Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff grobe Fahrlässigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die Aufhebung eines Rentenbescheides nach § 48 SGB 10 muß die Änderung der Verhältnisse in dem Sinne eine "wesentliche" sein, daß der festgestellte Anspruch nicht mehr besteht; der Fortfall eines Anspruchsgrundes allein genügt nicht.

2. Beim Wegfall des sich aus dem Verwaltungsakt ergebenden Anspruchs beziehen sich die in § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10 geforderte Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis auf den Wegfall des Anspruchs und nicht nur auf den eines Anspruchsgrundes.

3. Die rechtskräftige Aufhebung eines Aufhebungsbescheides wegen unterlassener Anhörung schließt es nicht aus, daß die Behörde nach der Anhörung einen erneuten Aufhebungsbescheid mit gleicher zeitlicher Wirkung erläßt.

4. Ist ein erster Aufhebungsbescheid aus Gründen aufgehoben worden, die einen zweiten Aufhebungsbescheid nicht ausschließen, so gilt die Wahrung der Jahresfrist des § 48 Abs 4 S 1 iVm § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 im ersten Bescheid auch für den zweiten, wenn er unverzüglich nach der Aufhebung des ersten ergeht (Fortentwicklung von BSG 23.10.1985 9a RV 1/84 = SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8).

 

Orientierungssatz

Die Unkenntnis über den Wegfall des Anspruchs ist nur dann grob fahrlässig, wenn die Rentenbezieherin aufgrund einfachster und naheliegender Überlegungen sicher hätte erkennen (wissen) können, daß der Anspruch entfallen war. Dazu kann es nicht genügen, daß sie - nach Erhalt des ersten Aufhebungsbescheides - jedenfalls mit dem Wegfall des Anspruchs "rechnen mußte"; denn damit wird noch nichts darüber ausgesagt, ob und inwieweit sie bei der Unkenntnis vom Anspruchswegfall die erforderliche Sorgfalt verletzt hat.

 

Normenkette

SGB X § 48 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 4, §§ 41-42, 45 Abs. 4 S. 2, § 24

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 09.04.1986; Aktenzeichen L 3 An 566/84)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 15.12.1983; Aktenzeichen S 12 An 2326/83)

 

Tatbestand

Streitig ist die nach erfolgloser erster vorgenommene zweite Aufhebung eines Rentenbescheides.

Die im Jahre 1935 geborene Klägerin war bis zur Scheidung ihrer Ehe im November 1975 mit dem am 22. Juni 1977 verstorbenen Versicherten S. verheiratet. Aus der Ehe sind zwei Kinder, geboren am 2. Dezember 1960 und am 16. September 1962 hervorgegangen. Aufgrund eines Unterhaltsvergleichs hatte der Versicherte bis zu seinem Tod an die Klägerin einen Unterhalt von 60,-- DM monatlich und an die Kinder je 245,-- DM monatlich gezahlt. Die Beklagte hatte mit Bescheid vom 16. November 1977 der Klägerin Geschiedenenwitwenrente bewilligt. In dem Bescheid hieß es, es bestehe Anspruch auf die erhöhte Rente nach § 45 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), "weil mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzogen wird" und in der Anlage 6 "Anspruch auf Rente nach § 42 Satz 2 AVG besteht, solange Sie mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erziehen".

Mit dem ersten Aufhebungsbescheid vom 4. August 1980 hatte die Beklagte wegen der Volljährigkeit des jüngsten Kindes den Wegfall der Witwenrente ab Oktober 1980 angeordnet. Die in einem Vorprozeß hiergegen erhobene Klage mit der Begründung, die Kinder seien weiterhin in Berufs- bzw Schulausbildung, der Rentenanspruch stehe auch wegen des bezogenen Unterhalts zu, war im ersten Rechtszug erfolglos, führte im Berufungsverfahren aber zur rechtskräftigen Aufhebung des Bescheides, weil die Klägerin vor dessen Erlaß nicht angehört worden war.

Die Beklagte holte die Anhörung nach und hob dann in einem zweiten Aufhebungsbescheid vom 1. Juni 1983 den Rentenbescheid gemäß § 48 Abs 1 des inzwischen in Kraft getretenen Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) wiederum zum 1. Oktober 1980 auf. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und zugleich Zahlungsklage über 29.102,70 DM. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Dezember 1983). Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 5. August 1985).

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 9. April 1986) mit der Begründung: Die Beklagte sei gemäß den §§ 48 und 45 SGB 10 zur rückwirkenden Aufhebung berechtigt gewesen, weil der Rentenanspruch nach § 42 AVG entfallen sei. Nach dessen Abs 1 Satz 1 habe die Klägerin keinen Anspruch erworben, da die erfolgten Zahlungen wegen Geringfügigkeit kein Unterhalt iS der Vorschrift gewesen seien. Ein Anspruch auf Rente sei daher nur nach § 42 Abs 1 Satz 2 Nr 2 AVG begründet gewesen; diese Anspruchsberechtigung sei ab der Volljährigkeit des jüngsten Kindes (September 1980) entfallen, da damit auch die "Erziehung" geendet habe. Die für die rückwirkende Aufhebung erforderliche "Bösgläubigkeit" sei zu bejahen, da die Klägerin von der Beklagten im ersten Aufhebungsbescheid auf den Wegfall des Anspruch hingewiesen worden sei. Hieran ändere sich nichts dadurch, daß die Klägerin (möglicherweise) sich aus anderen Rechtsgründen für rentenberechtigt gehalten habe; sie habe jedenfalls damit rechnen müssen, daß der Anspruch wegfallen werde. Ein Ermessen habe der Beklagten bei der Bescheiderteilung nicht zugestanden, weil der hier gegebene Fall nicht atypisch sei. Zwar bestehe eine erhebliche rechtliche Problematik; in tatsächlicher Hinsicht handele es sich jedoch um ein Regelfall. Die Aufhebung sei schließlich nicht wegen Fristablaufs unzulässig. Auf die entsprechend geltende Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 seien die §§ 209, 219, 217 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entsprechend anzuwenden, so daß die Jahresfrist durch den ersten Aufhebungsbescheid unterbrochen und durch den alsbald nach dem Ende des Vorprozesses erlassenen zweiten Aufhebungsbescheid gewahrt worden sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung der §§ 48 und 45 SGB 10. Die Klägerin habe nicht wissen müssen, daß sie ihren Sohn ab Eintritt der Volljährigkeit nicht mehr im Sinne des § 42 AVG "erziehe". Der erste Aufhebungsbescheid habe, da ohne Anhörung erlassen, die Jahresfrist nicht unterbrechen können. Jedenfalls komme im Falle fehlender Anhörung eine entsprechende Anwendung des § 212 BGB nicht in Betracht, da anderenfalls die fehlende Anhörung folgenlos bleibe.

Die Klägerin beantragt, die Urteile der Vorinstanzen und die Bescheide der Beklagten vom 1. Juni 1983 und vom 5. August 1985 aufzuheben, soweit dadurch der Rentenbescheid rückwirkend aufgehoben wird.

Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist für die Zeit vom 1. Oktober 1980 bis zum 9. Juni 1983 iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet, da zu der vom LSG angenommenen groben Fahrlässigkeit ausreichende Feststellungen fehlen.

Die Klägerin verfolgt mit der Revision die vom LSG als unzulässig abgewiesene Leistungsklage nicht weiter. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist daher nur die Anfechtungsklage gegen den zweiten Aufhebungsbescheid, die die Klägerin nunmehr auf den Zeitraum der rückwirkenden Aufhebung des Rentenbescheides beschränkt hat. Hierbei handelt es sich um die Zeit vom 1. Oktober 1980 bis zum 9. Juni 1983. An dem letzteren Tage gilt der Aufhebungsbescheid vom 1. Juni 1983, als Einschreiben abgesandt am 6.Juni 1983, der Klägerin als zugegangen, auch wenn sie die Sendung, wie sie angibt, schon am Tage vorher erhalten hat (§ 4 Verwaltungszustellungsgesetz; § 37 Abs 2 SGB 10).

Die Beklagte ist bei ihrer Bescheiderteilung zu Recht nicht davon ausgegangen, daß der Rentenbescheid mit dem Ablauf des Monats September 1980, in dem der jüngste Sohn der Klägerin volljährig wurde, sich von selbst erledigt hatte und unwirksam geworden war (§ 39 Abs 2 SGB 10). Dazu hätte es einer klar erkennbaren zeitlichen Begrenzung der Rentengewährung im Rentenbescheid auf die Zeit bis September 1980 bedurft. Eine solche Zeitgrenze, die die Beklagte im Verfügungssatz des Bescheides datenmäßig genau hätte bezeichnen können, enthielt der Rentenbescheid nicht; die Klägerin mußte sie auch nicht - allein - aus der Erklärung der Anlage 6 des Rentenbescheides entnehmen, zumal sie aufgrund ihres früheren Rechtsstandpunktes von der Beklagten sonst wohl gemäß § 42 Abs 1 Satz 1 AVG eine zeitlich unbegrenzte Rente verlangt hätte (vgl dazu BSGE 53, 163 = SozR 2200 § 1265 Nr 22; SozR aaO Nr 23).

Um die Wirkungen des Rentenbescheides ab dem 1. Oktober 1980 zu beseitigen, war deshalb dessen ausdrückliche Aufhebung erforderlich, wofür zur Zeit des zweiten Aufhebungsbescheides als Rechtsgrundlage nur § 48 SGB 10 in Betracht kam. Nach dieser Vorschrift erfordert die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, ob nur für die Zukunft oder auch für die Vergangenheit, daß in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlaß des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Das hat das LSG zu Recht bejaht.

In dem Rentenbescheid hatte die Beklagte den Rentenanspruch aufgrund des § 42 Abs 1 Satz 2 AVG für gegeben erachtet, ohne dabei näher auf die in Nr 1 und Nr 2 dieses Satzes verlangten Voraussetzungen einzugehen, die sie aber offenbar für erfüllt hielt. Angesprochen wurde die Nr. 3, die zusätzliche (alternative) Voraussetzungen für die Bezugszeit fordert, zu denen die Erziehung mindestens eines waisenrentenberechtigten Kindes in der Bezugszeit gehört. Diese Voraussetzung - nicht die vom LSG genannte in Nr 2 der Erziehung zur Zeit der Scheidung - war im September 1980 entfallen. Denn mit der in diesem Monat eingetretenen Volljährigkeit des jüngsten Kindes endete dessen "Erziehung" (SozR 2200 § 1268 Nr 12).

Das allein genügte freilich noch nicht für die Aufhebung des Rentenbescheides. Nach § 48 SGB 10 mußte vielmehr die eingetretene Änderung in dem Sinne eine "wesentliche" sein, daß von da an der im Rentenbescheid festgestellte Anspruch materiell-rechtlich nicht mehr bestand. Das LSG hat deshalb zutreffend geprüft, ob der Rentenanspruch aus anderen Gründen fortbestanden hat. Zutreffend hat es das verneint.

Dabei ist zunächst dem Gesamtzusammenhang des Berufungsurteils zu entnehmen, daß das LSG für die Zeit nach dem September 1980 auch die übrigen Alternativen des § 42 Satz 2 Nr 3 AVG (Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Sorge für ein gebrechliches, Waisenrente erhaltendes Kind, Vollendung des 60. Lebensjahres) bei der Klägerin ausschließen wollte, wogegen die Beteiligten keine Rügen erhoben haben und Bedenken nicht zu erheben sind. Ausdrücklich hat das LSG jedenfalls einen - zeitlich von vornherein unbegrenzten - Anspruch auf der Grundlage des § 42 Abs 1 Satz 1 AVG verneint. Hierfür hat es zu Recht Unterhaltsverpflichtungen und Unterhaltsleistungen nur dann als erheblich angesehen, wenn sie ihrem Umfang nach zumindest 25 vH des Regelsatzes der Sozialhilfe erreichen (SozR 2200 § 1265 Nr 65 mwN). Das war bei dem in Frage kommenden Betrag von 60,-- DM nicht der Fall, auch wenn hierbei nicht auf den vom LSG herangezogenen ab Juli 1977 geltenden Regelsatz von 290,-- DM, sondern im Hinblick auf den Tod des Versicherten am 22. Juni 1977 noch auf den von Januar 1976 bis Juni 1977 geltenden Regelsatz von 267,-- DM (Gemeinsames Amtsblatt Baden-Württemberg 1975, 46; 1978, 597) abzustellen ist (25 % = 66,75 DM).

Die im Revisionsverfahren streitig gebliebene rückwirkende Aufhebung auf den Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse war darüber hinaus nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 an weitere Voraussetzungen gebunden, von denen hier nur die der dortigen Nr 4 in Betracht kommen. Nach der Nr 4 war die rückwirkende Aufhebung nur zulässig, wenn die Klägerin wußte oder nicht wußte, weil sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, daß der sich aus dem Rentenbescheid ergebende Anspruch weggefallen ist. Eine Kenntnis der Klägerin vom Wegfall des Rentenanspruchs hat das LSG nicht festgestellt. Es hielt die Klägerin offenbar aufgrund einer grob fahrlässigen Unkenntnis (SozR 1300 § 48 Nr 14) für "bösgläubig". Seine Ausführungen hierzu halten jedoch einer Nachprüfung nicht stand.

Das LSG durfte bei der Kenntnis oder Unkenntnis der Klägerin vom Wegfall des sich aus dem Rentenbescheid ergebenden Anspruches schon nicht von vornherein die Frage ausklammern, ob sich die Klägerin nach dem Ende der Kindererziehung "(möglicherweise) aus anderen Rechtsgründen für rentenberechtigt gehalten hat". Denn Kenntnis und Unkenntnis beziehen sich auf den Wegfall des "Anspruchs" und nicht nur auf den eines Anspruchsgrundes. Es ist daher im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB 10 erheblich, ob der Betroffene aus einem im früheren Bescheid nicht berücksichtigten Grunde vom Fortbestand des Anspruchs überzeugt war oder ohne grobe Fahrlässigkeit überzeugt sein konnte.

Davon abgesehen lassen die Entscheidungsgründe des LSG erkennen, daß es den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt hat, was vom Revisionsgericht zu beachten ist (BSGE 47, 180; BGH NJW 1984, 2033; BAGE 7, 290). Die Unkenntnis der Klägerin war nur dann grob fahrlässig, wenn sie aufgrund einfachster und naheliegender Überlegungen sicher hätte erkennen (wissen) können, daß der Anspruch entfallen war. Dazu kann es nicht genügen, daß sie - nach Erhalt des ersten Aufhebungsbescheides - jedenfalls mit dem Wegfall des Anspruchs "rechnen mußte"; denn damit wird noch nichts darüber ausgesagt, ob und inwieweit sie bei der Unkenntnis vom Anspruchswegfall die erforderliche Sorgfalt verletzt hat.

Gegen die Annahme grober Fahrlässigkeit sprechen immerhin weitere mögliche Erwägungen, auf die das LSG nicht eingegangen ist. Die Klägerin hatte den ersten Aufhebungsbescheid zunächst im wesentlichen deshalb angefochten, weil sie der Auffassung war, die "Erziehung" eines in Ausbildung befindlichen Kindes ende nicht mit dem Eintritt der Volljährigkeit; diese Meinung kann wohl kaum von vornherein als unvertretbar bezeichnet werden, zumal die Herabsetzung der Volljährigkeit auf das Alter von 18 Jahren damals noch nicht sehr lange zurücklag. Ob und wann die Klägerin dann von den Entscheidungen des BSG vom 19. Juni 1979 und vom 11. September 1980 über das Ende der "Erziehung" mit der Volljährigkeit (SozR 2200 § 1268 Nrn 12 und 16) Kenntnis erhalten hat, ist nicht festgestellt. Zu berücksichtigen wäre aber auch, daß die Klägerin vor dem Rentenbescheid vom 16. November 1977 ihren Rentenantrag, gestützt auf ein Schreiben eines Rechtsanwalts, mit den Unterhaltsleistungen des Versicherten begründet hat, ohne daß die Beklagte im Rentenbescheid oder sonst der Klägerin gegenüber dazu Stellung genommen hat; die Klägerin hat sich dann erneut im Vorprozeß auf den geleisteten Unterhalt des Versicherten berufen; auch hier erscheint ihre Auffassung angesichts der tatsächlich erfolgten Unterhaltszahlungen von monatlich 60,-- DM, die nur knapp unter der Geringfügigkeitsgrenze lagen, nicht als unvertretbar, jedenfalls so lange nicht, als sie nicht von der Rechtsprechung des BSG zur Erheblichkeit von Unterhaltsleistungen und dem für sie maßgebenden Regelsatz der Sozialhilfe Kenntnis erlangt hat.

Sonach bedarf es für die Beurteilung der Frage der groben Fahrlässigkeit einer umfassenderen Tatsachenfeststellung und Tatsachenwürdigung, die das BSG als Revisionsgericht nicht vornehmen kann. Hierauf kann auch nicht aus anderen, in der Revisionsbegründung geltend gemachten Gründen verzichtet werden.

Die Klägerin meint zu Unrecht, daß die rechtskräftige Aufhebung eines Aufhebungsbescheides wegen fehlender Anhörung einen erneuten Aufhebungsbescheid mit gleicher zeitlicher Rückwirkung ausschließe. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, daß die §§ 41, 42 SGB 10 in einem solchen Falle es der Verwaltung nicht verbieten, nach der Beseitigung des ersten Bescheides und einer Nachholung der Anhörung einen nochmaligen Bescheid mit gleichem Verfügungssatz zu erlassen. Des weiteren ist für eine zulässige Nachholung im Vorverfahren bereits entschieden, der Mangel sei dann mit der Folge geheilt, daß die im Verwaltungsakt getroffene Maßnahme zu dem dort genannten Zeitpunkt wirksam werde (SozR 1200 § 34 Nr 13). Dementsprechend konnte die Beklagte in dem zweiten Aufhebungsbescheid über den Zeitraum vor der nachgeholten Anhörung erneut entscheiden. Damit blieb die fehlende Anhörung entgegen der Auffassung der Revision nicht folgenlos; das ergibt sich schon daraus, daß beim zweiten Aufhebungsbescheid nunmehr die gesamte Zeit vor diesem Bescheid "Vergangenheit" war mit der Folge, daß bei der Aufhebung des Rentenbescheides auch für die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Aufhebungsbescheid nunmehr die zusätzlichen Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 erfüllt sein mußten.

Entgegen der Meinung der Klägerin ist ferner der Auffassung des LSG im Ergebnis zuzustimmen, daß die in § 48 Abs 4 iVm § 45 Abs 4 SGB 10 festgesetzte Jahresfrist gewahrt ist. Sie gilt, wenn der frühere Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird; die Behörde muß dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Aufhebung des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Hierzu gehören nicht nur die Tatsachen, die eine wesentliche Änderung in den bei Erlaß des früheren Verwaltungsaktes gegebenen Verhältnissen (§ 48 Abs 1 Satz 1) ausweisen, sondern auch die, die nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 die Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit zulassen (vgl für die Rücknahme BVerwGE 70, 356 und für die Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB 10 Urteil des Senats vom 9. September 1986 - 11a RA 2/85 -). In dem Berufungsurteil findet sich keine Feststellung darüber, wann die Beklagte den Kenntnisstand besaß, der die Jahresfrist in Lauf setzte. Das kann jedoch dahingestellt bleiben. Denn auch wenn sie über die erforderlichen Kenntnisse schon über ein Jahr vor dem zweiten Aufhebungsbescheid verfügte, wäre die Jahresfrist nicht versäumt. Der 9a Senat des BSG hat bereits in einem Fall, in dem der erste Aufhebungsbescheid noch nicht rechtskräftig aufgehoben war, als der zweite Aufhebungsbescheid erlassen wurde, entschieden, daß die Jahresfrist des § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 durch den ersten Aufhebungsbescheid trotz dessen späterer Aufhebung gewahrt worden sei (SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8, Blatt 12). Er hat dies aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift über die Jahresfrist gefolgert, die ein Vertrauen auf die Bindungswirkung des früheren Bescheides schützen wolle; dieses Vertrauen sei schon mit dem ersten Änderungsbescheid erschüttert worden. Der Senat hält diesen Gedankengang für zutreffend und auf den vorliegenden Fall übertragbar. Nach dem Sinn und Zweck der Jahresfrist muß die Frist bei einem zweiten Aufhebungsbescheid durch den fristgerechten, aber aufgehobenen ersten Aufhebungsbescheid als gewahrt gelten, wenn der erste Aufhebungsbescheid nur aus Gründen aufgehoben worden ist, die - wie im vorliegenden Fall - einen erneuten Aufhebungsbescheid nicht ausgeschlossen haben. Zu fordern ist allerdings, daß der zweite Aufhebungsbescheid nach der Aufhebung des ersten unverzüglich ergeht; das ist im vorliegenden Falle, in dem die Anhörung der Klägerin nachgeholt werden mußte, geschehen. Da sich dieses Ergebnis bereits aus dem Sinn und Zweck der Jahresfrist des § 48 Abs 4 iVm § 45 Abs 4 SGB 10 ableiten läßt, bedarf es keiner entsprechenden Anwendung der Verjährungsvorschriften des BGB.

Nach alledem war der Rechtsstreit an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Anfechtungsklage für die im Revisionsverfahren streitig gebliebene Zeit zurückzuverweisen; das LSG hat dabei in seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.

 

Fundstellen

BSGE, 103

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