Entscheidungsstichwort (Thema)

Mehrfachbegründung. Prozeßökonomie bei Revisionsentscheidung

 

Leitsatz (amtlich)

Ist ein Urteil nebeneinander auf mehrere Begründungen gestützt, so kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nur dann zur Zulassung der Revision führen, wenn im Hinblick auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund vorliegt und formgerecht gerügt wird.

 

Orientierungssatz

Es ist nicht (die erste) Aufgabe des Revisionsgerichtes, eine (abstrakte) Rechtsfrage zu klären, es muß vielmehr den Einzelfall und nur in diesem Rahmen ggf auch Fragen von grundsätzlicher Bedeutung entscheiden. Das Revisionsgericht kann deshalb seine Prüfung auch nach Gesichtspunkten der Prozeßökonomie ausrichten (vgl BSG 1978-09-15 11 RK 2/78 = SozR 1500 § 87 Nr 5). Bei mehrerer Begründung wäre es also möglich und zulässig, daß das Revisionsgericht sich im künftigen Revisionsverfahren nur mit der Begründung befaßt, gegen die kein Zulassungsgrund vorgebracht werden kann, die darum insbesondere auch keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung einschließt.

 

Normenkette

SGG § 160a Fassung: 1974-07-30, § 160 Fassung: 1974-07-30, § 160a Abs 2 S 3 Fassung: 1974-07-30, § 160 Abs 2 Nr 1 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 24.01.1980; Aktenzeichen L 12 Lw 5/79)

SG Landshut (Entscheidung vom 09.03.1979; Aktenzeichen S 3 Lw 16/78)

 

Gründe

Die Beschwerde war in entsprechender Anwendung der §§ 169, 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), § 574 der Zivilprozeßordnung als unzulässig zu verwerfen, weil ihre Begründung den Erfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht genügt.

Die Beklagte mißt der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung bei, weil die Rechtsfrage zu entscheiden sei, ob § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) im Rahmen eines Leistungsstreits auch auf bindend abgeschlossene beitragsrechtliche Vorgänge entsprechend anzuwenden sei. Die Beklagte hat hierbei jedoch nicht beachtet, daß das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) sich nicht nur auf die Anwendung des § 627 RVO stützt. Das LSG hat zwar aufgrund dieser Vorschrift der Beklagten die Berufung auf die Bindungswirkung der Bescheide vom 29. Mai 1973 versagt, welche die von der Ehefrau des Klägers (der Beigeladenen) geleisteten Beiträge für die Zeit ab 1961, nicht aber für die Zeit vorher auf den Kläger "übertragen" haben. Das LSG hat der Beklagten darüber hinaus aber einen Verstoß gegen ihre Aufklärungspflicht vorgeworfen, weil sie die Eheleute über die Folgen der nur teilweisen Beitragsumschreibung nicht unterrichtet habe. Damit hat das LSG die Anrechnung der vor 1961 entrichteten Beiträge zugunsten des Klägers zusätzlich, ohne das allerdings klar auszusprechen, aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch abgeleitet, wie ihn die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelt hat.

Das Urteil des LSG ist demnach in doppelter Weise begründet, wobei jede der beiden Begründungen für sich selbständig die Entscheidung trägt, jede daher auch hinweggedacht werden kann, ohne daß sich dadurch das Ergebnis ändert. Wie aber bereits das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesfinanzhof entschieden haben (BVerwG, Buchholz 310 § 132 Nrn 109, 115, 158, 176; BFHE 112, 337), kann eine Nichtzulassungsbeschwerde, wenn ein Urteil nebeneinander auf mehrere Begründungen gestützt wird, nur dann zur Zulassung der Revision führen, wenn im Hinblick auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund vorliegt und formgerecht gerügt wird (vgl auch BSG SozR 1500 § 160a Nr 5). Der Senat schließt sich dieser Meinung an. Maßgebend dafür sind zwei ineinandergreifende Erwägungen: Zum einen war das LSG nicht gezwungen, die Entscheidung mehrfach zu begründen, es hätte sich also auch allein auf die Begründung stützen können, die keine Zulassung auslösen kann. Wenn es dennoch zur besseren Überzeugung und Absicherung noch eine weitere Begründung gegeben hat, wäre es ungerechtfertigt, in diesem Falle die Revision allein deshalb zuzulassen, weil hinsichtlich der weiteren Begründung ein Zulassungsgrund geltend gemacht werden kann. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Reihenfolge das LSG die Gründe abgehandelt hat. Zum anderen ist in einem solchen Falle auch nicht mit hinreichender Sicherheit zu erwarten, daß das Revisionsgericht die bei nur einer Begründung aufgeworfene Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entscheiden wird (vgl Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1971, Rdnrn 79 ff mwN). Der Bundesfinanzhof hebt mit Recht hervor, daß es nicht (die erste) Aufgabe des Revisionsgerichtes sei, eine (abstrakte) Rechtsfrage zu klären, es müsse vielmehr den Einzelfall und nur in diesem Rahmen gegebenenfalls auch Fragen von grundsätzlicher Bedeutung entscheiden. Das Revisionsgericht kann deshalb seine Prüfung auch nach Gesichtspunkten der Prozeßökonomie ausrichten (so der Senat in SozR 1500 § 87 Nr 5; aA insoweit Behn, Die Rentenversicherung 1980, 145, 154). Bei mehrerer Begründung wäre es also möglich und zulässig, daß das Revisionsgericht sich im künftigen Revisionsverfahren nur mit der Begründung befaßt, gegen die kein Zulassungsgrund vorgebracht werden kann, die darum insbesondere auch keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung einschließt. Dies entspricht aber nicht dem Sinn und Zweck der Nichtzulassungsbeschwerde.

Die Beklagte hätte deshalb auch hinsichtlich der weiteren (zweiten) Begründung des LSG einen Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 SGG geltend machen müssen. Da sie das nicht getan, den Erfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 2 SGG somit nicht genügt hat, ist ihre Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1981, 464

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