Entscheidungsstichwort (Thema)

Unterhaltsverzicht als "leere Hülse". Konventionalscheidung. Geschiedenenwitwenrente

 

Orientierungssatz

1. Anfrage bei dem 4. und dem 5. Senat des BSG, ob sie daran festhalten, daß 1. es für die Unbeachtlichkeit des Unterhaltsverzichts im Rahmen von § 1265 Abs 1 S 2 RVO auch erforderlich ist,

- daß die Witwe es auch subjektiv nach den ihr bekannten Tatsachen (vernünftigerweise) als ausgeschlossen ansehen durfte, daß später wieder Unterhaltsansprüche gegen den Versicherten entstehen, und

- daß diese Erkenntnis (subjektiv) die wesentliche Ursache für den Verzicht war;

2. auch über die Fälle hinaus, in denen der Unterhaltsverzicht nach den vorhandenen Unterlagen des Ehescheidungsverfahrens offensichtlich zu einer dem aktenkundigen Sachstand widersprechenden Entscheidung in der Schuldfrage geführt hat, bei "prozessualem Entgegenkommen zur Erleichterung des gerichtlichen Ausspruchs in der Schuldfrage" der Unterhaltsverzicht nicht als unbeachtlich anzusehen ist.

 

Normenkette

RVO § 1265 Abs 1 S 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 21.01.1991; Aktenzeichen L 2 J 155/90)

 

Tatbestand

Streitgegenstand ist das Wiederaufleben der Witwenrente nach § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung des ersten Ehemannes der Klägerin (Versicherter). Umstritten ist in diesem Zusammenhang die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Unterhaltsverzicht unbeachtet bleiben kann.

Die Ehe der am 16. März 1928 geborenen Klägerin mit dem im Jahre 1924 geborenen Versicherten wurde am 7. Juni 1971 durch Urteil des Landgerichts Landau (rechtskräftig durch Rechtsmittelverzicht am gleichen Tage) aus dem alleinigen Verschulden des Versicherten geschieden. Aus der Ehe ist eine am 3. Juli 1957 geborene Tochter hervorgegangen. Im Rahmen des Scheidungsverfahrens verzichteten die Klägerin und der Versicherte gegenseitig auf Unterhalt einschließlich des Notbedarfs. Die Klägerin erhielt die elterliche Gewalt über die gemeinsame Tochter.

Der Versicherte starb zwischen dem 13. und 15. Oktober 1971. Zur Zeit der Scheidung und seines Todes war er arbeitslos. Er war alkoholabhängig und hatte (nach Angaben der Klägerin) wegen des zunehmenden Alkoholmißbrauchs 1970 seine letzte Arbeitsstelle verloren. Kurz vor der Scheidung war er in der Landesnervenklinik der Pfalz erfolglos behandelt worden. Die Klägerin erzielte sowohl im Zeitpunkt der Scheidung als auch noch beim Tode des Versicherten ein monatliches Arbeitseinkommen von DM 935,-- brutto.

Den nach dem Tode des Versicherten gestellten Antrag auf Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte ab. Die hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg, weil (ungeachtet des Unterhaltsverzichts) nach dem damals geltenden § 1265 Satz 2 RVO (Fassung durch Gesetz vom 9. Juni 1965 - BGBl I, 476) ein Unterhaltsanspruch wegen des eigenen Einkommens der Klägerin nicht bestanden hatte.

Am 11. Juli 1975 ging die Klägerin eine zweite Ehe ein. Diese wurde am 6. Mai 1982 geschieden.

Im Dezember 1988 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung von Hinterbliebenenrente unter Hinweis auf die neue Rechtslage (zunächst § 1265 Satz 2 RVO idF des Gesetzes vom 16. Oktober 1972 - BGBl I, 1965, geändert durch Gesetz vom 7. Mai 1975 - BGBl I, 1061 -, jetzt § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO idF des Gesetzes vom 11. Juli 1985 - BGBl I, 1450) und auf die geänderte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 90 = BSGE 64, 167). Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 8. Februar 1989 ab. Widerspruch und Klage der Klägerin blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1989, Urteil des Sozialgerichts (SG) Koblenz vom 26. Juni 1990). Das SG hat ausgeführt, der Unterhaltsverzicht könne nicht als unbeachtlich angesehen werden, denn wesentliche Ursache für den Unterhaltsverzicht sei es gewesen, den Versicherten überhaupt zu der gewünschten Scheidung zu bewegen. Der Versicherte sei sehr stark dem Alkohol verfallen gewesen. Die Klägerin habe um ihre Gesundheit gefürchtet, sei ständigen Bedrohungen des Versicherten ausgesetzt gewesen und habe diesem für sie unerträglichen Zustand ein schnelles Ende setzen wollen. Der Versicherte sei jedoch zu einer einverständlichen Scheidung nur durch die Erklärung des Verzichts zu bewegen gewesen.

Auf die Berufung der Klägerin verurteilte das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz durch Urteil vom 21. Januar 1991 die Beklagte zur Gewährung von Witwenrente nach § 1265 RVO ab 1. Dezember 1988 mit der Begründung, der Anspruch auf Witwenrente lebe nach § 1291 Abs 2 Satz 1 RVO wieder auf, weil die Klägerin auf Grund der durch das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 (BGBl I, 1965) geänderten Fassung des § 1265 RVO ab 1. Januar 1973 einen Witwenrentenanspruch erworben habe. Die Voraussetzungen des Satzes 2 dieser Vorschrift seien erfüllt. Dem stehe der im Scheidungsverfahren erklärte Unterhaltsverzicht nicht entgegen. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten und des Erwerbseinkommens der Klägerin habe weder im Zeitpunkt der Scheidung noch des Todes des Versicherten ein Unterhaltsanspruch bestanden, noch habe die Klägerin damit rechnen können, daß ihr früherer Ehemann jemals wieder unterhaltsfähig würde. An diesem Ergebnis ändere sich auch nichts, wenn man unterstelle, es habe sich um eine Konventionalscheidung gehandelt.

Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Beklagte mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision. Sie rügt ua, das LSG hätte zur Bedeutung des Unterhaltsverzichtes den im Scheidungsverfahren tätig gewordenen Rechtsanwalt Dr. L. als Zeugen vernehmen müssen. Dieser hätte bekundet, daß der Versicherte sich nicht hätte scheiden lassen, wenn die Klägerin nicht auf Unterhalt verzichtet hätte. Eine sorgfältige Sachverhaltsaufklärung hätte möglicherweise auch ergeben, daß die Klägerin den Unterhaltsverzicht abgegeben habe, um ihrerseits nicht mit Unterhaltsansprüchen des Versicherten überzogen zu werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. Januar

1991 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des

Sozialgerichts Koblenz vom 26. Juni 1990 zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das

Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Der erkennende Senat beabsichtigt, eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Hieran sieht er sich durch die Rechtsauffassungen des 4. und 5. Senates des BSG gehindert.

Zunächst geht der erkennende Senat davon aus, daß der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach dem verstorbenen Versicherten ohne Rücksicht darauf wiederaufgelebt wäre (§ 1291 Abs 2 Satz 1, Abs 3 RVO), daß vor Eingehung der zweiten Ehe eine Rente nicht gezahlt wurde (BSG SozR 2200 § 1291 Nr 24 mwN aus der Rechtsprechung des BSG). Im Rahmen von § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO genügt das Bestehen eines Stammrechts, denn diese Rente ist so angelegt, daß sie nicht notwendig ständig, sondern nur für bestimmte Lebensabschnitte gewährt wird. Sie fällt weg, wenn die Hinterbliebene kein waisenrentenberechtigtes Kind mehr erzieht, weil dieses das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird aber wieder gewährt, wenn die Hinterbliebene berufs- oder erwerbsunfähig wird oder das 60. Lebensjahr vollendet. Dementsprechend ist ohne Bedeutung, ob der Rentenanspruch vor Eingehung der zweiten Ehe endet, weil die Berechtigte kein waisenrentenberechtigtes Kind mehr erzieht. Darauf wird in dem abschließenden Urteil näher eingegangen.

Zu der hier im Vordergrund stehenden Frage nach der Bedeutung des Unterhaltsverzichts für einen Rentenanspruch nach § 1265 RVO ist der erkennende Senat in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung der Auffassung, daß ein Unterhaltsverzicht im Rahmen von § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO uneingeschränkt und im Rahmen von § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO grundsätzlich einen Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente ausschließt. Er schließt sich der bisherigen Rechtsprechung auch insofern an, als aus Billigkeitsgründen in eng begrenzten Ausnahmefällen ein Unterhaltsverzicht dann als unschädlich für einen Rentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO anzusehen ist, wenn er im Hinblick auf die in Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO genannten wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten nur deklaratorischen Charakter hatte ("leere Hülse") (s dazu ua die in der Anfrage genannten Entscheidungen).

Den Tatbestand der "leeren Hülse" sieht der erkennende Senat dann als erfüllt an, wenn

- aus den genannten Gründen sowohl im Zeitpunkt der Scheidung als auch

im Zeitpunkt des Todes kein Unterhaltsanspruch bestand und

- nach den bei Abschluß des Unterhaltsverzichts gegebenen objektiven

Umständen vernünftigerweise in Zukunft nicht mit dem Entstehen von

Unterhaltsansprüchen der geschiedenen Ehefrau gerechnet werden

konnte; es ist also eine Bewertung aus der Sicht eines verständigen

Dritten vorzunehmen, dem alle bei Abschluß des Unterhaltsverzichts

vorhandenen objektiven Umstände bekannt waren (auch diejenigen, die

erst im Laufe des Verfahrens bis zur Entscheidung über den

Hinterbliebenenrentenanspruch bekannt geworden sind).

Der Tatbestand der "leeren Hülse" wird demgegenüber nicht dadurch in Frage gestellt, daß der Unterhaltsverzicht Wirkungen hat, die keinen Bezug zu Unterhaltsansprüchen der geschiedenen Ehefrau haben. Insbesondere ist unbeachtlich, ob der Unterhaltsverzicht den Zweck und die Wirkung hatte, die geschiedene Ehefrau vor Unterhaltsverpflichtungen gegenüber ihrem früheren Ehemann zu schützen; denn der Ausschluß einer Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Versicherten hat unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Einfluß auf den Geschiedenenwitwenrentenanspruch (SozR 2200 § 1265 Nr 94 S 335).

Einen Sonderfall bildet die sogenannte Konventionalscheidung, dh eine Scheidung, in deren Rahmen der Unterhaltsverzicht dazu diente, die Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs auf der Schuldebene erst herbeizuführen. Darauf wird weiter unten gesondert eingegangen.

Im vorliegenden Fall kommt es auf die aufgeworfenen Fragen an, weil

- die Beklagte rügt, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht

hinreichend aufgeklärt worden seien,

- ausreichende Anhaltspunkte für eine (subjektive) Prognose aus der

Sicht der Klägerin nicht festgestellt wurden,

- das LSG festgestellt hat, die Klägerin habe wegen der Bedrohung

durch ihren Ehemann und dessen Weigerung, sich scheiden zu lassen, den

Unterhaltsverzicht erklärt, und die Beklagte außerdem geltend macht,

das Motiv, von eigenen Unterhaltsverpflichtungen frei zu sein, habe im

Vordergrund gestanden und

- die Beklagte auch geltend macht, es habe sich um eine

Konventionalscheidung gehandelt.

Der erkennende Senat sieht sich allerdings durch verschiedene Urteile des 4. und 5. Senats des BSG gehindert, uneingeschränkt in dem oben dargestellten Sinne zu entscheiden.

Der 4. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 15. Dezember 1988 (4/11a RA 42/86 = SozR 2200 § 1265 Nr 92) ausgeführt (SozR aaO S 321):

"Etwas anderes (ein Fall der "leeren Hülse") mit der Folge der

Rentengewährung nach Satz 2 aaO kann daher nur angenommen werden, wenn

... 3) die späteren Hinterbliebenen bei Abschluß des Erlaßvertrages es

vernünftigerweise als ausgeschlossen erachten durften, die in Satz 2

aaO genannten, einen Unterhaltsanspruch hindernden Gründe könnten bis

zum Tode des Versicherten infolge einer in Rechnung zu stellenden

Änderung der Verhältnisse wieder entfallen (zB bei einem - nicht

leistungsfähigen - wegen unheilbarer Krankheit voraussichtlich auf

Lebenszeit erwerbsunfähigen Versicherten ...). Nur unter diesen

Voraussetzungen ist es billig, zum Schutz der Hinterbliebenen

rentenrechtlich von den Rechtsfolgen eines rechtswirksamen

Verzichtsvertrages abzusehen, den sie in Vertragsfreiheit

privatautonom ... abgeschlossen haben."

Diese Rechtsauffassung hat der 4. Senat in der Folgezeit wiederholt (SozR aaO Nrn 93, 94).

Der erkennende Senat entnimmt dieser Begründung, daß es (auch) auf den subjektiven Kenntnisstand der Hinterbliebenen bei Abschluß des Erlaßvertrages ankommen soll, also Irrtümer der Hinterbliebenen sowohl zu ihrem Vorteil als zu ihrem Nachteil gereichen können.

Zu dieser Auslegung sieht sich der erkennende Senat auch deshalb veranlaßt, weil der 4. Senat des BSG in seinem Urteil vom 19. Januar 1989 - 4 RA 16/88 - (SozR 2200 § 1265 Nr. 94) dem Rat des damals die Klägerin vertretenden Rechtsanwalts Bedeutung beigemessen hat. Zugleich läßt diese Entscheidung erkennen, daß der 4. Senat auch den Beweggründen der Hinterbliebenen für die Erklärung des Unterhaltsverzichts Bedeutung beimessen will. Es wird dort (aaO S 335) ausgeführt:

"Es mußte ihr vom damaligen Standpunkt aus vernünftigerweise als

ausgeschlossen erscheinen, daß sie einmal kein oder doch ein so

niedriges Arbeitseinkommen, andererseits aber der Versicherte (so)

hohe Einkünfte haben würde, die ihn zur Erfüllung eines

"Billigkeitsunterhaltsanspruches" iS von § 60 EheG verpflichten

könnten. Das kennzeichnet den gegenseitigen umfassenden

Unterhaltsverzicht als ausschließlich wegen der schlechten Vermögens-

und Erwerbsverhältnisse des Versicherten und wegen ihrer eigenen

Erträgnisse aus dem Beschäftigungsverhältnis erklärt".

Der 5. Senat des BSG hat in seiner Entscheidung vom 28. Juni 1989 - 5 RJ 9/88 - (SozR 2200 § 1265 Nr 98 S 345/346) ausgeführt:

"Da das LSG hier festgestellt hat, daß die Klägerin den Verzicht

deshalb erklärt hatte, 'weil sie der Auffassung war, ein

Unterhaltsanspruch gegen ihren früheren Ehemann werde sich wegen

seiner Einkommens- und Vermögens- und ihrer Einkommensverhältnisse

in Gegenwart und Zukunft nicht realisieren lassen', und sich diese

Annahme als zutreffend erwiesen hat, sind diese Voraussetzungen

erfüllt." ...

"Im übrigen entnimmt der erkennende Senat dem Urteil des 4. Senats vom

19.1. 1989 (aaO), daß auch für den 4. Senat eine Mehrzahl von

Beweggründen beim Abschluß eines Unterhaltsverzichtsvertrages - im

entschiedenen Fall: die Preisgabe der Unterhaltsleistungen des

Ehemannes sowie die Absicherung gegen Unterhaltsforderungen des

Ehemannes - mitgewirkt haben kann, jedoch nicht jeder davon als

rechtserheblicher Grund iS der neuen Rechtsprechung beider Senate zu §

1265 Abs 1 S 2 RVO, § 42 Abs 1 S 2 AVG in Betracht kommt. Der

erkennende Senat sieht hierin eine inhaltliche Übereinstimmung mit

seiner im Urteil vom 23.11.1988 (aaO) vertretenen Auffassung, daß der

Witwenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 S 2 RVO nur dann gegeben ist,

wenn einer der in Nr 1 der Vorschrift genannten Ausschlußgründe

ursächlich (iS der Theorie der wesentlichen Bedingung) für den

Unterhaltsverzicht war".

Hieraus entnimmt der erkennende Senat, daß der 5. Senat ebenso wie der 4. Senat den subjektiven Vorstellungen der geschiedenen Ehefrau bei Erklärung des Unterhaltsverzichts Bedeutung beimißt. Dem später veröffentlichten Urteil des 5. Senats des BSG vom 13. September 1990 - 5 RJ 52/89 - (SozR 3-2200 § 1265 Nr 4) ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen.

Der erkennende Senat hält es demgegenüber für nicht gerechtfertigt, auf den subjektiven Kenntnisstand und die subjektiven Beweggründe der Hinterbliebenen abzustellen. Es geht im Rahmen der Billigkeitserwägungen nicht darum, ein bestimmtes "ungeschicktes" Verhalten zu entschuldigen. Es geht vielmehr allein darum, in den Fällen, in denen der Verzicht keine Veränderungen der objektiven unterhaltsrechtlichen Situation der Hinterbliebenen im Bereich des § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO bewirkt hat, diesem auch keinen Einfluß auf den Rentenanspruch einzuräumen. Gerechtfertigt ist dies aus dem Gedanken, daß durch den Verzicht ebenso wie durch Nichtbeachtung eines solchen Verzichts zu keinem Zeitpunkt ein erhöhtes Risiko des Rentenversicherungsträgers geschaffen wurde, das heißt also, eine Situation gegeben war, bei der vernünftigerweise damit zu rechnen war, daß der Rentenversicherungsträger ohne den Verzicht, gleichviel, wann der Versicherte verstirbt, ebenfalls Rente zu zahlen gehabt hätte.

Stellt man demgegenüber aber auf die subjektiven Vorstellungen der Hinterbliebenen ab, so würden diejenigen geschiedenen Ehefrauen Nachteile erleiden, die im Zeitpunkt des Unterhaltsverzichts über wesentliche, dem Unterhaltsanspruch entgegenstehende Umstände nicht informiert waren, obwohl sie, ebenso wie die anderen, durch ihre Verzichtserklärung objektiv zu keiner Risikoerhöhung beigetragen haben. Der Rentenversicherungsträger würde demgegenüber ohne sachlich überzeugenden Grund von einem Risiko entlastet; denn er hätte, wenn der Verzicht nicht ausgesprochen worden wäre, bei objektiver Aussichtslosigkeit des Entstehens von Unterhaltsansprüchen das Risiko der Rentengewährung tragen und (bei der hier als Bedingung vorausgesetzten tatsächlichen Verwirklichung im Zeitpunkt des Todes) auch Rente zahlen müssen. Der Umfang der subjektiv bei den Eheleuten vorhandenen Kenntnisse hat demgegenüber auf den Umfang des Risikos der Rentenversicherung keinerlei Einfluß.

Aus ähnlichen Überlegungen heraus erscheint es nicht sachgerecht, auf die subjektiven Beweggründe für den Unterhaltsverzicht abzustellen. Die Beweggründe werden in der Regel vielfältig sein. Je stärker die Verhältnisse in der Ehe unerträglich oder bedrohlich sind, um so stärker werden diese in den Vordergrund treten. Die finanziellen Aspekte werden aber selten ganz außer Betracht gelassen. Eine Abwägung des Gewichts dieser Beweggründe würde deshalb dazu führen, daß die besonders bedrohten und schon in der Ehe durch die ehelichen Verhältnisse benachteiligten Ehefrauen von der Rentengewährung ausgeschlossen wären, während diejenigen Ehefrauen, die außer dem finanziellen Aspekt keine wesentlichen weiteren Gründe zu bedenken haben, in den Genuß von Geschiedenenwitwenrente kämen. Dies zeigt sich besonders an dem vorliegenden Fall, aber auch an dem Fall, der dem Urteil des LSG Niedersachsen vom 8. Mai 1991 (- L 2 J 148/89 - beim BSG anhängig unter dem Aktenzeichen - 5 RJ 42/91 -) zugrunde liegt.

Abgesehen von den dargelegten Gründen stößt auch die Ermittlung, welche Umstände der Hinterbliebenen im Zeitpunkt der Erklärung des Unterhaltsverzichts bekannt waren, welche Beweggründe für sie maßgeblich waren und welches Gewicht ihnen beigemessen wurde, auf große Schwierigkeiten und Unsicherheiten, weil derartige subjektive Elemente meist nicht überzeugend zu belegen sind, zumal wenn sie - wie in den meisten Fällen von Geschiedenenwitwenrenten - sehr lange zurückliegen, und der auf der Gegenseite Beteiligte, der Versicherte, nicht mehr zur Verfügung steht.

Kommt es aber somit nicht auf die subjektiven Kenntnisse und Beweggründe an, so entfallen auch Überlegungen dazu, welches die wesentliche Ursache für den Unterhaltsverzicht war. Entscheidend ist dann allein die objektive Wirkung des Verzichts auf mögliche Unterhaltsansprüche der Hinterbliebenen, dh ob auch ohne den Verzicht wegen der in § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO genannten wirtschaftlichen Verhältnisse kein Unterhaltsanspruch bestanden hat (Verneinung einer Kausalität zwischen Verzicht und Wegfall von Unterhaltsansprüchen).

Von den danach nur noch zu beachtenden objektiven Gegebenheiten sind lediglich diejenigen bedeutsam, die einen Bezug zu den in § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO genannten wirtschaftlichen Verhältnissen haben.

Nach allem erscheint es dem Senat erforderlich und ausreichend, den rentenunschädlichen deklaratorischen Charakter eines Unterhaltsverzichts allein danach zu bestimmen, ob im Zeitpunkt der Scheidung wie auch des Todes des Versicherten nach objektiven Kriterien ein wirtschaftlicher Dauerzustand vorlag, der im Zeitpunkt der Scheidung vernünftigerweise objektiv die Folgerung rechtfertigte, daß die Realisierung eines Unterhaltsanspruchs auch in Zukunft ausgeschlossen war.

Einen Sonderfall bildet in diesem Zusammenhang der Fall der sogenannten Konventionalscheidung.

Der 4. Senat des BSG führt dazu in seinem Urteil vom 15.12.1988 - 4/11a RA 42/86 - (SozR 2200 § 1265 Nr 92 S 321 f) folgendes aus:

"Typischerweise, nicht notwendig immer, wird die og Voraussetzung 3)

und damit ein 'leeres' Verfügungsgeschäft dann nicht gegeben sein,

wenn der Unterhaltsverzichtsvertrag Teil einer Scheidungsvereinbarung

gewesen und nach den zur Zeit der Scheidung objektiv gegebenen

Umständen (ua durch Vertragsauslegung) festzustellen ist, daß er

'Gegenleistung' für ein prozessuales Entgegenkommen des Versicherten

zur Erleichterung des gerichtlichen Ausspruchs über die Schuldfrage

war (sog Konventionalscheidung). In derartigen Fällen kann nämlich

regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, daß der Unterhaltsverzicht,

der den Versicherten von den unterhaltsrechtlichen Folgen einer

Scheidung aus seinem alleinigen, überwiegenden oder ggf gleichwertigen

Verschulden (§§ 58 bis 61 EheG) freistellte, ausschließlich deswegen

vereinbart worden ist, weil wegen der in § 42 S 2 AVG genannten Gründe

ein Unterhaltsanspruch ohnehin nicht bestanden hat und voraussichtlich

bis zum Eintritt des Versicherungsfalles (Tod) niemals entstehen

würde. Nahe liegt vielmehr, daß die Vertragsparteien im Blick hatten,

infolge des ausdrücklichen oder konkludent abgesprochenen prozessualen

Verhaltens des Versicherten werde es zu einem Schuldausspruch zu

seinen Lasten kommen, der den Rechtsgrund für eine - uU später sich

ergebende - Unterhaltsverpflichtung des Versicherten schaffen würde,

die aber gerade deshalb durch den Unterhaltsverzicht von vornherein

und endgültig abbedungen sein sollte."

Der 5. Senat des BSG hat zu diesem Problem in seinem Urteil vom 23. November 1988 - 5/5b RJ 100/86 - (SozR 2200 § 1265 Nr 90 S 313 f) ausgeführt:

"Die aufgezeigte Gleichwertigkeit der Gründe für die

Verzichtserklärung muß allerdings in dem ... Fall der sog

Konventionalscheidung dann verneint werden, wenn der 'deklaratorische'

Unterhaltsverzicht ... eine Umkehr der Verschuldenslast iS der §§ 58

Abs 1, 59 Abs 1 S 1 EheG aF bezweckte, also die Ehefrau ohne Erklärung

desselben eine Scheidung aus dem Verschulden des Ehemannes oder aus

beiderseitigem Verschulden iS des § 60 EheG aF nicht hätte erreichen

können und ihr deshalb bei einer Scheidung aus eigenem alleinigem oder

überwiegenden Verschulden ein Unterhaltsanspruch nach dem bis zum 30.

6. 1977 geltenden Recht ohnehin nicht zugestanden hätte ... . Die

Fälle der sog Konventionalscheidung sind in der Regel ... dadurch

gekennzeichnet, daß der Ehemann für die von ihm übernommene Schuld an

der Scheidung von einer 'echten', dh ohne Unterhaltsverzicht

tatsächlich bestehenden, Unterhaltsverpflichtung freigestellt wird,

der Unterhaltsverzicht also gerade nicht eine bloß deklaratorische

Bedeutung hatte".

Der erkennende Senat möchte den dargelegten Auffassungen nur in eingeschränktem Umfang folgen, nämlich insoweit, als aus den vorhandenen Unterlagen des Ehescheidungsverfahrens zu entnehmen ist, daß der Unterhaltsverzicht offensichtlich zu einer dem aktenkundigen Sachstand widersprechenden Entscheidung in der Schuldfrage geführt hat.

Maßgeblich hierfür ist die Überlegung, daß im Rahmen von § 1265 Abs 1 RVO den Sozialgerichten die Prüfung der Schuldfrage nicht gestattet ist. Sie sind insoweit an die Entscheidungen der Zivilgerichte im Ehescheidungsverfahren gebunden (vgl BSGE 10, 171, 172; 13, 166, 167; 27, 256, 257 f). Auch soweit eine Scheidung ohne Schuldspruch erfolgt, sind die im Ehescheidungsverfahren geschaffenen, für den Unterhaltsanspruch maßgeblichen Grundtatsachen allein maßgeblich, ohne daß insoweit weitere Prüfungen angestellt werden dürften. Dies hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 22. Juli 1992 - 13 RJ 17/91 - im einzelnen ausgeführt. Die Gründe liegen auch in den besonderen Schwierigkeiten und Unsicherheiten der Ermittlung und wohl auch im Bereich des Persönlichkeitsschutzes der früheren Eheleute.

Wollte man nun aber bei Erklärung eines Unterhaltsverzichts im einzelnen nachprüfen, inwieweit dieser Unterhaltsverzicht die Entscheidung über die Schuldfrage oder die Parteirollen (§ 61 Abs 2 EheG) beeinflußt hat, müßte genau das geschehen, was der Gesetzgeber aus wohlerwogenen Gründen durch die Gestaltung des § 1265 RVO ausgeschlossen hat. Dies würde den Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung bei weitem überschreiten.

Auch unter diesen Voraussetzungen erscheint es dem erkennenden Senat allerdings zulässig, solche Umstände zu berücksichtigen, die ohne weitere Ermittlung aus vorhandenen Unterlagen des Ehescheidungsverfahrens eindeutig ablesbar sind.

Auf diese Frage kommt es im vorliegenden Verfahren deshalb an, weil nach den eigenen Bekundungen der Klägerin durch den Unterhaltsverzicht das Verfahren beschleunigt werden sollte und wohl auch beschleunigt worden ist, weil andernfalls von seiten des Ehemannes Widerstände zu erwarten gewesen wären. Insoweit ist auch hier durch den Verzicht ein "prozessuales Entgegenkommen des Versicherten zur Erleichterung des gerichtlichen Ausspruchs über die Schuldfrage" bewirkt worden, das nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung des 4. Senats offenbar generell die Unbeachtlichkeit des Verzichts ausschließen soll.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1667815

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge