Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendung des Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 bei Förderung der beruflichen Fortbildung

 

Orientierungssatz

Anwendung des Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 bei Förderung der beruflichen Fortbildung:

Zur Frage, ob Art 67 Abs 1 der Verordnung Nr 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWGV 1408/71) vom 14.6.1971 iVm Art 4 Abs 1 Buchst g auch für Leistungsansprüche gilt, die ein Mitgliedstaat zwar nicht wegen bestehender Arbeitslosigkeit gewährt, mit denen er jedoch einer künftigen Arbeitslosigkeit vorbeugen will, so daß bei der Förderung einer beruflichen Fortbildung nach § 46 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes als "Beitragspflicht begründende Beschäftigung" auch die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen sind.

 

Normenkette

AFG § 46 Abs 1 S 1; EWGV 1408/71 Art 4 Abs 1 Buchst g; EWGV 1408/71 Art 67 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 27.06.1984; Aktenzeichen L 12 Ar 49/82)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 26.11.1981; Aktenzeichen S 22 Ar 9/81)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die beklagte Bundesanstalt für Arbeit eine berufliche Fortbildung des Klägers gemäß § 46 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) - in der Fassung des 5. Änderungsgesetzes vom 23. Juli 1979 (BGBl I 1189) - mit den dort vorgesehenen Leistungen (Übernahme der Kosten, Gewährung von Unterhaltsgeld) fördern muß.

Der 1941 geborene Kläger italienischer Staatsangehörigkeit war seit 1964 in der Bundesrepublik Deutschland im Fernsehreparaturgewerbe beschäftigt, ab Juli 1975 als gelernter Radio- und Fernsehtechniker mit Gesellenprüfung. In der Zeit vom 14. Februar 1977 bis zum 30. Juni 1980 übte er diesen Beruf versicherungspflichtig in Italien aus, von August bis September 1980 wiederum in Deutschland. Ab 6. Oktober 1980 nahm er hier in einer Gewerbeförderungsanstalt an einem Vorbereitungslehrgang für die Meisterprüfung im Radio- und Fernsehtechnikerhandwerk teil und legte am 14. Juli 1981 mit Erfolg die Meisterprüfung ab.

Seinen im Juli 1980 gestellten Antrag, die Teilnahme an dem Lehrgang zu fördern, lehnte die Beklagte unter Hinweis auf § 46 Abs 1 Satz 1 AFG ab, weil er innerhalb der letzten drei bzw fünf Jahre vor Beginn der Maßnahme (Lehrgang) nicht mindestens zwei Jahre lang eine die Beitragspflicht nach dem AFG begründende Beschäftigung ausgeübt habe; die Voraussetzungen des § 46 Abs 2 AFG seien ebenfalls nicht gegeben (Bescheid vom 28. Oktober 1980; Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 1980).

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Auch nach Auffassung des LSG stellt die in Italien ausgeübte Beschäftigung keine beitragspflichtige Beschäftigung iS des § 46 Abs 1 AFG dar; als solche könne sie ferner nicht aufgrund des Rechtes der Europäischen Gemeinschaften (EG) berücksichtigt werden. Art 67 EWGV 1408/71 beziehe sich nur auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit und nicht auf die berufliche Fortbildung Nichtarbeitsloser. Das ergebe sich aus Art 4 Abs 1 Buchst g ("Leistungen bei Arbeitslosigkeit") und der Überschrift zum Kapitel 6 ("Arbeitslosigkeit"); auch die dort folgenden Art 68, 69 und 71 setzten den Arbeitslosen voraus. Desgleichen gehe die Amtliche Begründung der Kommission zu der Verordnung von Leistungssystemen im Falle der Arbeitslosigkeit aus. An diesem sachlichen Geltungsbereich habe die aufgrund von Art 6 EWGV 1408/71 abgegebene Erklärung der Bundesregierung (ABl Nr C 12/1973 S 11) mit der Benennung des AFG als unter Art 4 Abs 1 fallende Rechtsvorschrift nichts geändert. Bei den Voraussetzungen berufsfördernder Maßnahmen lasse schließlich Art 7 EWGV 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 15. Oktober 1968 (ABl Nr L 257/2) ebenfalls keine Zusammenrechnung der Beschäftigungszeiten in der EG zu, weil er hier nicht einschlägige Tatbestände regele.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des europäischen Gemeinschaftsrechts.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen,

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und den EuGH anzurufen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

1. Der Senat hat beschlossen, gemäß Art 177 Abs 1 Buchst b und Abs 3 des EWG-Vertrages vom 25. März 1957 den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Vorabentscheidung über die hier streitige Auslegung des Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 anzurufen. Dabei ist er davon ausgegangen, daß eine Anrufungspflicht nach der Rechtsprechung des EuGH (vor allem Urteil vom 6. Oktober 1982, Slg 1982, 3415) gegeben ist, wenn vernünftige Zweifel an der Auslegung bestehen; solche Zweifel vermag der Senat nicht gänzlich auszuräumen.

2. Die Entscheidung über die Revision des Klägers hängt für den Senat von der Beantwortung der gestellten Rechtsfrage ab. § 46 Abs 1 AFG setzt voraus, daß die Antragsteller innerhalb der dort genannten Rahmenfristen vor Beginn der Maßnahme mindestens zwei Jahre lang eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung ausgeübt (Satz 1, Alternative 1) oder Arbeitslosengeld bzw Arbeitslosenhilfe in bestimmtem Umfang bezogen (Alternative 2) haben. Diese Voraussetzungen sind nach innerstaatlichem Recht hier nicht gegeben, weil die Alternative 1 mit einer "die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung" nur nach dem AFG beitragspflichtige Inlandsbeschäftigungen meint und die Alternative 2 von vornherein ausscheidet. Der Kläger könnte daher § 46 Abs 1 AFG - in der Alternative 1 - nur erfüllen, wenn seine Beschäftigungszeiten in Italien (mit Beitragspflicht zur dortigen Arbeitslosenversicherung) nach EG-Recht mitberücksichtigt werden müßten. Insoweit hat der Senat keine Zweifel, daß sich der Kläger hierzu nicht auf Art 7 Abs 3 EWGV 1612/68 berufen kann. Er wird im Rahmen des § 46 Abs 1 AFG nicht anders behandelt als deutsche Arbeitnehmer, bei denen Beschäftigungszeiten in anderen Mitgliedstaaten ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Die EWGV 1612/68 soll, wie der EuGH bereits entschieden hat (Urteil vom 24. April 1980, Rechtssache 110/79), nicht Ansprüche aufgrund in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegter Versicherungszeiten schaffen, wenn diese nach innerstaatlichen Bestimmungen nicht bestehen. Sonach kommt es für den Senat auf die - nicht unzweifelhafte - Auslegung des Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 an, dessen Anwendung hier nicht schon nach Art 67 Abs 3 ausgeschlossen wäre.

3. Nach § 67 Abs 1 EWGV 1408/71 berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaates, soweit erforderlich, auch die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten, wenn nach seinen Rechtsvorschriften der Erwerb "des Leistungsanspruchs" von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängig ist. Der Senat neigt dazu, dem LSG aus den im Berufungsurteil angeführten Gründen darin zuzustimmen, daß diese Vorschrift nur für Leistungsansprüche bei bestehender Arbeitslosigkeit und nicht auch für Leistungsansprüche auf berufliche Förderung der hier streitigen Art gilt. Dafür sprechen neben dem schon hervorgehobenen Zusammenhang, in dem die Vorschrift steht (Kap 6; Art 4 Abs 1 Buchst g), ihre Entstehungsgeschichte und ihr Sinn und Zweck. Die EWGV 1408/71 ist der EWG-Verordnung Nr 3 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeiter gefolgt, die ebenfalls nur "Leistungen bei Arbeitslosigkeit" vorgesehen und hierin mit den früheren Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation des Völkerbundes übereingestimmt hat. Daß der Leistungskatalog nicht erweitert werden sollte, bestätigt die Amtliche Begründung zur EWGV 1408/71 (BT-Drucks V/197 S 52) dadurch, daß sie bei Art 54 (jetzt 67) ausschließlich "Leistungen wegen Arbeitslosigkeit" erwähnt. Die hierauf gerichtete Zielvorstellung macht zudem die Präambel deutlich; sie betont die Notwendigkeit, die Systeme der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe zu koordinieren und bezeichnet es aus diesem Grunde für angebracht, dem arbeitslosen Arbeitnehmer die Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu gewähren. Art 4 Abs 1 Buchst g beschränkt daher folgerichtig den sachlichen Geltungsbereich der EWGV 1408/71 auf "Leistungen bei Arbeitslosigkeit" (so zum Abkommensrecht mit Österreich im Ergebnis auch SozR 4460 § 8 Nr 7).

4. Gleichwohl lassen sich Zweifel an der Nichteinbeziehung von Ansprüchen auf Förderung beruflicher Bildungsmaßnahmen jedenfalls dann nicht unterdrücken, wenn die Förderung Bezugspunkte zur "Arbeitslosigkeit" hat; für solche Fälle ließe sich daran denken, den Begriff "Leistungen bei Arbeitslosigkeit" erweiternd auszulegen. Ein solcher Bezugspunkt könnte hier schon darin gesehen werden, daß die Beklagte als der deutsche Leistungsträger für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe ebenfalls für die Förderung der beruflichen Bildung nach dem AFG (Ausbildung, Fortbildung, Umschulung) zuständig ist. Ein weiterer ließe sich darin finden, daß die streitige berufliche Fortbildung in der Alternative 1 des § 46 Abs 1 Satz 1AFG eine in der Arbeitslosenversicherung beitragspflichtige Beschäftigung voraussetzt und nach der Alternative 2 auch aufgrund zurückgelegter Arbeitslosigkeit gewährt werden kann, wobei sogar eine Arbeitslosigkeit in anderen Mitgliedstaaten gemäß Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 zum Erwerb der dort vorausgesetzten Ansprüche wegen Arbeitslosigkeit beizutragen vermag. Eine besondere innere Beziehung zur Arbeitslosigkeit ist bei der beruflichen Bildungsförderung nach dem AFG jedoch dadurch hergestellt, daß der Förderung zu einem wesentlichen Teil der Gedanke zugrunde liegt, damit künftiger Arbeitslosigkeit vorzubeugen, auch wenn der Vorbeugungszweck - anders als zB bei den Rehabilitationsmaßnahmen der Rentenversicherung (vgl § 13 Abs 1 Satz 1 letzter Halbsatz des Angestelltenversicherungsgesetzes) - im Wortlaut der Förderungsvoraussetzungen keinen Niederschlag gefunden hat.

Auszugehen ist insoweit von der Begründung des Regierungsentwurfs des AFG (BT-Drucks V/2291, Allgemeiner Teil, III. Ziele des AFG, S 53), die einen grundlegenden Wandel im bisherigen Verständnis der Aufgaben der Arbeitsverwaltung offenbart hat. Er war durch einen Übergang zu einer Arbeitsmarktpolitik bestimmt, die Arbeitslosigkeit im Interesse des Arbeitnehmers wie auch der Volkswirtschaft nach Möglichkeit verhindern sollte. In der Begründung des Regierungsentwurfs wird die Aufgabenstellung dahin umschrieben, daß die Wandlungen in der Wirtschaft, technischer Fortschritt und Automation in erheblich stärkerem Maße als bisher wirkungsvolle Maßnahmen zur Verhütung der Arbeitslosigkeit erforderten. Der Arbeitnehmer müsse für den veränderten Ablauf des Arbeitslebens krisensicher werden; hierzu diene in erster Linie eine Stärkung seiner beruflichen Mobilität. Daher erhielten besonders Umschulung, berufliche Aufstiegs- und Leistungsförderung großes Gewicht. Daß das AFG vornehmlich der Förderung und Sicherheit der Arbeitnehmer im Arbeitsleben dienen soll, geht im weiteren aus den §§ 1 und 2 (hier insbesondere Nrn 1-3) AFG hervor. Entsprechend dieser umfassenden, vor allem auf dem Gedanken der Generalprävention aufgebauten Zielsetzung (BVerfGE 53, 313, 325) muß speziell die Förderung der beruflichen Fortbildung wesentlich mit unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Arbeitslosigkeit gesehen werden (s hierzu auch die AFuU vom 23. März 1976 - ANBA S 559 - in § 1); dies hat das BSG schon mehrfach betont (SozR 4100 § 36 Nrn 12, 13, 16; § 42 Nr 3, S 7).

Hiernach kann von Bedeutung sein, daß der EuGH - ausgehend von dem grundlegenden Zweck des Art 51 des EWG-Vertrages, die günstigsten Voraussetzungen für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft zu schaffen - zu Art 2 der EWGV Nr 3 entschieden hatte (Rechtssache 16/72, Sgl 1972, 1141), daß der Begriff der Sozialen Sicherheit auch einen vorbeugenden Schutz umfaßt. Allerdings war diese Feststellung damals wohl ohne weitere Wirkung, weil die streitigen Leistungen des Rentenversicherungsträgers wegen Tuberkulose dann als Leistungen bei Krankheit, dh bestehender Krankheit gewertet wurden.

5. Sonstigen vom Kläger noch im Hinblick auf Art 1 Buchst t, Art 89 und die schon erwähnte Erklärung der Bundesregierung aufgrund des Art 5 EWGV 1408/71 vorgetragenen Gesichtspunkten mißt der Senat für die Auslegung des Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 kein Gewicht bei; was letztere betrifft, so hat die Bundesregierung zwar als unter Art 4 Abs 1 fallende Rechtsvorschrift allgemein das AFG benannt, aber nur als Rechtsvorschrift "zur Regelung der Arbeitslosenversicherung".

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661342

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