Leitsatz (amtlich)

RVO § 573 Abs 2 kann nicht im Wege der Auslegung dahin ergänzt werden, daß außer den - durch Tarif festgesetzten oder sonst ortsüblichen - Steigerungen des Arbeitsentgelts nach Lebensjahren auch Steigerungen nach Berufsjahren zu berücksichtigen sind.

 

Orientierungssatz

Für die Berechnung der Leistungen in der Unfallversicherung sind grundsätzlich die Verhältnisse vor dem Unfall maßgebend (zB RVO § 571 Abs 1 S 1). Auch die Vorschriften des RVO § 573 stellen grundsätzlich auf die Verhältnisse im Unfallzeitpunkt ab, die bei der Anwendung des RVO § 573 Abs 1 auf den Zeitpunkt der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung zu übertragen sind.

 

Normenkette

RVO § 573 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30, § 571 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 573 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. März 1966 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten besteht Streit darüber, ob die Beklagte des Jahresarbeitsverdienst (JAV) des Klägers für die Rente, die der Kläger auf Grund eines Arbeitsunfalls vom 5. Februar 1964 bezieht, vom 31. März 1965 an richtig berechnet hat.

Der Kläger (geboren am 17. Februar 1944) war als Elektroinstallateur-Lehrling in einem handwerklichen Betrieb in D beschäftigt und verunglückte im letzten Lehrjahr am 5. Februar 1964. Die Beklagte gewährte ihm wegen der Folgen dieses Unfalls durch Bescheid vom 14. Dezember 1964 vom Zeitpunkt des Wegfalls der Arbeitsunfähigkeit (1. Juli 1964) an eine vorläufige Rente in Höhe von 40 v.H. der Vollrente. Durch Bescheid vom 22. Februar 1965 setzte sie diese Rente mit Wirkung vom 1. April 1965 auf 30 v.H. herab; während des Berufungsverfahrens vor dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen stellte sie die Rente von 30 v.H. der Vollrente durch Bescheid vom 23. November 1965 als Dauerrente fest.

In sämtlichen Bescheiden ist der Rentenberechnung ein JAV von 5590,- DM zugrunde gelegt. Bei der Berechnung des JAV ist die Beklagte davon ausgegangen, daß der Kläger ohne den Unfall die Gesellenprüfung am 30. März 1964 abgelegt und dann als Geselle im ersten Berufsjahr nach dem für den Landkreis gültigen handwerklichen Tarifvertrag einen Stundenlohn von 2,50 DM erhalten hätte. Diesen Stundenlohn hat die Beklagte mit der Zahl der wöchentlichen Arbeitsstunden (43) und mit 52 vervielfältigt.

Mit der Klage gegen den Bescheid vom 14. Dezember 1964 hat sich der Kläger gegen die Berechnung des JAV gewandt. Er trägt vor, daß er vom 1. Juli 1964 an im Unternehmen der S.-Sc.-Werke AG. in Bielefeld beschäftigt sei und einen tariflichen Stundenlohn von 2,83 DM erhalten habe, der nach drei Monaten wegen seiner Leistung auf 3,30 DM erhöht worden sei. Er ist der Auffassung, daß der Rentenberechnung diese Stundenlöhne zugrunde gelegt werden müßten, und weist darauf hin, daß er die Schule bis zur mittleren Reife besucht habe und deshalb bei Ablegung der Gesellenprüfung bereits 20 Jahre alt gewesen sei. Außerdem rügt er, daß die Beklagte nach Ablauf eines Jahres (d.h. vom 31. März 1965 an) der Berechnung des JAV nicht nach § 573 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) den günstigeren Lohn älterer Gesellen zugrunde gelegt habe.

Das Sozialgericht (SG) Detmold hat durch Urteil vom 27. Juli 1965 unter Abweisung der Klage im übrigen die Beklagte verurteilt, die Bescheide vom 14. Dezember 1964 und 22. Februar 1965 dahin zu ergänzen, daß vom 31. März 1965 an ein JAV von 5925,40 DM zugrunde zu legen ist.

Zur Begründung hat das SG u.a. ausgeführt, die Verpflichtung zur Anpassung des JAV ergebe sich zwar nicht eindeutig aus § 573 Abs. 2 RVO, da nach dem Wortlaut dieser Bestimmung nur Lohnsteigerungen berücksichtigt werden sollen, die an ein bestimmtes Lebensalter geknüpft sind; insoweit bestehe jedoch eine Lücke im Gesetz, die in der Weise geschlossen werden müsse, daß Lohnsteigerungen infolge des Ablaufs weiterer Berufsjahre solchen gleichzusetzen seien, die bei der Erreichung eines bestimmten Lebensalters gelten. Das sei in § 565 RVO (in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - RVO aF) ausdrücklich vorgeschrieben gewesen; eine wörtliche Auslegung des § 573 Abs. 2 RVO führe also zu einer Schlechterstellung, die mit dem Zweck des UVNG nicht vereinbar sei. Die Rente des Klägers müsse deshalb laufend den Lohnsteigerungen des hier maßgeblichen Tarifvertrages für das zweite, dritte, vierte und fünfte Berufsjahr angepaßt werden. Der Stundenlohn im zweiten Gesellenjahr betrage DM 2,65, die Vervielfältigung mit 43 und 52 ergebe 5925,40 DM. Es erscheine aber nicht gerechtfertigt, jetzt schon der Beklagten die Anpassung des JAV an die Tarife im dritten, vierten und fünften Berufsjahr aufzugeben, denn es lasse sich nicht absehen, ob der Kläger zu diesen Zeitpunkten überhaupt noch Rentenansprüche haben werde und wie der JAV dann zu berechnen sei.

Gegen das Urteil des SG hat die Beklagte Berufung beim LSG Nordrhein-Westfalen eingelegt. Sie ist der Auffassung, daß der JAV nicht nach § 573 Abs. 2 RVO neu zu berechnen sei, weil der maßgebliche Tarifvertrag nur Steigerungen für die ersten fünf Berufsjahre, nicht aber Steigerungen bei der Erreichung eines bestimmten Lebensalters vorsehe und eine solche Steigerung mit den Lebensjahren auch nicht ortsüblich sei. Das LSG hat durch Urteil vom 15. März 1966 das Urteil des SG teilweise abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen.

Das LSG ist der Auffassung, daß keine Lücke im Gesetz vorliege. Die Gleichstellung der Verdiensterhöhungen bei der Erreichung von Lebens- oder Berufsjahren in Abs. 3 des § 573 RVO mache vielmehr deutlich, daß der Gesetzgeber bei der Fassung des Abs. 2 eine solche Gleichstellung offenbar nicht gewollt habe; es müßte deshalb den Tarifpartnern überlassen werden, Lohnsteigerungen auch für das Erreichen eines bestimmten Lebensalters zu vereinbaren.

Das Urteil des LSG ist dem Kläger am 9. April 1966 zugestellt worden. Der Kläger hat dagegen durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 9. Mai 1966 Revision eingelegt und sie zugleich begründet. Er beantragt,

die Berufung der Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden und somit zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1; 164 SGG).

Streitig ist nur die Berechnung des JAV, der den Rentenfeststellungen in den Bescheiden vom 14. Dezember 1964, 22. Februar 1965 und 23. November 1965 zugrunde liegt. Bei der Berechnung dieses JAV ist die Beklagte - entgegen der vom Kläger mit der Klage geltend gemachten Auffassung - zutreffend von den tariflichen Regelungen ausgegangen, die für das handwerkliche Unternehmen gelten, in dem der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls beschäftigt war. Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, ergibt sich das schon daraus, daß für die Berechnung der Leistungen in der Unfallversicherung grundsätzlich die Verhältnisse vor dem Unfall maßgebend sind (vgl. z.B. § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO). Auch die Vorschriften des § 573 RVO, deren Auslegung streitig ist, führen zwar ebenso wie die Rentenanpassung nach § 579 RVO zu einer Berücksichtigung der durch den Unfall herbeigeführten Beeinträchtigung der Aussichten auf zukünftige Entwicklungen des Einkommens, stellen aber grundsätzlich auf die Verhältnisse im Unfallzeitpunkt ab, die bei der Anwendung des Abs. 1 des § 573 RVO auf den Zeitpunkt der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung zu übertragen sind. Der Kläger hat deshalb keinen Anspruch darauf, daß der Berechnung des JAV die Tariflöhne zugrunde gelegt werden, die für das industrielle Unternehmen der S.-Sc.-Werke gelten, in dem der Kläger seit dem 1. Juli 1964 beschäftigt war. Die Beklagte hat vielmehr zutreffend nach § 573 Abs. 1 RVO den JAV für den Zeitpunkt, in dem der Kläger ohne den Unfall die Lehre beendet haben würde, in der Weise berechnet, daß sie den Stundenlohn für einen Elektriker im ersten Berufsjahr nach dem für das Unternehmen, in dem sich der Unfall ereignet hat, geltenden Tarif ermittelt (2,50 DM) und diesen Stundenlohn mit der wöchentlichen Arbeitsstunden (43) und mit 52 vervielfältigt hat. Bereits das SG hat darauf hingewiesen, daß diese Berechnung insofern dem Wortlaut des § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO nicht vollständig entspricht, als der Stundenlohn von 2,50 DM zwar der Ausbildung des Klägers (erstes Berufsjahr nach Beendigung der Lehre) entspricht, aber dem Umstand nicht Rechnung trägt, daß der Kläger, weil er die Schule bis zur mittleren Reife besucht hatte, die Lehre in einem höheren Alter beendigt hat als Lehrlinge, die ohne eine solche Vorbildung mit der Lehre begonnen hatten. Ein Ausgleich hierfür ist jedoch im Rahmen des Abs. 1 des § 573 RVO nicht möglich, weil, wie das SG unbestritten festgestellt hat, eine das Lebensalter berücksichtigende Erhöhung des Lohnes weder im Tarifvertrag vorgesehen noch "ortsüblich" war.

Es kommt deshalb darauf an, ob eine Anwendung des Abs. 2 des § 573 RVO zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis führt. Das ist nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil es sich auch um einen Anwendungsfall des Abs. 1 handelt. Beide Absätze schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich, wenn, was häufig der Fall sein dürfte, der Verletzte sich im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung befand und noch nicht 25 Jahre alt war. Nach Abs. 1 ist in einem solchen Fall der Berechnung des JAV das Entgelt zugrunde zu legen, das der Verletzte voraussichtlich nach Beendigung der Ausbildung erzielt hätte, während nach Abs. 2 der JAV den Veränderungen des Tarifentgelts anzupassen ist, die bis zum 25. Lebensjahr des Verletzten eingetreten wären. Das ist auch weder von der Beklagten noch vom LSG verkannt worden. Das LSG ist aber - ebenso wie die Beklagte - der Auffassung, daß eine Anwendung des Abs. 2 des § 573 RVO daran scheitert, daß in dem zur Zeit des Arbeitsunfalls maßgebender Tarifvertrag Lohnsteigerungen nicht nach dem Lebensalter, sondern nur nach Berufsjahren festgesetzt sind. Diese Auslegung des Abs. 2 des § 573 RVO entspricht dem Wortlaut (vgl. auch Lauterbach, Gesetzl. Unfallversicherung, 3.Aufl. Anm. 13 zu § 573 RVO; siehe aber auch: Weber in BG 1964 S. 31). Sie stimmt auch damit überein, daß in Abs. 3 des § 573 RVO ausdrücklich auf Verdiensterhöhungen abgestellt ist, die zur Zeit des Arbeitsunfalls von der Erreichung eines bestimmten Lebens- oder Berufsjahres an durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich waren.

Es bedarf deshalb der Prüfung, ob in dem Wortlaut des § 573 Abs. 2 RVO der erkennbar gewordene Sinn des Gesetzes einen zu engen Ausdruck gefunden hat, so daß eine ergänzende und erweiternde Auslegung gerechtfertigt ist (vgl. hierzu Brackmann, Handbuch der Unfallversicherung S. 190 o X ff, hier insbesondere S. 190 p IV, auch Großer Senat des BSG, BSG 14, 239).

Dabei ist auch die Entstehungsgeschichte des jetzigen § 573 RVO zu berücksichtigen

Das Gewerbeunfallversicherungsgesetz (vom 30. Juni 1900/GUVG) bestimmte, ebenso wie das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, daß für die Berechnung der Rente grundsätzlich der JAV maßgebend ist, den der Verletzte im Jahre vor dem Unfall während der Beschäftigung im Betrieb erzielt hat (§ 10 GUVG). Eine Berücksichtigung zukünftiger Einkommensentwicklungen war grundsätzlich nicht vorgesehen. Das GUVG enthielt insoweit nur Vorschriften für den Fall, daß der Verletzte vor dem Unfall noch kein volles Jahr im Betrieb beschäftigt war oder keinen Lohn oder weniger als den 300-fachen Betrag des für den Beschäftigungsort festgestellten ortsüblichen Tageslohn gewöhnlicher erwachsener Tagearbeiter bezogen hat. Darüber hinaus enthielt das GUVG keine Vorschriften, die es ermöglichten, bei der Berechnung des JAV zu berücksichtigen, daß der Verletzte - ohne den Unfall - mit Erreichung eines höheren Lebensalters oder höherer Berufs- oder Betriebsjahre einen höheren JAV erzielt haben würde.

Auch die RVO (vom 19.7.1911) enthielt in den §§ 569 bis 572 keine Vorschriften, die eine Berücksichtigung des Umstandes ermöglichten, daß dem Verletzten durch den Unfall zukünftige nach Lebens- und/oder Berufs- oder Betriebsjahren gestaffelte Lohnsteigerungen entgangen waren.

In dieser Beziehung ist erst durch das Zweite Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung (vom 14. Juli 1925 - 2.ÄndG -) dadurch eine Änderung eingetreten, daß u.a. § 569 a in die RVO eingefügt worden ist. Roewer (Komm. zum 2.ÄndG, 2.Aufl. S. 140 Anm. 5 zu § 569 a) führt aus, für die Einfügung dieser Vorschrift durch den Reichstagsausschuß sei der Umstand Veranlassung gewesen, daß es Tarifverträge gebe, nach denen der Arbeiter erst vom 24. Lebensjahr an den vollen Lohn erhalte. Roewer weist ausdrücklich darauf hin, daß § 569 a Satz 2 nicht anwendbar sei, wenn die Entlohnung nach der Anzahl der Dienstjahre oder der Dauer der Beschäftigung im Betrieb gestaffelt sei. Ebenso Schulte-Holthausen, Unfallversicherung, 4.Aufl.Anm. 11 zu § 569 a. Der Mitgl. Komm. zur RVO (2.Aufl.), enthält keine ausdrücklichen Ausführungen.

Erst durch das 6. ÄndG (vom 9. März 1942) ist die Berechnung des JAV neu geregelt worden. Der Wortlaut des neuen § 565 ist insofern nicht eindeutig, als in Halbsatz 1 nur darauf abgestellt ist, daß für Personen gleicher Ausbildung durch Tarif oder sonst allgemein für einzelne Berufsjahre ein Entgelt festgesetzt ist, während der Halbsatz 2 von Erhöhungen spricht, die von der Erreichung eines bestimmten Lebens- oder Berufsjahres ab allgemein festgesetzt sind. Die Begründung des Gesetzes (AN 1942, S. 199, hier S.200 linke Spalte unten) enthält aber keine ausdrücklichen Ausführungen zur Frage der Lohnstaffelung nach Lebens- und/oder Berufsjahren. Auch Jantz (AN 1942, 209, hier 214 linke Spalte) läßt nicht erkennen, daß die Frage, ob nur Lohnsteigerungen nach Lebensjahren oder nach Berufsjahren zu berücksichtigen seien, als besonderes Problem erkannt worden ist.

Der Entwurf des UVNG (BT-Drucks. IV, 120) enthielt den jetzigen § 573 als § 574. Der Abs. 2 stellte noch auf das 21. Lebensjahr ab und ließ seinem Wortlaut nach "für das 21. Lebensjahr durch Tarif festgesetzt oder sonst üblich" nur die Berücksichtigung von Steigerungen nach Lebensjahren zu. Die Begründung (BT-Drucks. IV, 120 S. 57) läßt nicht erkennen, daß das Problem der Lebens- oder Berufsjahre erkannt oder bewußt geregelt worden ist. Aus der vom BMA herausgegebenen "Arbeitsgrundlage" zur Bearbeitung des UVNG-Entwurfs ergibt sich, daß der VdK für den Abs. 1 eine Fassung vorgeschlagen hatte ("die er nach den beruflichen Bestimmungen nach Abschluß seiner Berufsausbildung erhalten würde. Bis zur Erreichung des höchsttariflichen Arbeitsentgelts ist entsprechend den tarifvertraglich vorgesehenen Bestimmungen der sich so ergebende JAV laufend den Rentenberechnungen zugrunde zu legen"), die nicht deutlich zwischen Steigerungen nach Lebensjahren und nach Berufsjahren unterscheidet. Für Abs. 2 hatte der VdK vorgeschlagen: "hat der Verletzte zur Zeit den Unfalls wegen seines Alters oder fehlender Berufsjahre in seinem Beruf das höchsttarifliche Arbeitsentgelt noch nicht erreicht, so ist jeweils der entsprechende JAV zugrunde zu legen". Der Reichsbund und der DGB haben für den Abs. 2 die gleiche Fassung vorgeschlagen. Diese Vorschläge stimmen also darin überein, daß nach ihnen sowohl die Lebensjahre als auch die Berufsjahre bei der JAV-Berechnung zu berücksichtigen sein würden. Im Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik ist nur ausgeführt, daß das Entgelt zugrunde gelegt werden soll, das "der Tarifvertrag für bestimmte spätere Lebensjahre ... vorgesehen hätte" (BT-Drucks. IV 938 neu Seite 11). Daraus ergibt sich, daß der Ausschuß die Fälle im Auge hatte, in denen der volle tarifliche Lohn erst von einem bestimmten Lebensalter an erreicht wird. Dagegen läßt der Bericht nicht erkennen, ob die Berücksichtigung von Berufsjahren bewußt ausgeschlossen worden ist.

Hiernach ist aus der Entstehungsgeschichte nicht zu entnehmen, ob der Gesetzgeber die verschiedenen Zielvorstellungen für die Absätze 1, 2 und 3 des § 573 RVO bewußt in der Weise verwirklicht hat, daß für die Berechnung des JAV bei den in jugendlichem Alter Verunglückten nur die zukünftigen Steigerungen des Arbeitsentgelts berücksichtigt werden dürfen, die vom Lebensalter abhängig sind.

Die dem Wortlaut entsprechende Regelung hat u.a. zur Folge, daß die tarifliche Zuordnung des Unternehmens vielfach von entscheidender Bedeutung ist und die ungelernten Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitnehmern mit abgeschlossener Berufsausbildung begünstigt sind, wenn, wie das häufig der Fall ist, das Tarifrecht für letztere Lohnabstufungen nach Berufsjahren, für erstere dagegen nach Lebensjahren vorsieht.

Andererseits würde aber eine Einbeziehung der Abstufung nach Berufsjahren durch ergänzende Auslegung des Wortlauts des Abs. 2 des § 573 RVO zur Folge haben, daß diejenigen Verletzten begünstigt sind, die in jüngeren Jahren ihre Berufstätigkeit angefangen haben und deshalb bis zum 25. Lebensjahr eine größere Anzahl von Lohnstufen nach Berufsjahren durchlaufen können als diejenigen, die infolge längerer Schulausbildung (oder auch Umschulung) erst später in das Berufsleben eingetreten sind. Die Gleichstellung von Lohnsteigerungen nach Berufsjahren und nach Lebensjahren würde u.a. zur Folge haben, daß die dem Wortlaut des Abs. 2 des § 573 RVO zugrunde liegende Zielvorstellung des Gesetzgebers (Ausgleich für die in jüngeren Jahren verunglückten Arbeitnehmer) verändert würde.

Der erkennende Senat ist zwar der Auffassung daß die Unterschiede, die sich bei der Berechnung des JAV nach dem Wortlaut des § 573 RVO ergeben, einer Nachprüfung bedürfen. Sie sind jedoch nach der Auffassung des erkennenden Senats noch durch die Unterschiede zwischen den Zielvorstellungen und den betroffenen Gruppen von Verletzten gerechtfertigt, so daß eine ergänzende Auslegung auch unter dem Gesichtspunkt der verfassungskonformen Auslegung nicht geboten ist. Abgesehen davon, daß, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, die Tarifpartner durch eine Anpassung des Tarifrechts an den Wortlaut des § 573 RVO ausgleichend wirken können, müssen nach der Auffassung des erkennenden Senats die für eine Änderung des Wortlauts erforderlichen sozialpolitischen Entscheidungen und die hierfür notwendige Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten des Tarifrechts - auch wegen ihrer Tragweite - dem Gesetzgeber überlassen bleiben.

Der erkennende Senat stimmt mit dem LSG darin überein, daß für die Berechnung des JAV, der den Rentenleistungen an den Kläger zugrunde zu legen ist, der Wortlaut des § 573 RVO maßgebend ist. Da hiernach, wie auch die Revision nicht verkennt, der JAV zutreffend berechnet ist, ist die Revision des Klägers unbegründet und muß zurückgewiesen werden.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 38

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge