Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 16.12.1977; Aktenzeichen L 4 Kr 1662/75)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Dezember 1977 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um eine Beitragsforderung zur landwirtschaftlichen Krankenversicherung. Der Kläger ist selbständiger Landwirt und Mitglied der landwirtschaftlichen Alterskasse. Mit Bescheid vom 22. Juli 1974 teilte ihm die Beklagte mit, als landwirtschaftlicher Unternehmer sei er auch bei ihr Mitglied; sie forderte von dem Kläger Beiträge ab Oktober 1972 von monatlich 108,-- DM und ab Januar 1974 von monatlich 117,-- DM. Der Bescheid ging dem Kläger im August 1974 zu.

Der Kläger wollte im Januar 1975 daraufhin die Versicherung “kündigen”, erhob dann aber im April 1975 gegen die rückwirkende Beitragsveranlagung Widerspruch. Die Beklagte wies den Widerspruch aus sachlichen Gründen zurück, ohne auf die Versäumung der Widerspruchsfrist einzugehen (Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 1975).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Heilbronn die Bescheide der Beklagten hinsichtlich der Beitragsforderung für die Zeit bis Juli 1974 aufgehoben; es hielt den Widerspruch für rechtzeitig erhoben und die bezeichnete Beitragsforderung für verwirkt (Urteil vom 11. Dezember 1975). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg die Klage als unbegründet abgewiesen. Dem Begehren des Klägers stehe die materielle Bindungswirkung des Bescheides vom 22. Juli 1974 entgegen. Dieser Bescheid sei dem Kläger spätestens Ende August 1974 mit ordnungsgemäßer Belehrung über den zulässigen Widerspruch bekanntgegeben worden. Der Kläger habe Widerspruch erst lange nach Ablauf der einmonatigen Widerspruchsfrist eingelegt. Ein Anlaß für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bestehe nicht. Wenn die Beklagte gleichwohl über den Widerspruch sachlich entschieden habe, statt ihn als unzulässig zu verwerfen, so vermöge dies entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) eine sachliche Prüfung des Anspruchs im gerichtlichen Verfahren nicht zu rechtfertigen.

Mit der Revision meint der Kläger, die Rechtsmittelbelehrung im Bescheid vom 22. Juli 1974 sei mißverständlich und unklar gewesen, der Widerspruch daher rechtzeitig erhoben; zumindest habe die Beklagte durch die sachliche Bescheidung des Widerspruchs den Klageweg eröffnet. Da die Forderung der Rückstände gegen Treu und Glauben verstoße, sei die Klage auch in der Sache begründet.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Zu Recht hat das LSG die Klage, wenn auch ohne weitere Ausführungen, als zulässig erachtet. Dem steht nicht entgegen, daß der Bescheid vom 22. Juli 1974, wie hier unterstellt werden kann, vom Kläger nach Ablauf des Monats September 1974 nicht mehr mit Widerspruch angefochten werden konnte. Die fristgerechte Anfechtung eines Bescheides innerhalb der Widerspruchsfrist gehört im Verfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht zu den Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Anfechtungsklage (so schon SozR Nr 2 zu § 87 SGG). Das SGG verlangt insoweit nur das Vorliegen der in den §§ 78 und 87 enthaltenen Sachurteilsvoraussetzungen. Sie hat der Kläger erfüllt. Nach § 78 Abs 1 Satz 1 sind – von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen – vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Das ist mit der sachlichen Entscheidung über den Widerspruch des Klägers geschehen. Nach § 87 Abs 2 beginnt die Klagefrist, wenn ein Vorverfahren – wie hier – stattgefunden hat, mit der Zustellung des Widerspruchsbescheides. Diese Frist hat der Kläger mit der Klage gewahrt. Darüber hinaus mag zwar stillschweigende Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Anfechtungsklage außerdem sein, daß der Verwaltungsakt überhaupt noch anfechtbar ist. Dabei ist aber nur auf die Anfechtbarkeit mit Rechtsbehelfen, die ein gerichtliches Verfahren, nicht solchen, die ein (weiteres) Verwaltungsverfahren eröffnen, abzustellen. Daß der Bescheid vom 22. Juli 1974 nach September 1974 mit dem Rechtsbehelf des Widerspruchs nicht mehr anfechtbar war, ist somit auch aus diesem Gesichtspunkt für die Zulässigkeit der Klage unerheblich.

An der Feststellung der Zulässigkeit der Klage wird der Senat nicht durch eine Entscheidung des Bundesfinanzhofes -BFH- (BStBl 1970, II, 548) gehindert, welche zu den Sachurteilsvoraussetzungen der finanzgerichtlichen Klage die fristgerechte Einlegung des dieser vorgeschalteten Einspruchs gerechnet hat. Denn der BFH hat seine Entscheidung, daß die nach verspätetem Einspruch erhobene Klage unzulässig ist – um sie von Entscheidungen des BVerwG abzugrenzen, welche die Rechtzeitigkeit des außergerichtlichen Rechtsbehelfs der Sachprüfung zuordnen (BVerwG, DVBl 1964, 190; 1965, 89) –, ausdrücklich auf den Fall bezogen, daß die Verwaltung den verspäteten Einspruch mit Recht als unzulässig verworfen hat (vgl auch BFH, DStBl 1970 II 839, 841). Da hier die Verwaltung über den Widerspruch jedoch sachlich entschieden hat, entfällt jedenfalls deshalb im vorliegenden Falle eine Verpflichtung zur Anrufung des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes.

Im Ergebnis folgt der Senat ferner der Auffassung des LSG, daß die Klage unbegründet ist.

Dabei sieht der Senat hier keinen triftigen Anlaß, die vom LSG verneinte, vom BVerwG dagegen wiederholt bejahte (BVerwGE 15, 306, 310; 28, 305, 308; DVBl 1964, 190; 1965, 89; 1972, 423; vgl dazu ferner BFH aaO sowie Bettermann, JZ 1965, 265 und Menger, VerwArch 65, 288) Frage zu entscheiden, ob eine Widerspruchsstelle nach verspätetem Widerspruch durch eine sachliche Entscheidung über den Widerspruch erneut den Klageweg oder genauer den Weg zur sachlichen Nachprüfung des Erstbescheides im Rechtsstreit eröffnen kann. Der Senat verkennt nicht, daß das LSG die Revision gerade zur Klärung dieser Frage zugelassen hat; er muß jedoch bedenken, daß, wenn man dem LSG folgen wollte, gegebenenfalls der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zu einem Problem angerufen werden müßte, das bisher in der Sozialgerichtsbarkeit, soweit bekannt, kaum mal eine Rolle gespielt hat. Andererseits ergibt der feststehende Sachverhalt jedoch, daß die Klage in der Sache auch dann keinen Erfolg haben kann, wenn dem Bescheiden vom 22. Juli 1974 noch keine sachliche Bindungswirkung zuzuschreiben ist. Der Senat macht daher von dem jedem Gericht zustehenden Recht Gebrauch, unter mehreren möglichen sachlichen Abweisungsgründen denjenigen Grund auszuwählen, aus dem nach seiner Ansicht jedenfalls die Klage scheitern muß; das ist hier die vom Senat bejahte Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 22. Juli 1974.

Insoweit ist nach dem feststehenden Sachverhalt die Beitragspflicht des Klägers für die streitige Zeit nach § 2 Abs 1 Nr 1 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte nicht zu bestreiten und wird auch vom Kläger nicht bestritten. Ebensowenig ist die entsprechende Beitragsforderung der Beklagten verjährt, da bei Erlaß des Bescheides vom 22. Juli 1974 noch die zweijährige Verjährungsfrist des § 29 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegolten hat. Der Beitragsbescheid wäre daher nur dann rechtswidrig, wenn die Beitragsforderung verwirkt worden wäre. Das ist nicht der Fall.

Von einer Verwirkung kann nur dann die Rede sein, wenn ein Recht erst ungewöhnlich spät geltend gemacht wird und zu dem Zeitablauf noch besondere Umstände hinzutreten, die in Verbindung mit der langen Untätigkeit der Verwaltung in dem Verpflichteten den Eindruck erweckt haben, die Verwaltung werde von ihrem Recht keinen Gebrauch mehr machen ( BSGE 34, 124, 125). Der Kläger kann der Beklagten keine ihn in diesem Sinne irreführenden Umstände entgegenhalten. Weder der ihm von der Beklagten im Januar 1973 übersandte Fragebogen noch die spätere Nachfrage der Beklagten vom August 1973 nach dem Geburtsdatum der Ehefrau konnten bei dem Kläger den Eindruck erwecken, die Beklagte halte ihn in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung nicht für versicherungspflichtig. Es bleibt somit nur die Zeit, die die Beklagte danach noch bis zum Beitragsbescheid im Juli 1974 hat verstreichen lassen. Dieser reine Zeitablauf kann aber nur für die Frage der Verjährung, nicht für die der Verwirkung bedeutsam sein.

Für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beitragsbescheides unerheblich ist schließlich das Vorbringen des Klägers, er sei durch die Nachforderung gezwungen, Grundstücke zu verkaufen. Auch solche wirtschaftlichen Verhältnisse können nicht zu einer Verwirkung der Nachforderung führen; es obliegt der Beklagten, sie gegebenenfalls durch Einräumung von Zahlungsfristen oder auf andere Weise im Vollstreckungsverfahren angemessen zu berücksichtigen.

Die Revision des Klägers war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI797382

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