Entscheidungsstichwort (Thema)
JAV. Berechnung. Steigerung
Orientierungssatz
§ 573 Abs 2 RVO kann nicht im Wege der Auslegung dahin ergänzt werden, daß außer den tariflichen Steigerungen des Arbeitsentgelts nach Lebensjahren auch die Steigerungen nach Berufsjahren zu berücksichtigen sind (vgl BSG 1970-02-27 2 RU 135/66 = BSGE 31, 38). Diese Rechtsfolge kann nicht im Wege des § 577 RVO ausgeglichen werden.
Normenkette
RVO § 573 Abs. 1-2, § 577
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 20.02.1968) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 21.11.1966) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Februar 1968 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 21. November 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Höhe des der Rentenberechnung zugrunde zu legenden Jahresarbeitsverdienstes (JAV).
Die am 9. Oktober 1946 geborene Klägerin hat am 27. August 1963 einen Arbeitsunfall erlitten. Sie war damals in einem Elektrogeschäft als Bürolehrling im zweiten Lehrjahr tätig. Die Lehre wäre ohne den Unfall am 31. März 1964 beendet gewesen.
Durch Bescheid vom 22. Dezember 1964 gewährte die Beklagte der Klägerin ab 1. Oktober 1964 eine vorläufige Rente in Höhe von 80 v.H. der Vollrente. Bei der Berechnung des JAV ging die Beklagte davon aus, daß die Klägerin nach Beendigung der Lehre auf Grund des Tarifs für Bürogehilfinnen monatlich 70 % von 310,- DM = 217,- DM verdient haben würde, und legte der Rentenberechnung 2.604,- DM (217,- DM mal 12) zugrunde. Durch Bescheid vom 23. Juni 1965 stellte die Beklagte die Rente in gleicher Höhe als Dauerrente fest.
Mit der bereits gegen den Bescheid vom 22. Dezember 1964 erhobenen Klage hat die Klägerin zunächst anstelle einer Teilrente von 80 v.H. die Vollrente begehrt. In der mündlichen Verhandlung am 19. November 1965 hat sie zusätzlich die Berechnung der Rente nach einem höheren JAV beantragt. Zum JAV hat sie vorgetragen, daß der Tarif für Bürogehilfinnen eine Steigerung nach Berufsjahren vorsehe, während nach dem Gesetz nur eine Steigerung nach dem Lebensalter möglich sei. Darin sehe sie eine Härte. Ihrer Ansicht nach sei das Gesetz so auszulegen, daß mit der Steigerung des Lebensalters gleichzeitig eine Steigerung nach Berufsjahren zu erfolgen habe. Durch Teilvergleich vom 19. November 1965 gewährte die Beklagte der Klägerin unter Abänderung des Bescheides vom 22. Dezember 1964 vom 1. Oktober 1964 bis 31. Januar 1965 die Vollrente und vom 1. Februar bis 30. Juni 1965 eine Teilrente von 90 v.H. als vorläufige Rente. Zur Frage der Höhe des nach Abschluß des Teilvergleichs noch streitig gebliebenen JAV hat die Beklagte im Schriftsatz vom 6. Januar 1966 ausgeführt, daß die Berechnung des JAV nach Beendigung der Ausbildung durch § 573 Abs. 1 RVO zwingend vorgeschrieben sei. Eine Feststellung nach billigem Ermessen gemäß § 577 RVO komme nicht in Betracht, da der festgestellte JAV nicht in erheblichem Maße unbillig sei. Er werde erst in Zukunft unbillig, weil eine Anpassung des JAV an das Lebensalter nach § 573 Abs. 2 RVO nicht erfolgen könne; der für die Klägerin maßgebende Tarif sehe nur eine Steigerung nach Berufsjahren vor. Der Weg über § 577 RVO sei nicht gangbar, da dann schließlich doch § 573 Abs. 2 RVO angewendet werden würde.
Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat die Klage der Klägerin auf Verpflichtung der Beklagten, ihr einen neuen Bescheid mit der Maßgabe zu erteilen, daß der Rentenberechnung ein höherer JAV zugrunde gelegt wird, abgewiesen (Urteil vom 21. November 1966). In den Gründen hat es ausgeführt, daß die Beklagte den JAV zu Recht nicht gemäß § 573 Abs. 2 RVO nach dem Lebensalter festgesetzt habe, da der für die Klägerin maßgebende Tarif nur eine Steigerung des Verdienstes nach Berufsjahren vorsehe. Eine Gesetzeslücke liege nicht vor. Da der JAV auch nicht in erheblichem Maße unbillig sei, habe es die Beklagte mit Recht abgelehnt, diesen nach § 577 RVO anderweitig zu berechnen.
Im Berufungsverfahren hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 7. November 1967 erklärt, daß das Urteil des SG nur insoweit angefochten werde, als es über den Bescheid vom 23. Juni 1965 entschieden habe. Der Vertreter der Beklagten hat erklärt, die Beklagte werde einen Bescheid darüber erteilen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des § 577 RVO gegeben seien. Mit Schriftsatz vom 12. Dezember 1967 teilte die Beklagte mit, daß eine Korrektur des JAV auf dem Umweg über § 577 RVO nicht möglich sei.
Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verpflichtet, der Klägerin mit einem neuen Bescheid die Verletztenrente als Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. für die Zeit ab 1. Juli 1965 unter Anwendung des § 577 RVO zu gewähren (Urteil vom 20. Februar 1968). In den Gründen hat es ausgeführt, der JAV sei für die Zeit nach dem vorgesehenen Abschluß der Lehrzeit der Klägerin gemäß § 573 Abs. 1 RVO richtig nach dem Anfangsgehalt einer Angestellten mit Gehilfenprüfung und vorwiegend einfacher Tätigkeit nach dem am 1. April 1964 geltenden Tarifvertrag berechnet worden. Eine Erhöhung des JAV nach § 573 Abs. 2 RVO könne die Klägerin nicht beanspruchen. Diese Vorschrift komme nur in Betracht, wenn der Tarifvertrag eine Steigerung des Arbeitsentgelts nach dem Lebensalter vorsehe. In dem für die Klägerin maßgebenden Tarifvertrag richte sich die Steigerung des Arbeitsentgelts jedoch nach Berufsjahren. Ein Redaktionsversehen oder eine Gesetzeslücke liege nicht vor. Es sei aber eine Korrektur nach § 577 RVO vorzunehmen, da die Berechnung allein nach § 573 Abs. 1 RVO unbillig sei. Bei Berücksichtigung des Lebensalters der Klägerin würde der JAV 5.160,- DM betragen; das sei fast die doppelte Höhe des festgesetzten JAV. Der Ausschluß von der Anpassung an die tarifliche Verdiensthöhe würde die Klägerin in sehr empfindlicher Weise treffen. Eine Änderung des JAV nach § 577 RVO sei somit am Platze.
Mit der - zugelassenen - Revision macht die Beklagte geltend: Wie das LSG ausgeführt habe, sei der JAV für die Klägerin nach § 573 Abs. 1 RVO richtig berechnet worden; § 573 Abs. 2 RVO sei nicht anzuwenden. Eine Erhöhung des JAV über § 577 RVO würde eine unzulässige Korrektur des Gesetzgebers bedeuten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Februar 1968 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 21. November 1966 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils.
II.
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Mit dem LSG ist der Senat der Auffassung, daß der JAV für den hier allein noch streitigen Zeitraum ab 1. Juli 1965 nach § 573 Abs. 1 RVO zu berechnen ist. Es ist, weil es für die Klägerin günstiger ist, das Entgelt zugrunde zu legen, das im Zeitpunkt nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarif festgesetzt ist. Wie die Klägerin selbst nicht bestreitet, beträgt der JAV danach - ohne Berücksichtigung der gesetzlichen Rentenanpassung nach § 579 RVO - 2.604,- DM.
Eine ergänzend zu § 573 Abs. 1 RVO vorzunehmende weitere Anpassung des JAV nach § 573 Abs. 2 RVO kommt hier nicht in Betracht. Nach § 573 Abs. 2 RVO wird, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV dem Arbeitsentgelt angepaßt, das zur Zeit des Arbeitsunfalls von der Vollendung eines bestimmten Lebensalters ab, höchstens des 25. Lebensjahres, für Personen mit gleicher Tätigkeit durch Tarif festgesetzt ist. Nach den unbestrittenen Feststellungen des LSG sieht der für die Klägerin maßgebende Tarif keine das Lebensalter berücksichtigende Erhöhung des Arbeitsentgelts vor.
Wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 27. Februar 1970 (BSG 31, 38) unter Darlegung der Entstehungsgeschichte des § 573 RVO ausgesprochen hat, kann § 573 Abs. 2 RVO nicht im Wege der Auslegung dahin ergänzt werden, daß außer den tariflichen Steigerungen des Arbeitsentgelts nach Lebensjahren auch die Steigerungen nach Berufsjahren zu berücksichtigen sind (ebenso BSG 32, 169 und das unveröffentlichte Urteil vom 4. Mai 1971 - 2 RU 82/68 -; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 13 zu § 573 RVO).
Diese von der Klägerin als nachteilig empfundene Rechtsfolge kann entgegen der Auffassung des LSG nicht im Wege des § 577 RVO ausgeglichen werden.
Bei der Frage, wann die Festsetzung des JAV in erheblichem Maße unbillig ist, sind vor allem die in den §§ 571 bis 576 RVO zum Ausdruck gelangten Zielvorstellungen des Gesetzgebers zu beachten (BSG 32, 169, 173). Für die Feststellung des JAV sind grundsätzlich die Verdienstverhältnisse vor dem Unfall maßgebend (§ 571 Abs. 1 Satz 1 RVO). Davon macht § 573 RVO eine Ausnahme. Wer sich in Ausbildung befindet (§ 573 Abs. 1 RVO) oder jugendlich ist (§ 573 Abs. 2 RVO) und infolgedessen noch nicht das volle Arbeitsentgelt erzielt hat, soll für die Folgen des Arbeitsunfalls so gestellt werden, als ob er den Unfall erst nach Abschluß der Ausbildung oder nach Vollendung des 25. Lebensjahres erlitten hat. Sofern bei einem Verletzten die Voraussetzungen des § 573 Abs. 2 RVO nicht zutreffen, kann § 577 RVO aber nicht dazu dienen, das nach Beendigung der Ausbildung in weiteren Berufsjahren sich steigernde Arbeitsentgelt bei der Berechnung des JAV zu berücksichtigen. Durch eine solche Handhabung würden die dem § 573 RVO zugrunde liegenden Zielvorstellungen des Gesetzgebers umgangen werden.
Sonstige Umstände, die eine Anwendung des § 577 RVO erforderlich machen würden, hat die Klägerin nicht vorgetragen und sind vom LSG nicht festgestellt worden.
Das Urteil des LSG mußte daher aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen