Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 28.01.1992; Aktenzeichen L 7 Ar 251/91)

 

Tenor

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde Prozeßkostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Januar 1992 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg); die Beteiligten streiten insbesondere darüber, ob die Klägerin die Anwartschaftszeit und die Arbeitsbereitschaft als Voraussetzungen für den Leistungsanspruch erfüllt.

Die 1952 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige und war von 1972 bis zum 30. April 1985 versicherungspflichtig beschäftigt. Sie erlitt am 22. Januar 1984 einen Verkehrsunfall, bei dem sie sich eine „Schädigung des rechten Speichennerven” mit einem Grad der Behinderung (GdB) um 30 vH zuzog. Vom 5. März bis 31. August 1984 und vom 12. Oktober 1984 bis zum 29. August 1985 bezog die Klägerin Krankengeld. Ihre Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis zum 30. April 1985.

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Alg von einer Arbeitslosmeldung am 7. November 1987 ausgehend ab, weil die Klägerin nicht die Anwartschaftszeit erfülle. Auch ein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe sei nicht gegeben (Bescheid vom 2. Dezember 1987; Widerspruchsbescheid vom 5. April 1988).

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Hannover vom 6. September 1990; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Niedersachsen vom 28. Januar 1992). Nach Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmungen im ersten und zweiten Rechtszug hat das LSG nicht feststellen können, daß die Klägerin schon vor dem 7. November 1987 beim Arbeitsamt mit dem Ziel vorstellig geworden ist, sich arbeitslos zu melden. Auch ihre Arbeitsbereitschaft lasse sich im Hinblick auf die Selbsteinschätzung ihrer gesundheitlichen Leistungsfähigkeit im Gegensatz zu der Einschätzung des medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. P. … in einem Gutachten vom 13. November 1987 nicht feststellen.

Gegenüber der Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und des Verfahrensmangels geltend.

Sie vertritt die Ansicht, der Rechtssache komme grundsätzliche Bedeutung zu, weil im Hinblick auf die zwei bis drei Jahre vor der Bescheiderteilung am 2. Dezember 1987 liegenden entscheidungserheblichen Tatsachen zu prüfen seien, ob aufgrund der überlangen Dauer der Verfahren die Beweislastverteilung einseitig zu ihren Lasten erfolgen könne oder ob Beweiserleichterungen eintreten müßten. Hätte das LSG ihr – auch im Hinblick auf ihre erheblichen Sprachprobleme als türkische Staatsangehörige – Beweiserleichterungen zugebilligt, hätte es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Arbeitslosmeldung vor dem 7. November 1987 und damit die Erfüllung der Anwartschaftszeit festgestellt. Soweit das LSG die Klägerin nicht für subjektiv verfügbar erachtet habe, sei die Aufklärungspflicht verletzt. Da dieser Punkt nicht Gegenstand der Verhandlung gewesen sei, habe das LSG ohne Beweisaufnahme nicht davon ausgehen können, daß die Klägerin nicht bereit gewesen sei, eine ihr zumutbare Arbeit aufzunehmen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, denn die Klägerin hat die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG dargelegt bzw bezeichnet.

Zur formgerechten Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde gehört die Darlegung der Grundsätzlichkeit in dem Sinne, daß die von der Klägerin angestrebte Entscheidung geeignet ist, die Rechtseinheit zu erhalten oder die Fortbildung des Rechts zu fördern. Die aufgeworfene Frage muß deshalb von allgemeiner Bedeutung sein und ihre Klärungsbedürftigkeit dargelegt werden. Diese Voraussetzung ist nicht schon erfüllt, wenn das LSG den Rechtsstreit – wie die Klägerin behauptet – falsch entschieden haben sollte (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7). Mit der Frage, „ob aufgrund der überlangen Dauer der Verfahren die Beweislastverteilung einseitig zu Lasten des Bürgers erfolgen kann oder aber nicht zugunsten des anspruchstellenden Bürgers Beweiserleichterungen zugebilligt werden müssen”, wird die zu entscheidende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht dargelegt. Der Begriff „Beweiserleichterung” bezieht sich auf Maßstäbe der Tatsachenfeststellung, die anstelle des grundsätzlich in § 128 SGG geforderten Beweises im Sinne tatrichterlicher Überzeugungsbildung in bestimmten Fällen einen geringeren Grad der Sicherheit (Beweis des ersten Anscheins; Glaubhaftmachung) ausreichen lassen. Die Ausführungen der Beschwerdebegründung lassen nicht erkennen, ob und in welcher Weise das Verfahren der Klägerin wegen der Verfahrensdauer und ihrer Verständigungsschwierigkeiten zur Entwicklung eines allgemeinen Rechtssatzes, der über ihren Einzelfall hinaus bedeutsam ist, beitragen kann. Ein solcher Gedanke erscheint auch problematisch, weil er auf die Bildung von Beweisregeln hinausliefe, die mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung durch die Tatsacheninstanz grundsätzlich nicht vereinbar wäre. Eine Beweiswürdigung ist typischerweise einzelfallbezogen, während der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache – wie erwähnt – auf Rechtsfragen gerichtet ist, die über den Einzelfall hinaus im Interesse der Rechtssicherheit klärungsbedürftig und klärungsfähig sind.

Im Gegensatz zur Beweiserleichterung beruht die Beweislastverteilung auf materiell-rechtlichen Grundsätzen, die im Falle des Scheiterns der Sachaufklärung eintreten. Die sozialgerichtliche Rechtsprechung folgt – wie das LSG zutreffend hervorgehoben hat – in ständiger Rechtsprechung dem Grundsatz der objektiven Beweislast. Danach trifft der Nachteil der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts denjenigen Verfahrensbeteiligten, der aus der nicht feststellbaren Tatsache rechtliche Vorteile herleitet. Die Klägerin hat nicht dargelegt, inwiefern dieser Grundsatz Einschränkungen oder Ausnahmen duldet, die das Verfahrensziel der Ermittlung der objektiven Wahrheit als Ziel der Rechtsanwendung nicht gefährden. Die lange Verfahrensdauer erscheint generell nicht geeignet, eine Umkehr der Beweislast zugunsten von Rechtsuchenden zu begründen, zumal die Verfahrensdauer auch auf das Prozeßverhalten der Beteiligten zurückzuführen sein kann. Die von der Klägerin trotz ihres langjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland behaupteten Verständigungsschwierigkeiten machen eine Beweislastverteilung zu ihren Gunsten nicht einleuchtend, weil Sprachschwierigkeiten durch Inanspruchnahme von Dolmetschern überwindbar sind. Unter diesen Umständen hätte es weiterer Ausführungen in der Beschwerdebegründung bedurft, um die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage darzulegen.

Obwohl die Klägerin die Verletzung der Grenzen freier richterlicher Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) nicht ausdrücklich rügt, läuft ihre Beschwerdebegründung inhaltlich auf eine solche Rüge hinaus. Diese Rüge unterliegt jedoch dem ausdrücklichen Ausschluß als Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.

Mit der Rüge einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) hat die Klägerin diesen Verfahrensmangel als Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht hinreichend bezeichnet. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann ein Verfahrensmangel auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Einen Beweisantrag zur Klärung ihrer Arbeitsbereitschaft hat die Klägerin nicht bezeichnet. Einen solchen Antrag hat sie im ersten und zweiten Rechtszug auch nicht gestellt. Vielmehr führt die Klägerin aus, diese Frage sei nicht Gegenstand der Verhandlung gewesen. Ob das Vorgehen des LSG unter einem anderen – von der Klägerin nicht gerügten – rechtlichen Gesichtspunkt verfahrensfehlerhaft sein könnte, kann dahinstehen. Selbst wenn die Ausführungen des LSG zur fehlenden Arbeitsbereitschaft der Klägerin auf einem Verfahrensfehler beruhen sollten, wäre davon die Entscheidung des LSG nicht abhängig, weil sie im Ergebnis bereits durch die Nichterfüllung der Anwartschaftszeit sachlich gerechtfertigt wäre.

Da die Beschwerdebegründung die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht in der gebotenen Weise darlegt bzw bezeichnet, ist die Nichtzulassungsbeschwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Aus den gleichen Gründen ist der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe zurückzuweisen, denn die Rechtsverfolgung der Klägerin bietet nicht hinreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 73a Abs 1 SGG; 114 ZPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172758

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