Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 16.03.1993)

 

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist wird zurückgewiesen.

Der Antrag des Klägers, ihm für das Revisionsverfahren Prozeßkostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Dr. E …, O …, beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. März 1993 wird verworfen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Rechtsstreit betrifft die Höhe von Eingliederungsgeld.

Die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) hat dem Kläger Eingliederungsgeld bewilligt und diese Leistung entsprechend der Verteilungsentscheidung des Bundesverwaltungsamts nach der Bezugsgröße für das Land Sachsen-Anhalt bemessen. Der Kläger macht demgegenüber geltend, er habe bereits vor der Verteilungsentscheidung durch seinen Bruder eine Wohnung in B … (Niedersachsen) gefunden, so daß ihm Eingliederungshilfe nach der höheren Bezugsgröße für das Land Niedersachsen zustehe.

Der Klage gegen den Bescheid der BA vom 21. Mai 1991 und den Widerspruchsbescheid vom 30. September 1991 hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben (Urteil vom 30. September 1992). Auf die zugelassene Berufung der BA hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. März 1993). Gegen dieses – seinem Prozeßbevollmächtigten am 29. März 1993 zugestellte – Urteil hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers am 16. April 1993 Revision eingelegt und um Prozeßkostenhilfe für das Revisionsverfahren nachgesucht. Die vom Prozeßbevollmächtigten im ersten Rechtszug vorgelegte Vollmacht zur Prozeßführung „gilt für alle Instanzen und erstreckt sich auch auf Neben- und Folgeverfahren aller Art”; sie umfaßt ua „die Befugnis … Rechtsmittel einzulegen, zurückzunehmen oder auf sie zu verzichten, den Rechtsstreit oder außergerichtliche Verhandlungen durch Vergleich, Verzicht oder Anerkenntnis zu erledigen …”. Der Revisionsschrift war eine Erklärung des Klägers über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigefügt. Begründet ist der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe mit dem Hinweis auf die divergierenden Entscheidungen der Vorinstanzen und die Zulassung der Revision durch das LSG. Eine Revisionsbegründung hat der Kläger nicht vorgelegt.

Am 14. Juni 1993 beantragte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers mit Hinweis auf seine Revisionsschrift und den darin enthaltenen Antrag auf Prozeßkostenhilfe, die Begründungsfrist für die Revision zu verlängern. Er rechtfertigte diesen Antrag damit, daß über die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe noch nicht entschieden sei,

und schlug vor, die Revisionsbegründungsfrist so zu verlängern, daß die Begründung spätestens zwei Monate nach Zustellung der Entscheidung über den Antrag auf Prozeßkostenhilfe beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen sein müsse. Der Vorsitzende des Senats entsprach diesem Antrag nicht, weil eine Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist nur auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag zulässig sei; die Revisionsbegründungsfrist sei aber bereits am 1. Juni 1993 abgelaufen. Weder aus der Revisionsschrift noch der Prozeßvollmacht ergebe sich der von der Rechtsprechung geforderte Anhalt für eine Einschränkung der anwaltlichen Tätigkeit auf die Einlegung der Revision oder die Stellung des Antrags auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe.

Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers tritt dieser Rechtsansicht entgegen und führt aus, der Kläger habe die Revision nicht begründen können, weil er die Kosten nicht aufbringen könne. Er sei damit ohne sein Verschulden verhindert gewesen, die Frist zur Begründung der Frist einzuhalten. Da er den Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe vor Ablauf der Revisionsfrist mit den erforderlichen Unterlagen eingereicht habe, habe er alles getan, um eine Entscheidung über seinen Antrag herbeizuführen. Unter diesen Umständen sei ihm nach ständiger Rechtsprechung Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zu gewähren. Die Entscheidung BSG SozR 1500 § 160a Nr 8 sei nicht einschlägig, denn sie betreffe nicht eine Revision, sondern eine Nichtzulassungsbeschwerde. Im übrigen stehe sie mit der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung im Schrifttum nicht im Einklang. Im übrigen ergebe sich aus den Gesamtumständen und der Lebenserfahrung, daß ein Anwalt für einen Beteiligten, der die Gebühren und Auslagen für das Revisionsverfahren nicht aufbringen könne, eine Revisionsbegründung nicht unentgeltlich anfertige. Ein Anwaltsverschulden sei nicht anzunehmen, wenn ein Anwalt davon ausgehe, daß ein ordnungsgemäß gestellter Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe entsprechend der Rechtsprechung und Lehrmeinung beschieden werde.

Der Kläger beantragt,

ihm für das Revisionsverfahren Prozeßkostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Dr. E …, O …, beizuordnen;

ihm wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Dem Kläger steht Prozeßkostenhilfe nicht zu; die beabsichtigte Rechtsverfolgung hat nicht hinreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 73a Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫, 114 Satz 1 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫).

Die auf höheres Eingliederungsgeld gerichtete Rechtsverfolgung des Klägers hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn die Revisionsbegründungsfrist gewahrt ist. Die Wahrung dieser Frist ist Voraussetzung für eine Sachentscheidung des BSG (§ 169 Satz 2 SGG).

Der Kläger hat die Frist zur Begründung der Revision versäumt. Diese Frist wurde durch die Zustellung des angefochtenen Urteils an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 29. März 1993 in Lauf gesetzt (§ 164 Abs 2 Satz 1 SGG) und lief – da der 29. Mai 1993 ein Samstag und der 31. Mai 1993 ein Feiertag war -am 1. Juni 1993 ab. Eine Revisionsbegründung hat der Kläger nicht vorgelegt.

Die Erfolgsaussicht läßt sich auch nicht damit begründen, der Kläger werde nach Entscheidung über seinen rechtzeitig eingereichten Prozeßkostenhilfeantrag und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Revisionsbegründung vorlegen. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung umfaßt auch den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, so daß dieser hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten müßte. Dies trifft nur zu, wenn der Kläger ohne Verschulden gehindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten (§ 67 Abs 1 SGG). Diesem Maßstab genügt seine Prozeßführung nicht. Ist ein Verfahrensbeteiligter nach seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen außerstande, Prozeßhandlungen formgerecht durch zugelassene Prozeßbevollmächtigte (§ 166 SGG) vorzunehmen, so ist er bis zur Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung eines Anwalts iS des § 67 Abs 1 SGG ohne Verschulden verhindert, gesetzliche Verfahrensfristen zu wahren. Dies gilt aber – wie der Kläger auch nicht verkennt – nur, wenn der Verfahrensbeteiligte innerhalb der zu wahrenden Frist alles getan hat, um ein Fristversäumnis zu vermeiden. Ein Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten wird dabei dem Verfahrensbeteiligten zugerechnet (BSGE 11, 158, 160 = NJW 1960, 502).

Der Kläger hat zwar die Voraussetzungen für eine Entscheidung über seinen Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe geschaffen, indem er die Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Revisionsfrist vorgelegt und – jedenfalls andeutungsweise – mitgeteilt hat, woraus er die Erfolgsaussicht für die Revision herleitet. Er hat aber nicht alles Erforderliche getan, um die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zu vermeiden. Daran war er nicht durch seine wirtschaftliche Lage gehindert. Der Kläger hatte seinem Prozeßbevollmächtigten – unabhängig von der Bewilligung von Prozeßkostenhilfe – die Vollmacht „zur Prozeßführung … für alle Instanzen” erteilt. Falls dieser Auftrag im Innenverhältnis zum Prozeßbevollmächtigten wegen der wirtschaftlichen Lage des Klägers und dem daraus für den Anwalt herrührenden Risiko beschränkt werden sollte, hätte diese Beschränkung bei der Revisionseinlegung zum Ausdruck gebracht werden müssen. Diesen Rechtssatz hat das BSG für die Wahrung der Förmlichkeiten der Revision innerhalb der Revisionsfrist nach dem bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Recht (BSG SozR Nr 10 zu § 67 SGG – nicht: BSG SozR 1500 § 67 Nr 10) und für die Wahrung der Begründungsfrist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde (BSG SozR 1500 § 160a Nr 8) aufgestellt. Insoweit ist es unerheblich, daß hier über die Wahrung der Revisionsbegründungsfrist zu befinden ist. Das Verhältnis von Einlegung und Begründung ist hinsichtlich der zu wahrenden Fristen für Nichtzulassungsbeschwerde und Revision gleichsinnig geregelt (§§ 160a Abs 1 Satz 2, Abs 2 Satz 1, 164 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 SGG). Lediglich die Verlängerung der Begründungsfrist für die Nichtzulassungsbeschwerde ist nach § 160a Abs 2 Satz 2 SGG beschränkt. Das läßt eine unterschiedliche Beurteilung der hier zu entscheidenden Rechtsfrage für Nichtzulassungsbeschwerde und Revision nicht zu.

Für die entsprechende Fragestellung des Verhältnisses von Berufungseinlegung und Berufungsbegründung im Zivilprozeß haben Reichsgericht (RG) und Bundesgerichtshof (BGH) die gleiche Ansicht wie das BSG vertreten (RGZ 145, 228 f; BGHZ 7, 280, 283 = NJW 1953, 503). Dabei kann unentschieden bleiben, ob die vom Anwalt wahrzunehmende Pflicht aus dem mit der Einlegung des Rechtsmittels begründeten Prozeßrechtsverhältnis oder dem „Innenverhältnis zwischen Anwalt und Partei” (so BGHZ 7, 280, 283) herzuleiten ist. Die Annahme einer iS des § 67 Abs 1 SGG ohne Verschulden des Klägers oder seines Prozeßbevollmächtigten eingetretenen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist und die Ablehnung der Wiedereinsetzung rechtfertigt sich auch aus folgender Überlegung: Nachdem der Prozeßbevollmächtigte des Klägers die Revision eingelegt hatte, war er jedenfalls verpflichtet, die gesetzlich vorgesehene Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist rechtzeitig zu beantragen (§ 164 Abs 2 Satz 2 SGG), wenn er mit Rücksicht auf die noch ausstehende Entscheidung des Senats über die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe die Revisionsbegründung noch nicht vornehmen wollte. Unter den gegebenen Umständen durfte er sich nicht auf die Wiedereinsetzung verlassen; vielmehr hatte er nach § 67 Abs 1 SGG zu verhindern, daß diese erforderlich wurde (RGZ 145, 228 f; BGH NJW 1974, 2321; BSG SozR 1500 § 67 Nr 16). Einen entsprechenden Antrag hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers auch am 14. Juni 1993 gestellt. Dieser Antrag war jedoch im Hinblick auf die am 1. Juni 1993 abgelaufene Revisionsbegründungsfrist nicht rechtzeitig. Die Verspätung dieses Antrags mag auf den unterschiedlichen Lauf der Revisionsbegründungsfrist im Sozialgerichtsverfahren (§ 164 Abs 2 Satz 1 SGG) und im Zivilprozeß (§ 554 Abs 2 Satz 2 ZPO) zurückzuführen sein. Dies schließt jedoch ein dem Kläger zuzurechnendes Verschulden nicht aus.

Da der Kläger eine Revisionsbegründung nicht innerhalb der Begründungsfrist vorgelegt hat und ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren ist, ist seine nach § 169 SGG unzulässige Revision durch Beschluß außerhalb der mündlichen Verhandlung zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172833

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