zweckmäßiger sein, zunächst seine Schulden bei der beigeladenen Krankenkasse zu tilgen. Da das Revisionsgericht den Versicherten nicht selbst beiladen darf (§ 168 SGG), mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden.

In einem vor dem BSG geführten Revisionsverfahren, das vom erkennenden Senat - damals als 5a Senat - auf den 8. Senat übergegangen und von diesem am 2. November 1988 entschieden worden ist (SozR aaO Nr 73), hat der erkennende Senat mit Beschluß vom 8. April 1987 beim 1. Senat des BSG angefragt, ob an der in den Urteilen vom 14. November 1984 (BSGE 57, 218) und vom 30. Januar 1985 (SozR 1300 § 104 Nr 4) vertretenen Rechtsauffassung festgehalten wird. Diese Anfrage, die auch in der Literatur erwähnt worden ist (vgl Sasdrich, SGB - Änderungen und Ergänzungen, in BArbBl 1988 Heft 12 Seiten 5, 8) gibt dem Senat Veranlassung zu folgenden Hinweisen:

Nach wie vor ist der Senat davon überzeugt, daß die gesetzliche Regelung in § 104 Abs 3 SGB 10 problematisch und änderungsbedürftig ist. Danach richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. Das schließt nach den oben erwähnten Entscheidungen des 1. Senats den Anspruch des Trägers der Sozialhilfe auf Erstattung erbrachter Sozialleistungen gegen den Träger der gesetzlichen Rentenversicherung insoweit aus, als dieser aufgrund früherer wirksamer Abtretung des Rentenanspruchs an einen Dritten zu leisten verpflichtet ist. Das Erste Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches (1. SGBÄndG) vom 20. Juli 1988 (BGBl I 1046) hat den Senat jedoch zu der Erkenntnis geführt, daß die Auslegung der §§ 104 Abs 3 SGB 10 und 53 Abs 3 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1) durch den 1. Senat des BSG dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Dieser hat in Kenntnis der Rechtsprechung des 1. Senats und der dagegen vom erkennenden Senat im Beschluß vom 8. April 1987 geäußerten Bedenken trotz der Änderungen zu den Vorschriften über Übertragung, Verpfändung und Pfändung von Ansprüchen auf Sozialleistungen im 1. SGBÄndG den hier entscheidenden rechtlichen Regelungsgehalt unverändert beibehalten. Darin sieht der erkennende Senat eine Bestätigung der Auffassung des 1. Senats durch den Gesetzgeber. Der erkennende Senat hat daher keine Veranlassung mehr, an seinen im Beschluß vom 8. April 1987 geäußerten Bedenken festzuhalten.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660563

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge