Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob eine spätere rückwirkende Veränderung in dem für die Versicherungspflicht maßgebenden Sachverhalt einen Einfluß auf die Wirksamkeit von Pflichtbeiträgen haben kann.

Der Kläger war vom 1. Juli 1937 bis Mai 1945 länger dienender Freiwilliger bei der Deutschen Wehrmacht. Von Mai 1945 bis Mai 1962 übte er mit Unterbrechungen verschiedene Tätigkeiten aus, aufgrund deren für 116 Monate Rentenversicherungsbeiträge entrichtet wurden. Ab 30. Mai 1962 bis 2. Mai 1968 war der Kläger als selbständiger Schuhmacher in der Handwerksrolle eingetragen.

Mit Bescheid vom 22. August 1962 stellte die Beklagte Versicherungspflicht in der Handwerkerversicherung ab 1. Juni 1962 fest und erklärte den Kläger für verpflichtet, für jeden zweiten Monat einen Rentenversicherungsbeitrag zu zahlen. Mit einem weiteren Bescheid vom 22. Januar 1966 wurde unter erneuter Feststellung der Versicherungspflicht nunmehr die Verpflichtung zur monatlichen Beitragszahlung ausgesprochen. Das Ende der Versicherungspflicht wurde mit Bescheid vom 27. September 1968 für die Zeit ab 1. Mai 1968 festgestellt.

Im März 1969 stellte der Kläger Antrag auf Nachversicherung nach § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes vom 5. November 1957 i.d.F. des Gesetzes vom 25. Februar 1960 (AKG). Das Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen entsprach diesem Antrag mit Bescheid vom 22. April 1969 für die Zeit vom 1. Juli 1937 bis 8. Mai 1945. Durch diese Nachversicherung ergab sich, daß dem Kläger seit Beginn seiner Tätigkeit als (in der Handwerksrolle eingetragener) selbständiger Handwerker (30. Mai 1962) lediglich fünf Monatsbeiträge fehlten, um die Zahl 216 von Beitragsmonaten zu erfüllen und damit die Grenze der Versicherungspflicht nach § 1 Abs. 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) zu erreichen.

Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 7. November 1972 fest, daß der Kläger ab 1. März 1963 nicht mehr der Versicherungspflicht nach dem HwVG unterlegen habe. Gleichzeitig wurde angefragt, ob die (nach dem 1. März 1963 entrichteten) Beiträge als freiwillige Beiträge angerechnet oder zurückgezahlt werden sollten.

Der Kläger erklärte daraufhin mit Schreiben vom 22. November 1972, daß die genannten Beiträge freiwillige Beiträge sein sollten und eine Rückzahlung nicht in Betracht komme. Mit Schreiben vom 21. Januar 1974 (eingegangen am 22. Januar) bestand der Kläger dann jedoch auf der Anrechnung der ab 1. März 1963 entrichteten (Pflicht-) Beiträge als Pflichtbeiträge. Die Beklagte erläuterte in einer Antwort vom 8. Februar 1974 noch einmal den Wegfall der Versicherungspflicht und wies erneut darauf hin, daß die vor dem 1. März 1963 entrichteten Beiträge nur als freiwillige Beiträge angerechnet werden könnten. Der Widerspruch wurde von der Beklagten mit eingehender sachlicher Begründung zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 4. September 1974), Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Dortmund vom 27. Oktober 1976; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. August 1977). Das AG hat die Auffassung vertreten, der Bescheid vom 7. November 1972 sei bindend geworden. Durch ihn sei rechtsverbindlich eine Beanstandung der hier streitigen Pflichtbeiträge erfolgt. Im übrigen sei der Bescheid auch inhaltlich richtig gewesen. Nach Wegfall der Versicherungspflicht seien die entrichteten Pflichtbeiträge als freiwillige Beiträge anzusehen gewesen. Die Beklagte sei auch befugt gewesen, den Bescheid über die Versicherungspflicht rückwirkend aufzuheben. Als Bescheid mit teils belastendem, teils begünstigendem Inhalt könne er stets aus überwiegenden öffentlichen Interessen aufgehoben werden. Solche Interessen seien hier zu bejahen.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, daß durch die Antwort der Beklagten vom 8. Februar 1974 und den Widerspruchsbescheid vom 4. September 1974 das Verfahren wieder eröffnet worden sei, so daß die Bindungswirkung des früheren Bescheides keine Rolle mehr spiele. Eine sachliche Überprüfung ergebe, daß die Beklagte zur Aufhebung ihrer früheren Bescheide nicht berechtigt gewesen sei. Auch könne die Umwandlung der Pflichtbeiträge in freiwillige Beiträge nicht rechtmäßig sein. § 1422 der Reichsversicherungsordnung (RVO) setze einen mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakt voraus. Der Kläger habe seine Erklärung aber wirksam wegen Irrtums angefochten.

Der Kläger beantragt dem Sinne nach,die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. August 1977 und des Sozialgerichts Dortmund vom 27. Oktober 1976 aufzuheben sowie unter Aufhebung der Bescheide vom 7. November 1972 und 8. Februar 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. September 1974 die Beklagte zu verurteilen, die vom 1. März 1963 bis einschließlich Februar 1968 entrichteten Beiträge als Pflichtbeiträge anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie hält im Anschluß am die Ausführungen des LSG den Bescheid vom 7. November 1972 für bindend und sieht in ihren späteren Entscheidungen keinen Verzicht auf die Bindungswirkung. Im übrigen ist sie der Auffassung, daß nach der zwingenden Vorschrift des § 1 Abs. 1 HwVG Beiträge, die über den Rahmen von 216 Beitragsmonaten hinaus entrichtet worden seien, nicht den Charakter von Pflichtbeiträgen haben könnten, und deshalb nach § 1422 RVO lediglich als freiwillige Beiträge angerechnet werden könnten. Eine Zustimmung des Versicherten sei nur insoweit erforderlich, als zwischen Anrechnung als freiwilliger Beitrag oder Rückzahlung zu entscheiden sei.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden.

Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Die Revision ist nicht schon deshalb unbegründet, weil die Klage wegen Versäumung der Widerspruchsfrist unzulässig war oder die Bindungswirkung des Bescheides vom 7. November 1972 einer dem Kläger günstigen Entscheidung entgegenstand.

Der Widerspruch des Klägers richtete sich seinem Wortlaut nach zwar nur gegen die Erläuterungen im Schreiben vom 8. Februar 1974. Insoweit wäre der Widerspruch allerdings unzulässig, weil das Schreiben vom 8. Februar 1974 keinen Verwaltungsakt darstellt, sondern lediglich einen früheren Verwaltungsakt erläutert. Aus dem sachlichen Inhalt des Widerspruches ergibt sich indes deutlich, daß sich der Kläger nicht nur gegen diese Erläuterungen wenden wollte, sondern gegen die in dem Bescheid vom 7. November 1972 enthaltene Beitragsbeanstandung. Daß er dabei die ihm als Laien nächstliegende letzte (erläuternde) Äußerung der Beklagten als Gegenstand der Anfechtung bezeichnet hat, ist unschädlich, da das Ziel des Widerspruches unabhängig davon deutlich zum Ausdruck kommt. Ebensowenig schadet es, daß die Beklagte sich in ihrem Widerspruchsbescheid ebenfalls nur auf das Schreiben vom 8. Februar 1974 bezogen und dieses fälschlich als anfechtbaren Verwaltungsakt angesehen hat. Entscheidend ist, daß auch die Widerspruchsstelle sich in ihrer Entscheidung nicht auf diese Erläuterungen beschränkt, sondern vollinhaltlich über die mit Bescheid vom 7. November 1972 getroffene Regelung erneut befunden hat. Es handelt sich also um einen Widerspruchsbescheid, in dem ungeachtet der Tatsache, daß inzwischen die Anfechtungsfrist für den Verwaltungsakt vom 7. November 1972 abgelaufen war, sachlich über den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch entschieden worden ist.

Diese - unter Nichtbeachtung des Ablaufs der Anfechtungsfrist getroffene - Entscheidung hat zur Folge, daß die Klage zulässig ist und auch eine Bindungswirkung der früheren Entscheidung einer abweichenden Entscheidung in der Sache nicht entgegensteht.

Die Einhaltung der Widerspruchsfrist ist nämlich, wie das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in ständiger Rechtsprechung (BVerwGE 15, 306, 310; 28, 305, 308; BVerwG DVBl. 64, 190; 65, 89; 72, 423, 79, 819) und ihm folgend der 11. Senat des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR 1500 § 87 Nr. 5) entschieden haben, keine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage. Dieser Auffassung schließt sich der Senat an.

Das BVerwG hat in diesen Entscheidungen (vor allem BVerwG DVBl. 65, 89, 90 f.) ferner zum Ausdruck gebracht, daß einer gerichtlichen Nachprüfung in der Sache die Bindungswirkung des früheren Bescheides nicht entgegensteht, wenn die Behörde über den verspätet eingelegten Widerspruch sachlich entschieden hat. Diese Auffassung wird damit begründet, daß außerhalb der streng formalisierten Vorschriften des Prozeßrechts eine Rechtsbehelfsfrist nur dazu diene, die Behörde bei Versäumung der Frist von der Verpflichtung zu befreien, den Verwaltungsakt aufgrund eines Widerspruchs sachlich zu überprüfen. Die Sachherrschaft der Behörde, d.h. ihr freies Ermessen über den Widerspruch sachlich zu entscheiden, werde durch die Versäumung der Einspruchsfrist hingegen nicht berührt.

Für den Bereich des Sozialrechts ist diese Frage bisher noch nicht entschieden worden. Der 11. Senat des BSG hat sie in dem oben zitierten Urteil offengelassen. Sie kann jedoch im Sozialrecht nicht anders beantwortet werden; denn die vom BVerwG angeführten Gründe gelten auch hier. Bejaht man aber in Fällen der vorliegenden Art die Zulässigkeit der Klage, dann kann auch nicht mehr von einer materiellen Bindungswirkung des angefochtenen Bescheides ausgegangen werden. Mit materieller Rechtskraft wird grundsätzlich die Auswirkung einer unanfechtbar gewordenen Entscheidung im Rahmen eines anderen Verfahrens, jedenfalls außerhalb des die Entscheidung unmittelbar betreffenden Verfahrens, bezeichnet (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung - ZPO - 37. Aufl. Einführung vor § 322 Anm. 1 B; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - 7. Aufl. § 121 Anm. 4). Soweit Verwaltungsakten eine materielle Bindungswirkung zukommt, könnte die Folgerung keine andere sein (vgl. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. § 52 II b; Wallerath DÖV 70, 653, 656). Für das eine bestimmte Entscheidung unmittelbar betreffende Verfahren ist allein die formelle Bindungswirkung oder Rechtskraft zu prüfen, d.h. im vorliegenden Falle die Anfechtbarkeit. Hierdurch wird bestimmt, ob eine Kontrollinstanz sich erneut mit dem Verwaltungsakt befassen kann oder muß. Bejaht man dies, so kann auch eine materielle Bindungswirkung nicht bestehen. Im übrigen liegt in der Auffassung, daß die Versäumung der Widerspruchsfrist die Klage nicht unzulässig macht, nur dann ein Sinn, wenn sich das Gericht aufgrund dieser Klage inhaltlich mit dem Verwaltungsakt befassen kann. Könnte es dies nicht, so müßte die Klage regelmäßig aus einem anderen Grunde, nämlich wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses, als unzulässig abgewiesen werden (vgl. Eyermann/Fröhler VwGO 7. Aufl. § 70 Anm. 5a). Die Kritik an der Auffassung des BVerwG (vgl. z.B. Buri, DÖV 64, 299, Menger, VerwArch 1965, 288; Bettermann JZ 65, 265; von Mutius, Das Widerspruchsverfahren der VwGO als Verwaltungsverfahren und Prozeßvoraussetzung, 1969, Seite 187 ff. insbesondere 196 ff.; Wallerath, DÖV 70, 653) setzt dementsprechend auch nicht daran an, daß das BVerwG gleichzeitig eine Bindungswirkung in der Sache verneint hat, sondern an der Ausgangsüberlegung, daß die Einhaltung der Widerspruchsfrist keine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage sei, wenn über den Widerspruch sachlich entschieden worden sei.

Der Verneinung einer (materiellen) Bindung des verspätet angefochtenen Verwaltungsaktes für die Fälle, in denen die Widerspruchsstelle sachlich entschieden hat, steht für den Bereich des Sozialrechts auch § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht entgegen. Die Wortfassung des § 77 SGG spricht allerdings zunächst dafür, daß für die den Sozialgerichten zugewiesenen Rechtsgebiete die vom BVerwG in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts über die "Sachherrschaft der Behörde" nicht gelten, daß insbesondere die vom BVerwG angenommene Befugnis zur Widerspruchsentscheidung auch auf verspäteten Widerspruch nicht gilt. Einer solchen, allein an der Wortfassung orientierten Auslegung vermag der Senat aber nicht zu folgen. Das Sozialrecht weist keine Besonderheiten auf, die eine stärkere Bindung der Verwaltung auch zu Lasten des Bürgers erforderlich machen könnten (zu der Geltung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts s. BSGE 18, 22, 28). Soweit es um Leistungen geht, hat das Gesetz hier sogar - stärker als im allgemeinen Verwaltungsrecht - eine weitgehende Verpflichtung zur Korrektur fehlerhafter belastender Verwaltungsakte vorgesehen (siehe z.B. §§ 1300 und 627 RVO).

Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte des § 77 SGG gestützt. Die amtliche Begründung (BT-Drucks. 1/4357 zu § 26) bezieht sich nur auf den Bestandsschutz begünstigender Verwaltungsakte, vor allem der Leistungsbescheide, denen (allerdings auch im Interesse der leistungspflichtigen Behörden) eine materielle Bindung zukommen soll. Im übrigen ist im Rahmen der zur Zeit laufenden Novellierungsbestrebungen für die verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgeschlagen worden, den § 77 SGG nicht in die neue einheitliche Prozeßordnung zu übernehmen (vgl. Meyer-Ladewig SGG § 77 Am 1). Es kann also auch für das Sozialrecht in dem hier interessierenden Bereich davon ausgegangen werden, daß § 77 SGG die "Sachherrschaft der Behörde", insbesondere der Widerspruchsstelle, nicht stärker einschränkt, als dies im allgemeinen Verwaltungsrecht der Fall ist. Dementsprechend ist, nachdem die Widerspruchsstelle der Beklagten über den vom Kläger verspätet eingelegten Widerspruch sachlich entschieden hat, die Klage gegen den Bescheid vom 7. November 1972 als zulässig anzusehen; das Gericht ist an einer anderen Sachentscheidung auch nicht durch eine Bindungswirkung dieses Bescheides gehindert (so auch Meyer-Ladewig § 84 Anm. 7).

Da eine solche Bindung nicht eingetreten ist, kann auch dahinstehen, ob der Auffassung zu folgen ist, daß die Beanstandung von Beiträgen kein Verwaltungsakt, sondern eine verfahrensrechtliche Befugnis darstellt und schon deshalb einer Bindungswirkung nicht fähig ist (so BSG SozR Nr. 2 zu § 1421 RVO).

Die somit erforderliche sachliche Überprüfung des angefochtenen Bescheides kann durch das Revisionsgericht nicht abschließend erfolgen, weil noch Feststellungen dazu fehlen, ob die Beklagte durch das in den Beitragsbescheiden liegende Anerkenntnis der Versicherungspflicht an einer Beanstandung der Beiträge gehindert ist.

Seinem Inhalt nach enthält der Bescheid vom 7. November 1972 zunächst für die Zeit ab 1. März 1963 eine Aufhebung der früheren, die Versicherungspflicht feststellenden Bescheide. Zugleich wird festgestellt, daß der Kläger ab 1. März 1963 versicherungsfrei war. Insoweit hat die Beklagte die im Rahmen ihrer Aufgabe als Einzugsstelle erlassenen früheren Bescheide korrigiert. Der Bescheid vom 7. November 1972 enthält aber zugleich eine Beanstandung i.S. der §§ 1421 ff. RVO (die die Beklagte in ihrer Eigenschaft als beitragsverwaltende Stelle ausspricht). Dies wird insbesondere im Hinweis auf die Rechtsfolgen des § 1422 RVO (Umbuchung in freiwillige Beiträge oder Rückzahlung) deutlich. Das Recht zur Beanstandung setzt dabei die wirksame Aufhebung der früheren Bescheide voraus. Die Aufhebung wiederum konnte hier nur erfolgen, wenn die rückwirkende Nachversicherung einen Einfluß auf das Bestehen der Versicherungspflicht hatte. Das war der Fall.

Allerdings ist in einer Reihe von Entscheidungen des BSG rückwirkenden Veränderungen kein Einfluß auf Versicherungspflicht, Versicherungsfreiheit sowie auf die Wirksamkeit und den Charakter entrichteter Beiträge eingeräumt worden. Ein allgemeiner Grundsatz ist jedoch nur insoweit entwickelt worden, als eine rückwirkende Veränderung im Lohngefüge und bei der Beitragspflichtigkeit von Lohnbestandteilen nicht zu einer rückwirkenden Veränderung der Beitragspflicht führt (BSGE 22, 162, 165 f.; 26, 120, 123; BSG Urteil vom 30. November 1978 - 12 RK 26/78 - zur Veröffentlichung bestimmt). Soweit es dagegen unabhängig von Art und Umfang der Einkünfte um den Status als Versicherungspflichtiger oder Versicherungsberechtigter ging, ist der Ausschluß der Rückwirkung nicht aus allgemeinen Grundsätzen, sondern aus den Besonderheiten der jeweiligen Sach- und Rechtslage entwickelt worden. Dies gilt sowohl für die rückwirkende Einweisung eines Beamten in eine Planstelle (BSG SozR Nr. 6 zu § 169 RVO mit weiteren Nachweisen), die Wirkung rückwirkender Bewilligung von Witwengeld für eine Beamtenwitwe nach dem G 131 (BSGE 11, 243), die Wirksamkeit eines Pflichtbeitrages für den Antragsmonat bei rückwirkender Bewilligung von Altersruhegeld (SozR Nr. 7 zu Art. 2 § 38 ArVNG), die rückwirkende Herstellung der Voraussetzung für die Versicherungsfreiheit nach der Übergangsvorschrift des § 6 HwVG (BSG Urteil vom 12. Dezember 1968 - 12 RJ 134/67 -) und auch für den Einfluß rückwirkender Entziehung von Leistungen auf die Krankenversicherungspflicht von Leistungsbeziehern nach dem Arbeitsförderungsgesetz - AFG - (SozR Nr. 1 zu § 107 AVAVG). In der letztgenannten Entscheidung ist der Ausschluß der Rückforderung zwar lediglich dem im Gesetz gebrauchten Ausdruck "Bezug des Hauptbetrages" entnommen worden, obwohl dieser Begriff unterschiedliche Deutungen zuläßt. Die Auswahl unter den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten erfolgte aber nicht im Hinblick auf einen allgemeinen, über den zu entscheidenden Bereich hinausgehenden Rechtsgedanken, sondern aufgrund der Entwicklung von Schrifttum und Rechtsprechung gerade im Bereich der Krankenversicherungspflicht von Arbeitslosengeldbeziehern.

Umgekehrt ist die Unwirksamkeit entrichteter Pflichtbeiträge für die Zeit ab dem 65. Lebensjahr bei rückwirkender Bewilligung des Altersruhegeldes damit begründet worden, daß das Gesetz ausdrücklich Versicherungsfreiheit ab Rentenbeginn vorsieht (§ 1229 Abs. 1 Nr. 1 RVO); eine Bezugnahme auf einen allgemeinen Grundsatz erfolgte ebenfalls nicht (BSG SozR Nr. 7 zu Art. 2 § 38 ArVNG).

Auch im Rahmen der Handwerkerversicherung ist der nachträglichen Aufdeckung von Beitragszeiten oder einer nachträglichen Nachversicherung eine Rückwirkung auf die Versicherungspflicht beizumessen. Die Handwerkerpflichtversicherung ist in § 1 Abs. 1 HwVG auf Handwerker beschränkt worden, die noch nicht für 216 Monate Rentenversicherungsbeiträge entrichtet haben. Nur in diesem Umfang sollten die Handwerker belastet werden; nur in diesem Umfang sollen sie aber auch an den Vorteilen der Pflichtversicherung teilhaben. Diese Grundlage des gesamten Versicherungssystems wird nicht dadurch verändert, daß sich die Klärung des Versicherungsverlaufs verzögert und dieser erst nach einer Entscheidung über die Versicherungspflicht seine endgültige Gestalt erhält.

Die (materielle) Rückwirkung der späteren Nachversicherung auf die Versicherungspflicht zieht allerdings nicht ohne weiteres die Befugnis der Beklagten zur Änderung des Bescheides über die Versicherungspflicht und zur Beanstandung nach sich. Es kann hier dahinstehen, inwieweit solche Bescheide bei Eintritt neuer Umstände rückwirkend geändert werden können, wenn dies noch Einfluß auf den laufenden Beitragseinzug haben kann. Für bereits entrichtete Rentenversicherungsbeiträge sind rückwirkende Änderungen jedenfalls nur im Rahmen des Beanstandungsrechts nach den §§ 1421 f. RVO möglich.

Die Beanstandungsbefugnis der Beklagten ist im vorliegenden Fall möglicherweise dadurch ausgeschlossen, daß sie das Bestehen der Versicherungspflicht bindend anerkannt hat.

Für das Beanstandungsrecht hat ein Verwaltungsakt, der die Versicherungs- und Beitragspflicht feststellt, zugleich den Charakter eines Anerkenntnisses i.S. von § 1423 Abs. 3 RVO (RVA GrE 1599 AN 1912, 676). In § 1423 Abs. 3 Satz 2 RVO ist bestimmt, daß die Anerkennung der Versicherungspflicht durch den Rentenversicherungsträger ihn hindert, den Rentenanspruch mit der Begründung abzulehnen, daß Versicherungspflicht nicht bestanden habe. Aus dieser Vorschrift ist schon ihrem Wortlaut nach zu folgern, daß eine Beanstandung im Rahmen eines Leistungsverfahrens nicht mehr möglich ist, wenn ein Anerkenntnis vorliegt. Der Schutzgedanke der Vorschrift geht jedoch weiter. Sie schließt eine Beanstandung auch außerhalb eines Leistungsverfahrens aus, wenn der Versicherungsträger zuvor die Versicherungspflicht anerkannt hat (BSGE 30, 17, 19 f.).

Allerdings ist die Bindungswirkung eines Anerkenntnisses auch in diesem Falle nicht unbegrenzt. So kann es z.B. hinfällig werden bei rückwirkender Änderung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Versicherungspflicht, wem sich aus dem Gesetz ableiten läßt, daß diese Rückwirkung sich auch auf entrichtete Beiträge erstrecken soll (RVA GrE 5032 AN 1936 IV 329). Ebenso ist eine Berufung auf das Anerkenntnis ausgeschlossen, wenn rückwirkend rechtliche Veränderungen, die die Versicherungspf1icht berühren können, eintreten, wenn sie bei der Abgabe des Anerkenntnisses noch nicht berücksichtigt werden konnten. Der Schutz des Vertrauens auf ein einmal abgegebenes Anerkenntnis gebietet es jedoch, eine Durchbrechung der Bindung des Anerkenntnisses auf die Fälle zu beschränken, in denen der Versicherungsträger alles ihm Zumutbare unternommen hat, um die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für eine zutreffende Entscheidung über die Versicherungspflicht nach dem HwVG zu ermitteln, so daß spätere nachträgliche Korrekturen nicht erforderlich werden. Ob dies hier der Fall war, kann den Feststellungen des LSG nicht entnommen werden. Zur Entscheidung über die Versicherungspflicht in der Handwerkerversicherung war es notwendig, den Umfang der entrichteten Pflichtbeiträge festzustellen, weil die Versicherungspflicht nach § 1 Abs. 1 HwVG auf Handwerker beschränkt ist, die noch nicht für mindestens 216 Kalendermonate Pflichtbeiträge entrichtet haben. Dazu ist es erforderlich, den gesamten Lebenslauf des Versicherten zu erfragen und mit ihm zu erörtern, wann eventuell Pflichtbeiträge entrichtet worden sind. Dazu gehörte auch die Feststellung von Zeiten, für die eine Nachversicherung in Betracht km. Eine solche Klärung hat möglichst vor einer Entscheidung über die Versicherungspflicht zu erfolgen. Sollte die Beklagte hiernach nicht alles ihr vernünftigerweise Zumutbare getan haben, um schon bei Erlaß ihrer Bescheide vom 22. August 1962 und 22. Januar 1966 zu einer zutreffenden Entscheidung über die Versicherungspflicht des Klägers zu kommen, dann kann sie sich später nicht darauf berufen, daß es sich bei der Nachversicherung um eine im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht zu beachtende neue Tatsache handelt, die das Anerkenntnis hinfällig macht.

Ergibt sich indes, daß die Beklagte alles Erforderliche unternommen hat, bevor sie die Entscheidungen über die Versicherungspflicht getroffen hat, muß die Beanstandung als wirksam angesehen werden. In diesem Fall ergibt sich ein Beanstandungsrecht der Beklagten aus § 1422 RVO. Nach dieser Vorschrift können Beiträge, die in der irrtümlichen Annahme der Versicherungspflicht entrichtet worden sind, beanstandet werden. Dabei ist das Wort "irrtümlich" nicht in dem engen Sinne zu begreifen, daß bereits zum Zeitpunkt der Entrichtung die Beitragsentrichtung fehlerhaft war; denn es besteht kein verständiger Grund, Unterschiede zwischen den Fällen zu machen, in denen aufgrund (unverschuldeter) Unkenntnis bestimmter Umstände Pflichtbeiträge entrichtet worden sind und die maßgeblichen Umstände erst nachher bekannt werden, und den Fällen, in denen sich die die Versicherungspflicht begründenden Umstände nachträglich rückwirkend verändert haben. Für die Versicherten und die Versicherungsträger haben letztlich beide Fallkonstellationen die gleiche Bedeutung. Es ist deshalb davon auszugehen, daß das Beanstandungsrecht nach § 1422 RVO sich auch auf eine fehlerhafte Beitragsentrichtung erstreckt, die erst durch nachträglich einwirkende Ereignisse fehlerhaft wird. Auch in diesen Fällen hat dann der Versicherte die Wahl zwischen der Umwandlung der zu Unrecht entrichteten Pflichtbeiträge in freiwillige Beiträge (sofern das Recht zur freiwilligen Versicherung im Zeitpunkt der Entrichtung bestand) und der Rückzahlung.

Von diesem Wahlrecht hat der Kläger i.S. einer Umwandlung in freiwillige Beiträge Gebrauch gemacht. Damit ist dieses Gestaltungsrecht verbraucht. Eine Veränderung der Entscheidung wäre jetzt nicht mehr möglich.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 85

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