Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 05.12.2000; Aktenzeichen L 13 AL 1099/00)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 5. Dezember 2000 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid der beklagten Bundesanstalt für Arbeit vom 4. Juli 1996 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 20. September 1996 und des Widerspruchsbescheides vom 30. September 1996 sowie eines vor dem Sozialgericht (SG) geschlossenen Teilvergleichs und damit gegen die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 21. Juni 1995 bis zum 10. März 1996 und die Rückforderung des in dieser Zeit gezahlten Alg in Höhe von DM 19.035,80. In diesem Umfang hatten die Klage zum SG Freiburg und die Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) keinen Erfolg (Urteile vom 13. November 1997 sowie 5. Dezember 2000). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, der das Alg bewilligende Bescheid vom 13. Juli 1995 sei im streitigen Umfang von Anfang an rechtswidrig gewesen, weil der Kläger der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden habe. Denn er habe die Edith-Stein-Schule in Freiburg (Berufsaufbauschule) im Vollzeitunterricht mit 34 Stunden/Woche und Vor- bzw Nacharbeit von mindestens 17 Stunden/Woche besucht, so daß eine Beschäftigung im Umfang von mindestens 18 Stunden daneben überhaupt nicht in Betracht hätte kommen können. Den Schulbesuch habe der Kläger bei der Antragstellung auf Alg nicht angegeben; er habe vielmehr erst im April 1996 eingeräumt, die Edith-Stein-Schule seit 22. August 1994 zu besuchen. Damit lägen sowohl die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 wie Nr 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) vor. Wenn der Kläger nicht sogar gewußt habe, daß ihm Alg nicht zustand, so habe er doch zumindest die erforderliche Sorgfalt grob fahrlässig verletzt. Hieran ändere sich auch nichts dadurch, daß in dem vom Kläger unterschriebenen Antragsformular die Frage 5, in der unter Buchstabe h danach gefragt werde, ob der Antragsteller Schüler sei, bereits von seiten des Arbeitsamts insgesamt mit dem Vermerk „erl. § 105a” durchgestrichen gewesen sei. Denn der Kläger hätte sich auf jeden Fall durch das ihm ausgehändigte Merkblatt für Arbeitslose gedrängt fühlen müssen, auf die Tatsache des Schulbesuches hinzuweisen.

Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung rechtlichen Gehörs, die Verletzung der Amtsermittlungspflicht und die Abweichung vom Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) in SozR 2200 § 1744 Nr 14. Schließlich macht er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist jedenfalls unbegründet.

Der Senat läßt offen, ob eine ordnungsgemäße Beschwerdebegründung nicht bereits deshalb fehlt, weil der Beschwerdeführer die Entscheidung des LSG und den ihr zugrundeliegenden Sachverhalt allenfalls ansatzweise schildert; die Angaben sind zudem – als „Mosaiksteine” – über seinen Vortrag zu den einzelnen Rügen verstreut. Aufgabe der Revisionsinstanz ist es nicht, sich den für die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde erforderlichen Sachverhalt selbst aus dem Berufungsurteil bzw den Gerichts- oder Leistungsakten herauszusuchen.

Es kann offenbleiben, ob die Angaben des Beschwerdeführers zum Sachverhalt ausreichen; auch dann ergibt sich kein Zulassungsgrund.

(1) Soweit der Beschwerdeführer als Verfahrensmangel die Verletzung rechtlichen Gehörs durch das Berufungsgericht rügt (unter 1.1. bis 1.4. der Beschwerdebegründung), folgt bereits aus seinem eigenen Vorbringen, daß das LSG nicht in entscheidungserheblicher Weise gegen den insoweit einschlägigen § 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verstoßen hat.

(a) Nach der genannten Vorschrift ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren; hieraus ist jedoch jedenfalls keine Pflicht zu folgern, dem Vortrag des Klägers und seiner Gewichtung durch diesen zu folgen. Zwar schließt der Grundsatz des rechtlichen Gehörs die Pflicht des Gerichts ein, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Gericht verpflichtet wäre, sich mit jedem Vorbringen eines Prozeßbeteiligten in der Entscheidung ausdrücklich zu befassen (vgl hierzu BSG vom 27. September 1994, BSGE 75, 92, 94 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 mwN); noch weniger folgt hieraus die Pflicht des Gerichts, die Wertungen vorgetragener Tatsachen durch den Kläger zu übernehmen. Nichts anderes aber macht der Beschwerdeführer geltend, wenn er (unter 1.1. der Beschwerdebegründung) rügt, das LSG habe nicht richtig gewürdigt, daß das Antragsformular bereits vom Sachbearbeiter an der entscheidenden Stelle durchgestrichen gewesen sei; wie er jedoch selbst vorträgt, hat das LSG diesen Umstand durchaus berücksichtigt und ihn lediglich für unerheblich gehalten (Bl 14 LSG-Urteil).

(b) Entsprechendes gilt für das Vorbringen des Beschwerdeführers (zu 1.2. der Beschwerdebegründung), das LSG habe den Bearbeitervermerk vom 5. Mai 1994, den das LSG in seinem Tatbestand (Bl 2 LSG-Urteil) verwertet hat, falsch verstanden.

(c) Unter 1.3. bezieht sich die Beschwerdebegründung auf einen Vortrag des Klägers durch Schriftsatz vom 28. Dezember 1996, also im SG-Verfahren. Auch insoweit verweist der Senat auf seine Ausführungen unter (a): Das LSG war nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in der Entscheidung ausdrücklich zu befassen.

(d) „Rechtliches Gehör und (der) Grundsatz rechtsstaatlichen Verfahrens nach Art 20 GG” sind – entgegen den Ausführungen unter 1.4. der Beschwerdebegründung – schließlich auch dadurch nicht verletzt, daß das LSG einen behaupteten Vortrag des Klägers nicht verwertet hat, eine angebliche Stellungnahme einer Frau S. … vom 12. August 1996 stamme nicht von dieser. Die für diesen Vortrag angegebene Belegstelle (Schriftsatz vom 30. Januar 1998, S 2 unten/S 3 oben) enthält einen solchen Hinweis gerade nicht.

(2) Soweit sich der Beschwerdeführer (unter 2.1. und 2.2. der Beschwerdebegründung) darauf bezieht, das LSG sei Beweisanträgen vom 30. Januar 1998 und 16. Dezember 1998 ohne zureichenden Grund nicht gefolgt, ergibt sich aus den Vorgängen in der Berufungsakte, daß sich jene Beweisanträge im Zeitpunkt des LSG-Urteils (am 5. Dezember 2000) erledigt hatten. Denn jedenfalls bei rechtskundiger Vertretung im Berufungsverfahren muß sich ein Beteiligter, der schriftsätzlich einen Beweisantrag stellt, anschließend aber vorbehaltlos sein Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) erklärt, so behandeln lassen, als hätte sich der Beweisantrag erledigt (vgl BSG vom 1. September 1999, SozR 3-1500 § 124 Nr 3). Nicht anders aber lag der Sachverhalt im vorliegenden Fall.

Der Kläger hat nach oa schriftsätzlichen Beweisanträgen in einem weiteren Schriftsatz vom 18. Februar 1999 erklärt, er sei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Beweisanträge wurden insoweit weder in Bezug genommen noch wiederholt oder erneut gestellt. Dennoch hat das LSG Baden-Württemberg die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung am 5. Dezember 2000 geladen; es hat diesen Termin jedoch aufgehoben, nachdem der Kläger auf seine Zustimmung zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im Schriftsatz vom 18. Februar 1999 Bezug genommen hatte und die Beklagte ihre Zustimmung erneuert hatte (Beschluß des Senatsvorsitzenden vom 27. November 2000, den Bevollmächtigten des Klägers zugegangen am 30. November 2000). Spätestens zu diesem Zeitpunkt aber hätte für den Kläger Anlaß bestanden, seine Beweisanträge, wären sie nicht erledigt gewesen, ausdrücklich (schriftsätzlich) nochmals zu stellen. Durch die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 5. Dezember 2000 aber war deutlich geworden, daß das LSG den Rechtsstreit auch ohne weitere Beweisaufnahme – die Ladung enthält insoweit keinen Hinweis – für entscheidungsreif hielt.

(3) Die vom Beschwerdeführer (unter 3. der Beschwerdebegründung) geltend gemachte Abweichung des Berufungsurteils vom BSG-Urteil vom 25. Juni 1980 (SozR 2200 § 1744 Nr 15) liegt nicht vor. Es kann dahingestellt bleiben, ob dem BSG-Urteil der vom Kläger angeführte Rechtssatz:

„Ist ein Leistungsantrag fehlerhaft, so kann die Behörde einen begünstigenden Verwaltungsakt dann nicht zurücknehmen, wenn sie den Fehler bei umfassender Sachaufklärung schon bei Erlaß des Verwaltungsaktes hätte vermeiden können.”

entnommen werden kann. Denn Aussagen jenes Urteils, das zur Norm des früheren § 1744 Reichsversicherungsordnung (RVO) ergangen war, können nach der heutigen Rechtslage (unter Geltung des § 45 SGB X) nicht mehr maßgebend sein. So stellt auch das vom Kläger zitierte BSG-Urteil (aaO S 22) entscheidend darauf ab, daß nach der damaligen Rechtslage generell jene Umstände, die eine Neuprüfung des bindenden Verwaltungsakts rechtfertigten, der Verwaltung vor Erlaß des – fehlerhaften – Verwaltungsakts nicht bekannt waren und nicht bekannt sein konnten, also von ihr unvermeidbar damals noch nicht berücksichtigt oder geltend gemacht werden konnten. Von derartigen Vorstellungen hat sich § 45 SGB X gelöst. Dies hat auch in der Rechtsprechung des BSG seinen Niederschlag gefunden, geht sie doch zB davon aus, daß ein grobes Verschulden der Behörde, das das Vertrauen des Bürgers nachhaltig gestärkt hat, lediglich ein Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen des § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X ist (Senatsurteil vom 14. November 1985, BSGE 59, 157, 163, 164 = SozR 1300 § 45 Nr 19) und daß das Verschulden an der fehlerhaften Entscheidung lediglich beim Ermessen im Sinne des § 45 Abs 1 SGB X (das nach § 152 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz ≪AFG≫ im Arbeitsförderungsrecht nicht ausgeübt werden darf) erheblich ist (zB BSG vom 8. Februar 1996, BSGE 77, 295, 302 f = SozR 3-1300 § 45 Nr 27).

(4) Schließlich macht der Beschwerdeführer mit der von ihm (unter 4. der Beschwerdebegründung) als grundsätzlich angesehenen Rechtsfrage,

„ob ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch dann noch auf Angaben ‚beruht’, die der Antragsteller in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat und ob ein Antragsteller auch dann grob fahrlässig handelt, wenn

  1. die Unvollständigkeit darauf zurückzuführen ist, daß nicht der Antragsteller, sondern der Sachbearbeiter den Leistungsantrag in Widerspruch zum Merkblatt teilweise durchstreicht und
  2. die Behörde entgegen § 16 III SGB I nicht auf die Beseitigung der Unvollständigkeit hinwirkt.”

keinen Zulassungsgrund geltend. Soweit sich die Rechtsfrage lediglich auf die Auslegung des Tatbestandes des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X (unrichtige oder unvollständige Angaben) bezieht, ist sie schon deshalb nicht entscheidungserheblich, weil das LSG sich zur Begründung seiner Entscheidung in gleichem Maße auch auf den Tatbestand des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X gestützt hat, also die Bösgläubigkeit des Klägers. Damit aber könnte allenfalls entscheidungserheblich sein, ob ein grob fahrlässiges Handeln des Antragstellers auch unter den vom Beschwerdeführer formulierten Voraussetzungen a) oder b) vorliegt.

Diese – eingeschränkte – Rechtsfrage jedoch bedarf keiner grundsätzlichen Klärung. Denn insoweit gilt, worauf bereits das LSG hingewiesen hat, ein subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; die Feststellung der groben Fahrlässigkeit durch die Tatsacheninstanz ist zudem mit der Revision nur begrenzt überprüfbar (vgl BSG vom 26. August 1987, BSGE 62, 103, 107 = SozR 1300 § 48 Nr 39). Nach diesen Maßstäben aber kann es jeweils der Beurteilung im Einzelfall überlassen bleiben, ob die vom Beschwerdeführer genannten Gesichtspunkte Berücksichtigung zu finden haben.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175825

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