Entscheidungsstichwort (Thema)

Besorgnis der Befangenheit. Senat. Besetzung

 

Orientierungssatz

1. Erweist sich der Ablehnungsantrag als unzulässig, hat der zuständige Senat in seiner regelmäßigen Besetzung den Antrag als unzulässig zu verwerfen (vgl BSG vom 26.11.1965 - 12 RJ 94/65 = SozR Nr 5 zu § 42 ZPO und BVerwG vom 5.12.1975 - VI C 129.74 = BVerwGE 50, 36).

2. Ein Ablehnungsantrag ist nicht schon deshalb mißbräuchlich und damit unzulässig, weil er nicht gegen einen bestimmten Richter, sondern den Senat gerichtet ist. Ist die frühere Tätigkeit eines Spruchkörpers Grund für die geltend gemachte Besorgnis der Befangenheit, so ist eine Individualisierung der Ablehnung gegenüber bestimmten Richtern wegen des Beratungsgeheimnisses nicht möglich.

 

Normenkette

SGG § 60 Abs. 1; ZPO § 42 Abs. 1

 

Verfahrensgang

BSG (Beschluss vom 15.06.2000; Aktenzeichen B 11 AL 85/00 B)

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 23.03.2000; Aktenzeichen L 1 AL 60/99)

SG Detmold (Entscheidung vom 30.09.1998; Aktenzeichen S 12 AL 277/95)

 

Tatbestand

Mit Urteil vom 23. März 2000 hat das Landessozialgericht (LSG) entschieden, der Rechtsstreit der Beteiligten - L 1 AL 75/98 - sei durch angenommenes Anerkenntnis der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) im Erörterungstermin am 8. April 1999 vollständig erledigt. Die Prozeßerklärungen im Erörterungstermin seien wirksam. Der Antrag des Klägers, ein Anerkenntnisurteil zu erlassen, sei unbegründet. Die gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil gerichtete Beschwerde des Klägers hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Beschluß vom 15. Juni 2000 - B 11 AL 85/00 B - als unzulässig verworfen, weil in der Beschwerdebegründung die geltend gemachten Zulassungsgründe Verfahrensmangel und Abweichung von Rechtsprechung des BSG nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebotenen Weise bezeichnet seien.

Gegen den seinen früheren Prozeßbevollmächtigten am 21. Juli 2000 zugestellten Beschluß hat der Antragsteller mit einem von ihm selbst unterzeichneten und am 6. Februar 2001 beim BSG eingegangenen Schreiben "Nichtigkeitsklage gemäß § 579 Abs 1 Nr 1 Zivilprozeßordnung (ZPO)" erhoben. Gleichzeitig hat er auf "sein Recht, sich durch einen Anwalt vertreten zu lassen, verzichtet", eine Formerklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt und "den 11. Senat (des BSG) wegen Besorgnis der Befangenheit" abgelehnt. Zur Begründung führt der Antragsteller aus, das BSG habe gegen § 160a Abs 4 Satz 2 SGG verstoßen, indem es den Beschluß vom 15. Juni 2000 ohne ehrenamtliche Richter erlassen habe. Das Gericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 179 Abs 1 SGG; § 579 Abs 1 Nr 1 ZPO). Der Befangenheitsantrag sei wegen "der Amtspflichtverletzung des § 160a Abs 4 Satz 2 SGG" begründet.

 

Entscheidungsgründe

Der Antrag ist statthaft, aber nicht zulässig, weil der Antragsteller nicht durch einen beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten ist und sein Antrag überdies nicht innerhalb der Frist von einem Monat nach Kenntnis des Anfechtungsgrundes beim BSG eingegangen ist (§ 179 Abs 1 SGG, § 586 Abs 1 und 2 ZPO). Prozeßkostenhilfe steht dem Antragsteller deshalb wegen mangelnder Erfolgsaussicht seines Antrages nicht zu (§ 73a Abs 1 SGG, § 114 ZPO).

Die Wiederaufnahme betrifft grundsätzlich durch rechtskräftiges Endurteil erledigte Verfahren (§ 179 Abs 1 SGG, § 578 Abs 1 ZPO). Wird ein Verfahren durch Beschluß außerhalb der mündlichen Verhandlung beendet, so sind die Vorschriften über die Wiederaufnahme entsprechend anzuwenden und über den Nichtigkeits- oder Restitutionsantrag im Beschlußverfahren zu entscheiden (Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 179 RdNr 3a mwN). Die entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Wiederaufnahme ist gerechtfertigt, weil die ablehnende Entscheidung des BSG über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision die Rechtskraft des LSG-Urteils herbeiführt (§ 160a Abs 4 Satz 4 SGG).

Zuständig für die Entscheidung über den Nichtigkeitsantrag ist das BSG, obwohl es nicht eine Entscheidung in der Sache getroffen, sondern die Nichtzulassungsbeschwerde wegen mangelhafter Begründung als unzulässig verworfen hat. Der Antrag des Antragstellers richtet sich nicht gegen die Entscheidung des LSG; er rügt vielmehr die ordnungsgemäße Besetzung und die Verletzung von Amtspflichten der Richter des BSG bei der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde (§§ 579 Abs 1 Nr 1, 580 Abs 1 Nr 5 ZPO). Für diese Fälle ist in § 179 Abs 1 SGG, § 584 Abs 1 ZPO ausdrücklich die Zuständigkeit des Revisionsgerichts vorgesehen.

Die Zuständigkeit des 11. Senats des BSG für die Entscheidung über den Nichtigkeitsantrag wird durch die Ablehnung des 11. Senats - gemeint sein dürften die Richter, die an der Entscheidung vom 15. Juni 2000 mitgewirkt haben - nicht berührt. Allerdings hat ein Ablehnungsantrag grundsätzlich zur Folge, daß abgelehnte Richter nur unaufschiebbare Prozeßhandlungen vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs vornehmen dürfen (§ 60 Abs 1 SGG, § 47 ZPO). Bei dem kollegial besetzten Revisionsgericht ist über den Ablehnungsantrag grundsätzlich ohne den abgelehnten Richter von dem zuständigen Senat mit den nach der Geschäftsordnung berufenen Vertretern zu entscheiden. Dies gilt jedoch nicht, wenn lediglich über die Zulässigkeit des Ablehnungsantrags zu befinden ist. Erweist sich der Ablehnungsantrag als unzulässig, hat der zuständige Senat in seiner regelmäßigen Besetzung den Antrag als unzulässig zu verwerfen (BSG SozR Nr 5 zu § 42 ZPO; BVerwGE 50, 36, 37; BVerwG DÖV 1976, 747f). Allerdings ist der Ablehnungsantrag des Antragstellers nicht schon deshalb mißbräuchlich und damit unzulässig, weil er nicht gegen einen bestimmten Richter, sondern den 11. Senat gerichtet ist. Ist die frühere Tätigkeit eines Spruchkörpers Grund für die geltend gemachte Besorgnis der Befangenheit, so ist eine Individualisierung der Ablehnung gegenüber bestimmten Richtern wegen des Beratungsgeheimnisses nicht möglich. Ergibt jedoch die Begründung des Ablehnungsantrags, daß eine Besorgnis der Befangenheit unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gerechtfertigt sein kann, so belegt dieser Umstand den Mißbrauch des Ablehnungsrechts und die Unzulässigkeit des Ablehnungsantrags (BVerwGE 50, 36, 38). Dies trifft hier zu. Der Antragsteller begründet die Ablehnung nicht mit dem Inhalt oder der Begründung des Beschlusses vom 15. Juni 2000, sondern mit der Behauptung, der Senat habe - angeblich im Widerspruch zu § 160a Abs 4 Satz 2 SGG - ohne ehrenamtliche Richter und damit nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 579 Abs 1 Nr 1 ZPO) und mithin unter Verletzung seiner Amtspflichten (§ 580 Nr 5 ZPO) über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision entschieden. Diese Ausführungen sind unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet, die Besorgnis des Antragstellers über die Befangenheit der an dem Beschluß des Senats vom 15. Juni 2000 beteiligten Richter glaubhaft zu machen. Mit der Entscheidung ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter ist der Senat der ständigen Rechtsprechung des BSG gefolgt, wonach über nicht statthafte und nicht zulässige Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision allein durch die Berufsrichter des Senats zu entscheiden ist (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 1 und 5; vgl auch BVerfGE 48, 246 ff = SozR 1500 § 160a Nr 30). Zwar stützt der Wortlaut des § 160a Abs 4 Satz 2 SGG diese Rechtsprechung nicht. Sie ist jedoch im Hinblick auf den systematischen Zusammenhang mit § 169 SGG geboten, der für nicht statthafte und nicht zulässige Revisionen ausdrücklich die Verwerfung durch Beschluß ohne ehrenamtliche Richter vorschreibt. Es wäre nicht verständlich, wenn das BSG bei einem Rechtsmittel, das sich lediglich gegen die Nebenentscheidung über die Nichtzulassung der Revision wendet, ehrenamtliche Richter auch hinzuzuziehen hätte, wenn die Beschwerde nicht statthaft oder unzulässig ist, während dies bei der Revision gegen die Entscheidung des LSG in der Hauptsache vom Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen wird. Das vom Antragsteller beanstandete Vorgehen des Senats wird auch im Schrifttum allgemein gebilligt (Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 276; Meyer-Ladewig SGG, 6. Aufl 1998, § 160a RdNr 21 mwN; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX RdNr 224; Hennig, SGG, § 160a RdNr 362 - Stand: Juli 1999). Unter diesen Umständen ist die Entscheidung über die nicht zulässige Beschwerde mit Beschluß vom 15. Juni 2000 gänzlich ungeeignet, bei einem vernünftigen Verfahrensbeteiligten die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Der Befangenheitsantrag ist daher mißbräuchlich und mithin als unzulässig zu verwerfen.

Unzulässig ist auch der Nichtigkeitsantrag, denn er ist nicht von einem nach § 166 Abs 2 SGG zur Vornahme wirksamer Prozeßhandlungen vor dem BSG berechtigten Prozeßbevollmächtigten gestellt. Trotz seines Prozeßkostenhilfe-Antrags hat der Antragsteller ausdrücklich darauf verzichtet, sich durch einen Anwalt vertreten zu lassen. Überdies ist der Antrag unzulässig, weil er nicht innerhalb der Notfrist von einem Monat nach Kenntnis des Anfechtungsgrundes beim BSG eingegangen ist (§ 179 Abs 1 SGG, § 586 Abs 1 und 2 ZPO). Die Kenntnis seiner früheren Prozeßbevollmächtigten von dem vermeintlichen Anfechtungsgrund - Entscheidung des Senats über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ohne ehrenamtliche Richter durch Beschluß vom 15. Juni 2000 - ist nach ihrem Empfangsbekenntnis am 21. Juni 2000 eingetreten. Die Kenntnis seiner Prozeßbevollmächtigten muß sich der Antragsteller zurechnen lassen (Thomas/Putzo, ZPO, 22. Aufl 1999, § 586 RdNr 2). Der am 6. Februar 2001 beim BSG eingegangene Antrag ist verspätet. Auch über die Wiedereinsetzung könnte der Antragsteller nicht zum Erfolg kommen, weil er mit dem verspäteten Prozeßkostenhilfe-Antrag nicht alles Erforderliche für eine fristgerechte Rechtsverfolgung getan hat. Sonstige Gründe, die geeignet sein könnten, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu rechtfertigen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Verfassungsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluß des Senats vom 15. Juni 2000 hat das Bundesverfassungsgericht bereits mit Beschluß vom 7. September 2000 nicht zur Entscheidung angenommen.

Eine Jahresfrist läuft nicht. Ein Rechtsmittel gegen den Beschluß des Senats ist nicht gegeben. Folglich war auch eine Rechtsmittelbelehrung nicht zu erteilen. Zu einer Belehrung über die Verfassungsbeschwerde bestand kein Anlaß.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Von der Möglichkeit, dem Antragsteller Mutwillenskosten aufzuerlegen (§ 192 SGG), hat der Senat abgesehen.

 

Fundstellen

SozSi 2003, 397

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