Leitsatz (amtlich)

1. Das infolge eines vorübergehenden schädigungsbedingten Mindereinkommens verringerte Renteneinkommen eines Schwerbeschädigten ist ein Einkommensverlust iS des BVG § 30 Abs 3; der Anspruch auf Berufsschadensausgleich besteht dem Grunde nach.

2. Der nach BVG § 30 Abs 4 oder Abs 5 zu berechnende Einkommensverlust ist nur für die Höhe des Berufsschadensausgleichs maßgebend.

3. Dem Anspruch auf Berufsschadensausgleich steht nicht entgegen, daß die berufliche Einkommensminderung, die die Rentenminderung zur Folge hatte, in eine Zeit fiel, als ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich für Schwerbeschädigte noch nicht vorgesehen war.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 3 Fassung: 1966-12-28, Abs. 4 Fassung: 1966-12-28, Abs. 5 Fassung: 1975-12-18

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 29.09.1977; Aktenzeichen L 12 V 187/72)

SG Reutlingen (Entscheidung vom 11.11.1971; Aktenzeichen S 9 V 1803/66)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. September 1977 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob einem Schwerbeschädigten, der aus schädigungsunabhängigen Gründen aus dem Erwerbsleben, in dem er zuletzt keinen Einkommensverlust hatte, ausgeschieden ist, Berufsschadensausgleich allein deshalb zusteht, weil sein Renteneinkommen infolge eines schädigungsbedingten Einkommensverlustes in den Jahren 1953 bis 1958 gemindert ist.

Der Kläger hatte vor seiner Kriegsbeschädigung den Beruf eines Schreiners erlernt und - unter anderem bei der Firma I-B - ausgeübt. Von 1948 an arbeitete er wiederum bei der Firma I-B in seinem erlernten Beruf. Am 7. August 1953 wurde er aus gesundheitlichen Gründen von der Abteilung Karosserie-Innenbau in die Versandabteilung versetzt, wo er einen geringeren Stundenlohn (statt DM 2,28 DM 1,73) bezog. Am 30. Januar 1958 wurde er in die frühere Abteilung zurückversetzt. Er verdiente hier als Schreiner wieder einen höheren Stundenlohn (statt DM 2,23 DM 2,92). Seit November 1960 ist er arbeitsunfähig. Von Dezember 1960 an bezog er Rente wegen Berufsunfähigkeit, von August 1968 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und von April 1973 an Altersruhegeld.

Im April 1964 beantragte er Berufsschadensausgleich. Diesen Antrag lehnte das Versorgungsamt ab, weil der Kläger aus schädigungsunabhängigen Gründen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1966; Sozialgericht - SG - Reutlingen, Urteil vom 11. November 1972;  vom 29. September 1977).

In der vom LSG zugelassenen Revision legt der Kläger dar, es müßten im Falle der schädigungsbedingten Minderung der Rentenhöhe die Grundsätze angewendet werden, die das Bundessozialgericht - BSG - (vgl BSGE 38, 160) vor Inkrafttreten des Haushaltsstrukturgesetzes vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) für das vorzeitige schädigungsunabhängige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entwickelt habe. Das Haushaltsstrukturgesetz habe die Fälle der vorliegenden Art nicht geregelt. Es könne nicht hingenommen werden, daß der Kläger nur deshalb eine Einkommensminderung entschädigungslos erleiden müsse, weil er vor der Beendigung seines Arbeitslebens wieder in dem erlernten Beruf gearbeitet habe.

Der Kläger beantragt,

1.

unter Aufhebung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 29. September 1977 und des Urteils des SG Reutlingen vom 11. November 1971 sowie des Bescheides vom 14. Februar 1966 idF des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 1966 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Januar 1964 Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung des um 25 v.H. gekürzten durchschnittlichen Bruttoverdienstes eines männlichen Arbeiters der Leistungsgruppe 1 im Industriebereich Kraftwagen-Kraftradindustrie (einschl. Herstellung von Motoren) als Vergleichseinkommen (Durchschnittseinkommen) zu gewähren,

2.

den Beklagten ferner zu verurteilen, dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

Der Beklagte stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Berufungsurteil ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Nach § 30 Abs 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) idF des 2. Neuordnungsgesetzes (NOG) vom 21. Februar 1964 (BGBl I 85) erhält Berufsschadensausgleich, "wer als Schwerbeschädigter durch die Schädigungsfolgen beruflich insoweit besonders betroffen ist, als er einen Einkommensverlust" in bestimmter Höhe hat. Durch das 3. NOG vom 28. Dezember 1966 (BGBl I 750) sind die Anspruchsvoraussetzungen verdeutlicht worden, indem Berufsschadensausgleich Schwerbeschädigten zugebilligt wird, "deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist (Einkommensverlust)". Wie der Einkommensverlust berechnet wird, ist in § 30 Abs 4 BVG und seit 1. Januar 1976 in § 30 Abs 5 BVG (idF des Haushaltsstrukturgesetzes vom 18. Dezember 1975 - BGBl I 3113) - vorgeschrieben.

Das LSG hat hierzu festgestellt, der Minderverdienst des Klägers in den Jahren 1953 bis 1958 sei schädigungsbedingt, nicht aber sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Dieses schädigungsunabhängige vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben - Nachschaden - schließe zwar den Anspruch auf Berufsschadensausgleich nicht aus. Voraussetzung sei aber, daß ein schädigungsbedingter Einkommensverlust im Sinne des § 30 Abs 4 BVG errechenbar sei. Das sei hier nicht der Fall. Das Renteneinkommen des Klägers sei zwar infolge des schädigungsbedingten Minderverdienstes in den Jahren 1953 bis 1958 möglicherweise geringer, als es ohne diesen Minderverdienst wäre. Denn es seien damals niedrigere Beiträge zur Rentenversicherung geleistet worden. Für eine solche Minderung des Renteneinkommens sehe aber § 30 Abs 4 BVG keinen Ausgleich vor. Auch die Regelungen der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 und 4 BVG (§ 3 Abs 5 idF vom 30. Juli 1964 -DVO 1964- BGBl I 574; § 3 Abs 6 idF vom 28. Februar 1968 -DVO 1968- BGBl I 194), wonach das höhere Durchschnittseinkommen bei Vollendung des 65. Lebensjahres auf 75 v.H. herabzusetzen sei, könnten nicht entsprechend angewendet werden. Die entsprechende Anwendung bei einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben komme nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 38, 160) nur in Betracht, wenn der Beschädigte erst in der Nähe der Altersgrenze ausgeschieden sei (SozR 3100 § 30 Nrn 4, 16 und 17). Da der Kläger bereits mit 53 Jahren aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei, müßten die Grundsätze des § 30 Abs 5 BVG idF des Haushaltsstrukturgesetzes schon in der Zeit vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift entsprechend angewendet werden (Hinweis auf BSG in SozR 3100 § 30 Nr 16). Danach sei kein Einkommensverlust zu errechnen. Denn es müsse der Berechnung das Einkommen zugrunde gelegt werden, das der Kläger erzielen würde, wenn er nicht vorzeitig schädigungsunabhängig aus dem Arbeitsleben ausgeschieden wäre. Das sei - darüber seien sich die Beteiligten einig - das Einkommen eines Schreiners, also eines Arbeiters in der Leistungsgruppe 1 im Industriebereich Kraftwagen-Kraftradindustrie (einschl. Herstellung von Motoren). Dieses Einkommen sei identisch mit dem Vergleichseinkommen. Dieses Ergebnis könne nur dann unbillig erscheinen, wenn ein Schwerbehinderter längere Zeit schädigungsbedingt nicht in dem vor der Beschädigung ausgeübten oder nachweisbar angestrebten Beruf habe arbeiten müssen.

Dem ist nicht zu folgen. Denn ist - was das LSG unterstellt - das Renteneinkommen des Klägers infolge des schädigungsbedingten Minderverdienstes in den Jahren 1953 bis 1958 gemindert, sind die Voraussetzungen für den Anspruch auf Berufsschadensausgleich erfüllt.

Dem steht nicht entgegen, daß sich die als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen auf die beruflichen Verdienstmöglichkeiten schon in einer Zeit ausgewirkt haben, als der Kläger noch nicht Berufsschadenausgleich beanspruchen konnte. Der Senat hat dies in seinem Urteil vom 15. Dezember 1977 (SozR 3100 § 30 Nr 33) in einem Fall entschieden, in dem der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in der Zeit der beruflichen Nachteile deshalb ausgeschlossen war, weil der Beschädigte damals noch nicht Schwerbeschädigter war. Dasselbe muß aber auch gelten, wenn in der Zeit der beruflichen Nachteile - 1953 bis 1958 - der Anspruch auf Berufsschadensausgleich für Schwerbeschädigte gesetzlich noch nicht vorgesehen war.

Der Anspruch auf Berufsschadensausgleich ist auch nicht deshalb zu versagen, weil die nach § 30 Abs 4 BVG vorgeschriebene Berechnung des Einkommensverlusts zu einem anderen - wesentlich höheren - Betrag führt als die Differenz zwischen dem tatsächlichen Renteneinkommen und dem ohne die Schädigungsfolgen wahrscheinlich erzielten Renteneinkommen. Nach der Rechtsprechung des Senats (BSGE 38, 160, 163; vgl auch das darauf Bezug nehmende Urteil des 9. Senats vom 17. Oktober 1974 in SozR 3100 § 30 Nr 4; SozR 3100 § 30 Nr 33) ist § 30 Abs 4 BVG für die Höhe des Berufsschadensausgleichs, nicht aber für seine Voraussetzungen von Bedeutung. Der Senat hat in BSGE 38, 160, 162, 164 ausgesprochen, daß die Zubilligung von Berufsschadensausgleich nicht daran scheitert, daß der Beschädigte keinen Beruf mehr ausübt. In seinem Urteil vom 15. Dezember 1977 (aaO) hat er klargestellt, daß dem Grunde nach der Anspruch auf Berufsschadensausgleich besteht, wenn eine Minderung des Renteneinkommens konkret nachgewiesen ist. Zu klären war in diesen Fällen sowie auch in den vom LSG erwähnten Urteilen des Senats vom 29. September 1976 (in SozR 3100 § 30 Nrn 16 und 17) nur, ob ein etwa nur geringfügiger tatsächlicher Einkommensverlust nach § 30 Abs 3 BVG auch unter Zugrundelegung des nach § 30 Abs 4 BVG abstrakt errechneten Einkommensverlusts entschädigt werden mußte.

Bei vorzeitigem schädigungsunabhängigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und einem schädigungsbedingt geringeren Renteneinkommen kann der Berechnung des Schadensausgleichs nicht die ganze Differenz zwischen dem Vergleichseinkommen und dem Renteneinkommen als Einkommensverlust zugrunde gelegt werden. Die für die Kriegsopferversorgung zuständigen Senate haben übereinstimmend entschieden, daß das Vergleichseinkommen zu kürzen ist, und zwar entsprechend der bei Vollendung des 65. Lebensjahres vorgesehenen Regelung (vgl § 3 Abs 5 DVO 1964 und § 3 Abs 6 DVO 1968) auch dann, wenn der Schwerbeschädigte aus schädigungsunabhängigen Gründen schon vor Vollendung des 65. Lebensjahres im sechsten Lebensjahrzehnt oder im Alter von 60 bis 64 Jahren aus dem Arbeitsleben ausscheidet (vgl BSGE 38, 160, 166 sowie BSG in SozR 3100 Nrn 4, 16 und 17). Da der Kläger im sechsten Lebensjahrzehnt aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist, ist § 30 Abs 4 BVG iVm der genannten Kürzungsvorschrift anzuwenden. Die Tatsache, daß in den bisher vom BSG entschiedenen Fällen die Beschädigten tatsächlich schon annähernd 75 vH ihres derzeitigen Arbeitseinkommens als Altersversorgung zu beanspruchen hatten, ist kein Grund, anders zu entscheiden, wenn - was möglicherweise hier der Fall ist - der Beschädigte einen geringeren Rentenanspruch hat. Zwar mag der Kläger begünstigt sein, wenn sein Renteneinkommen nur geringfügig schädigungsbedingt gemindert sein sollte, der Einkommensverlust nach § 30 Abs 4 BVG aber wesentlich höher wäre. Bei der Pauschalierung und Generalisierung der Berechnung des Berufsschadensausgleichs ist dies aber in Kauf zu nehmen.

Auch die Tatsache, daß der Kläger vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben wieder in seinem erlernten Beruf gearbeitet hat und die anerkannten Schädigungsfolgen ihn nicht gehindert hätten, weiterhin in diesem Beruf zu arbeiten, schließt den Anspruch auf Berufsschadensausgleich nicht aus. Das wäre nur der Fall, wenn § 30 Abs 5 BVG idF des Haushaltsstrukturgesetzes schon vor seinem Inkrafttreten hätte angewendet werden können. Dann ließe sich kein Einkommensverlust errechnen, so daß der Kläger eine schädigungsbedingte Minderung seines Einkommens hinnehmen müßte. Die Anwendung des § 30 Abs 5 BVG schon vor seinem Inkrafttreten bietet sich aber nur an, wenn die Anwendung des § 30 Abs 4 BVG auch bei Herabsetzung des Vergleichseinkommens generell zu Ergebnissen führte, die nicht sachgerecht sind und der Beschädigte schon vor dem sechsten Lebensjahrzehnt schädigungsunabhängig aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist. In einem solchen Fall kann - wie der Senat in seinem Urteil vom 29. September 1976 in SozR 3100 § 30 Nr 17 entschieden hat - § 30 Abs 5 BVG herangezogen werden. Denn die durch diese Vorschrift eingeführte Heraufsetzung des derzeitigen Einkommens führt zu sinnvolleren Ergebnissen als die Herabsetzung des Vergleichseinkommens. - Da der Kläger bereits im Jahre 1973 das 65. Lebensjahr vollendet hat, greift § 30 Abs 5 BVG auch nach seinem Inkrafttreten - 1. Januar 1976 - hier nicht ein.

Das LSG hat es-von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Rechtunterlassen, nachzuprüfen, ob das Renteneinkommen des Klägers tatsächlich infolge des schädigungsbedingten Minderverdienstes in den Jahren 1953 bis 1958 gemindert war. Damit es dies nachholen kann, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 220

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