Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 24.01.1968; Aktenzeichen L 6a U 247/67)

SG Hannover (Urteil vom 07.11.1966)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Januar 1968 wird aufgehoben. Die Berufung des Klägers wird verworfen, soweit das Sozialgericht Hannover die Klage gegen den Bescheid vom 27. September 1965 abgewiesen hat; im übrigen wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 7. November 1966 zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der am 29. Juni 1947 geborene Kläger begann im April 1961 bei dem Kfz-Reparaturbetrieb Fritz D. in H. (Kreis Grafschaft Hoya) die Lehre als Kfz-Handwerker, die bis zum 30. September 1964 dauern sollte. Wegen des Arbeitsunfalls vom 27. Juli 1964, bei dem der Kläger das Sehvermögen auf dem rechten Auge einbüßte, verzögerte sich der Lehrabschluß, so daß der Kläger erst im April 1965 die Gesellenprüfung ablegen konnte. Er übte sodann den erlernten Beruf nicht aus, sondern arbeitete bei einer Brauerei in Bremen.

Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 27. September 1965 dem Kläger die vorläufige Rente, der für die Zeit vom 9. November 1964 bis zum 31. August 1965 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 33 1/3 v.H., anschließend eine solche um 25 v.H. zugrunde lag; auch die mit Bescheid vom 27. April 1966 festgestellte Dauerrente betrug 25 v.H. Den Jahresarbeitsverdienst (JAV) setzte die Beklagte in beiden Bescheiden auf 3.711,76 DM fest. Grundlage hierfür war der am 1. Oktober 1964 für Harpstedt geltende Stundenlohn (eines gelernten Arbeiters im 10 Gesellenjahr nach dem Lohntarifvertrag für Kfz-Instandsetzungsbetriebe in Niedersachsen) in Höhe von 1,66 DM vervielfacht mit 43 (übliche Arbeitsstunden pro Woche) × 52; eine JAV-Anpassung gemäß § 573 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wurde abgelehnt; für die Zeit vom 29. Juni 1968 an setzte die Beklagte den JAV auf 4.380,– DM (nach dem Ortslohn für Harpstedt) fest.

Der Kläger wandte sich mit seiner gegen den Bescheid vom 27. September 1965 erhobenen Klage gegen die Bewertung der unfallbedingten MdE und gegen die JAV-Berechnung. Der Dauerrentenbescheid wurde nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Klagverfahrens, in dem der Kläger beantragte, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 30 v.H. – seit September 1965 – zuzusprechen, der JAV-Berechnung den ortsüblichen Lohn (Tariflohn plus 25 bis 30 %) zugrunde zu legen und die Vorschrift des § 573 Abs. 2 RVO zu berücksichtigen. Das Sozialgericht (SG) Hannover hat durch Urteil vom 7. November 1966 die Klage abgewiesen. Es hat § 573 Abs. 2 RVO als unanwendbar erachtet, da der für den Kläger maßgebende Tarif Lohnerhöhungen nur nach Berufsjahren und nicht nach dem Lebensalter vorschreibe; für die Anwendung des § 573 Abs. 1 RVO hat es das SG als entscheidend angesehen, daß im Unfallbetrieb Dissen übertarifliche Löhne im allgemeinen nicht gezahlt wurden.

Mit seiner – vom SG nicht zugelassenen – Berufung hat der Kläger beantragt, die Beklagte zur Zahlung einer Unfallrente von 30 v.H. ab 1. September 1965 zu verurteilen und der Rentenberechnung vom 9. November 1964 an einen JAV von 7.826,– DM (entsprechend dem in Bremen ortsüblichen Stundenlohn) zugrunde zu legen. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 24. Januar 1968 (Breithaupt 1969, 123) die Beklagte verurteilt, der Rentenberechnung für die Zeit vom 9. November 1964 bis zum 30. September 1965 einen JAV von 5.478,20 DM, anschließend einen solchen von 6.552,– DM zugrunde zu legen; im übrigen ist die Berufung zurückgewiesen worden: Die Unfallfolgen seien mit einer MdE um 25 v.H. zutreffend bewertet worden. Hinsichtlich der JAV-Berechnung sei die Berufung jedoch begründet, § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO enthalte mit dem Tarifentgelt und dem ortsüblichen Entgelt zwei gleichrangige Alternativen, von denen die dem Verletzten jeweils günstigere anzuwenden sei.

Ferner sei für den Kläger, der nach Beendigung der Lehre bei der Firma D. in H. nachweislich nicht weiten beschäftigt worden wäre, nicht der am Wohnort (P. über B.) oder in H. sondern der in Bremen in Betrieben des Kfz-Gewerbes gezahlte Durchschnittslohn als ortsübliches Entgelt maßgebend, woraus sich ein JAV von 5.478,20 DM ergebe. Dieser JAV sei ab 1. Oktober 1965 gemäß § 573 Abs. 2 RVO den Lohnerhöhungen nach Berufsjahren anzupassen. Der Umstand, daß sowohl in Harpstedt als auch in Bremen Lohnerhöhungen für Gesellen des Kfz-Gewerbes nicht nach dem Lebensalter, sondern nach Berufsjahren vereinbart seien, spiele für die Anwendung des § 573 Abs. 2 RVO keine Rolle. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 12. Februar 1968 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 5. März 1968 Revision eingelegt und sie am 13. März 1968 folgendermaßen begründet: Das LSG habe den § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO insofern falsch angewandt, als es nicht von einer Präferenz des Tarifentgelts, sondern von seiner Gleichrangigkeit mit dem ortsüblichen Entgelt ausgegangen sei. Ferner sei zu Unrecht nicht der Beschäftigungsort zur Zeit des Unfalls, sondern Bremen als mutmaßlich künftiger Beschäftigungsort des Klägers den Entgeltverhältnissen zugrunde gelegt worden. Schließlich habe das LSG zu Unrecht eine JAV-Anpassung nach § 573 Abs. 2 RVO vorgenommen, da nach dieser Vorschrift nur Lohnerhöhungen nach dem Lebensalter zu berücksichtigen seien. Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers völlig zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision. Er hält das Berufungsurteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Beklagten hat Erfolg.

Der Senat hatte von Amts wegen die Frage zu prüfen, ob die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 7. November 1966 zulässig war (vgl. BSG 2, 225). Diese Frage ist – soweit der Rechtsstreit die Höhe der mit Bescheid vom 27. September 1965 festgesetzten vorläufigen Rente betraf – von den Vorinstanzen zu Unrecht bejaht worden. Insofern war vielmehr die Berufung gegen das klagabweisende Urteil nach § 145 Nr. 3 SGG ausgeschlossen; dabei kam es nicht darauf an, daß hinsichtlich der vorläufigen Rente eine Nachprüfung des JAV begehrt wurde (vgl. SozR Nr. 8 zu § 145 SGG) und der Rechtsstreit in der Berufung auch um die mit Bescheid vom 27. April 1966 festgesetzte Dauerrente geführt worden ist (vgl. BSG-Urteil vom 29.4.1970, Breithaupt 1970, 893). Da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, daß die nicht gemäß § 150 Nr. 1 SGG zugelassene Berufung aufgrund der Nr. 2 oder 3 dieser Vorschrift zulässig sein könnte, muß das Rechtsmittel des Klägers verworfen werden, soweit das SG die Klage gegen den Bescheid vom 27. September 1965 abgewiesen hat.

Im übrigen hat das LSG die Berufung des Klägers zutreffend als statthaft angesehen; der Auffassung, daß sie zum Teil auch begründet sei, kann der Senat jedoch nicht beipflichten. Die Revision macht mit Recht geltend, daß dem angefochtenen Urteil eine unrichtige Anwendung des § 573 RVO zugrunde liegt.

Bei der Auslegung des § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO hat das LSG verkannt, daß es bei der JAV-Berechnung für Verletzte, die sich zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in Berufsausbildung befanden, nicht auf einen „mutmaßlichen” Beschäftigungsort (so allerdings auch Lauterbach, Gesetzliche UV, 3. Aufl., Anm. 6 b zu § 573 und Miesbach/Baumer, Gesetzliche UV, Anm. 5 zu § 573), sondern auf den Ort des Unternehmens ankommt, in dem der Verletzte zur Zeit des Unfalls beschäftigt war. Dies folgt, wie der Senat in seinem Urteil vom 27. Februar 1970 (BSG 31, 38, 39, 40) dargelegt hat, schon daraus, daß für die Berechnung der Leistungen in der Unfallversicherung grundsätzlich die im Unfallzeitpunkt bestehenden Verhältnisse maßgebend sind, die bei der Anwendung des § 573 Abs. 1 RVO lediglich auf den Zeitpunkt der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung übertragen werden müssen. Der Ansicht des LSG, für den in Harpstedt verunglückten Kläger sei der in Bremen gezahlte Durchschnittslohn als Berechnungsgrundlage des JAV maßgebend, stehen somit bereits rechtlich Gründe entgegen; es kann also offen bleiben, ob die tatsächlichen Erwägungen, aufgrund deren das LSG eine berufliche Abwanderung des Klägers von Niedersachsen nach Bremen als wahrscheinlich erachtet hat, den gegebenen Verhältnissen des hier in Betracht kommenden Arbeitsmarktes entsprechen.

Die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO enthalte mit den Merkmalen „durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich” zwei gleichrangige Alternativen, von denen die dem Verletzten jeweils günstigere anzuwenden sei, kann sich auf Schrifttum stützen (Lauterbach aaO., Anm. 6 h, Miesbach/Baumer, aaO.); in der Rechtsprechung ist ihr das LSG Hamburg (Breithaupt 1970, 110, 112) entgegengetreten, das den Standpunkt vertritt, das ortsübliche Entgelt sei nur dann zu berücksichtigen, wenn kein Tariflohn festgesetzt sei. Einer Stellungnahme zu den divergierenden Meinungen sieht sich der Senat im Hinblick auf die Umstände des hier zu entscheidenden Falles enthoben. Diese sind dadurch gekennzeichnet, daß es in Harpstedt, einem Ort mit rund 2.800 Einwohnern und demgemäß einer sicherlich nicht großen Zahl von Kfz-Werkstätten, für die Ermittlung eines vom Tariflohn abweichenden „ortsüblichen” Entgelts ausschlaggebend darauf ankommen muß, wie im Jahre 1964 die Entgeltverhältnisse bei dem Unternehmen beschaffen waren, in dessen Diensten der Kläger den Arbeitsunfall erlitten hat. Aus der von den Vorinstanzen getroffenen Feststellung, daß in der Kfz-Werkstatt Fritz D. nach der Auskunft dieses Unternehmers damals übertarifliche Löhne nicht gezahlt wurden, folgt jedoch, daß es für den Beschäftigungsort Harpstedt an hinreichenden Anhaltspunkten für die Bestimmung eines dort 1964 „ortsüblich” gewesenen übertariflichen Entgelts mangelt. Der JAV, den das LSG für den Kläger aufgrund des § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO errechnet hat, trifft somit nicht zu.

Zu Unrecht hat schließlich das LSG im vorliegenden Fall den § 573 Abs. 2 RVO als anwendbar erachtet. Diese Vorschrift kann nicht im Wege der Auslegung dahin ergänzt werden, daß außer den tariflichen Entgeltsteigerungen nach Lebensjahren auch Steigerungen nach Berufsjahren zu berücksichtigen sind (vgl. BSG 31, 41 bis 43; SozR Nr. 2 zu § 573 RVO; Windelen SGb 1970, 408). Da der hier maßgebende Lohntarifvertrag für Kfz-Instandsetzungsbetriebe in Niedersachsen vom 6. Dezember 1963 Lohnsteigerungen nach dem Lebensalter nur für angelernte und ungelernte Arbeiter, dagegen für gelernte Arbeiter nur Lohnsteigerungen nach „Gesellen”-Jahren vorschreibt, muß eine Anpassung des JAV aufgrund des § 573 Abs. 2 RVO außer Betracht bleiben.

Entgegen der Auffassung des LSG entspricht hiernach die von der Beklagten vorgenommene JAV-Berechnung den gesetzlichen Vorschriften. Auf die begründete Revision der Beklagten muß somit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers – soweit zulässig – gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Küster, Dr. Baresel

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926670

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