Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensaussetzung wegen Verfassungsbeschwerde in Parallelsache

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Aussetzung des sozialgerichtlichen Verfahrens wegen Verfassungsbeschwerden in Parallelsachen.

 

Normenkette

SGG § 114 Abs 2; ZPO § 148; VwGO § 94; FGO § 74; GG Art 93 Abs 1 Nr 4a

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 08.03.1991; Aktenzeichen L 4 Ar 64/87)

SG Berlin (Entscheidung vom 22.05.1987; Aktenzeichen S 59 Ar 1822/86)

 

Gründe

Die Klägerin, ein Unternehmen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, wendet sich gegen Erstattungsbescheide nach § 128a Arbeitsförderungsgesetz (AFG).

Das Arbeitsverhältnis der Beigeladenen, die bei der Klägerin zuletzt als "Niederlassungsleiterin" beschäftigt war, wurde durch fristgerechte Kündigung der Klägerin zum 31. Dezember 1985 beendet. Aufgrund vertraglicher Vereinbarung unterlag die Beigeladene für die Dauer von 12 Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses einem Wettbewerbsverbot, wonach es ihr - unter Zusicherung eines Anspruchs auf die gesetzlich vorgesehene Mindestentschädigung - untersagt war, für ein Konkurrenzunternehmen tätig zu werden. Die Beklagte, die der Beigeladenen vom 1. Januar bis 30. Dezember 1986 Arbeitslosengeld (Alg) in Höhe von wöchentlich 330,00 DM gewährte, wies die Klägerin unter dem 24. Februar 1986 auf die Erstattungspflicht gemäß § 128a AFG sowie darauf hin, daß die Erstattungspflicht von dem Tage an entfalle, an dem die Klägerin auf die Einhaltung der Wettbewerbsabrede verzichte; diese Verzichtserklärung sei der Beklagten schriftlich einzureichen. Die Klägerin erwiderte mit Schreiben vom 11. März 1986, ihrer Auffassung nach bestehe ein Erstattungsanspruch nicht; die Beigeladene sei bei ihr lediglich zweieinhalb Jahre beschäftigt gewesen; sie könne in den Branchen, in denen sie zuvor Erfahrungen gesammelt habe, und in anderen Branchen jederzeit wieder kaufmännisch tätig werden. Daraufhin stellte die Beklagte unter Hinweis auf § 128a AFG für die Zeit vom 1. Januar bis 31. März 1986 den Eintritt einer Erstattungspflicht in Höhe von insgesamt 6.488,57 DM (einschließlich der Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung) fest (Bescheid vom 22. April 1986; Widerspruchsbescheid vom 20. August 1986). Durch weitere Bescheide hat die Beklagte für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1986 eine Erstattung in Höhe von insgesamt 6.572,80 DM (Bescheid vom 25. August 1986) und für die Zeit vom 1. Juli bis 30. Dezember 1986 eine solche in Höhe von insgesamt 13.229,82 DM (Bescheid vom 2. April 1987) gefordert. Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide vom 22. April 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 1986, vom 25. August 1986 und 2. April 1987 aufgehoben (Urteil vom 22. Mai 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. März 1991). Dagegen hat die Klägerin Revision eingelegt.

Die Klägerin beantragt,

das vorliegende Verfahren bis zur Entscheidung des

Bundesverfassungsgerichts in Sachen 1 BvR 178/92

(Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundessozialgerichts

vom 16. Oktober 1991 - 11 RAr 23/91 -)

auszusetzen,

und überreicht ein an ihre Prozeßbevollmächtigten gerichtetes Schreiben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24. Februar 1992, in dem es heißt: "... die in Ihrer Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen der Verfassungsmäßigkeit des § 128a AFG sind bereits Gegenstand anderer Verfassungsbeschwerden (1 BvR 870/91; 1 BvR 871/91). Bis zur Entscheidung über diese Verfassungsbeschwerden wird Ihre Verfassungsbeschwerde (gemeint 1 BvR 178/92) zurückgestellt. Über den Ausgang dieses Verfahrens werden Sie unterrichtet werden."

Die Beklagte hält die Aussetzung des Verfahrens für nicht zulässig. Die Beigeladene hat sich zur Frage der Aussetzung des Verfahrens nicht geäußert.

Der Antrag der Klägerin, das Verfahren bis zur Entscheidung des BVerfG in der Sache 1 BvR 178/92 auszusetzen, war abzulehnen, weil die Voraussetzungen des § 114 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht erfüllt sind.

Nach dieser Vorschrift kann das Gericht, hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Eine unmittelbare Anwendung dieser Bestimmung kommt vorliegend nicht in Betracht. Denn die Frage der Verfassungswidrigkeit oder Nichtigkeit einer Norm, hier des § 128a AFG, ist kein "Rechtsverhältnis" iS des § 114 Abs 2 SGG (LSG NRW NJW 1989, 1181 mwN; Meyer-Ladewig, Komm zum SGG, 4. Aufl 1991, § 114 Rz 3; Eyermann/Fröhler, Komm zur VwGO, 9. Aufl 1988, § 94 Rz 7; Redeker/v. Oertzen, Komm zur VwGO, 9. Aufl 1988, § 94 Rz 1).

Für eng umgrenzte Fälle scheint indes eine entsprechende Anwendung des § 114 Abs 2 SGG und seiner Parallelvorschriften (§ 148 Zivilprozeßordnung, § 94 Verwaltungsgerichtsordnung, § 74 Finanzgerichtsordnung) angezeigt (BVerfGE 3, 58, 74; BAG NJW 1988, 2558; BFHE 161, 409; BFH/NV 1992, 125; LSG NRW NJW 1989, 1181; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 49. Aufl 1991, § 148 Anm 1bA; Kopp, Komm zur VwGO, 7. Aufl 1986, § 94 Rz 4a). Durch die Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens soll nämlich ua verhindert werden, daß die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das BVerfG mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle "überschwemmt" werden, ohne daß dies der Klärung eines vorgreiflichen Problems dient (BFHE 161, 409). Voraussetzung für eine entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Aussetzung des Verfahrens ist deshalb, zumal es sich um eine Ermessensentscheidung handelt, daß alle Erwägungen ausschließlich oder zumindest ganz überwiegend für die Aussetzung sprechen (BFHE 161, 409, 412; BFH/NV 1992, 125, 126).

Das kann etwa der Fall sein, wenn wegen der streiterheblichen Frage beim BVerfG ein Normenkontrollverfahren oder eine Verfassungsbeschwerde bereits anhängig ist, nicht zu erwarten steht, daß weitere Vorlagen an das BVerfG dessen Entscheidung beeinflussen können, und mit der Entscheidung des BVerfG in absehbarer Zeit zu rechnen ist (BAG NJW 1988, 2558; LSG NRW NJW 1989, 1181). Gleiches kann anzunehmen sein, wenn die Aussetzung des Verfahrens mit Rücksicht auf eine beim BVerfG anhängige Verfassungsbeschwerde mit der Ankündigung beantragt wird, die Klage zurücknehmen zu wollen, wenn das BVerfG zum Nachteil des Antragstellers entscheidet (BFHE 161, 409, 412).

Anders verhält es sich, wenn eine anhängige Verfassungsbeschwerde einen in tatsächlicher Hinsicht anders gelagerten Fall betrifft. Dann kann nicht von einem Parallelfall mit präjudiziellem Charakter die Rede sein. In einem solchen Fall vermögen deshalb auch prozeßökonomische Gründe nicht den Ermessensspielraum des Gerichts einzuengen (BFH/NV 1992, 125, 127).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem Fall, den die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 178/92 (= Urteil des BSG vom 16. Oktober 1991 - 11 RAr 23/91 -) zum Gegenstand hat, zumindest in einem wesentlichen Punkt. Während die Beklagte hier die Klägerin ausdrücklich auf die Möglichkeit eines Verzichts auf das Wettbewerbsverbot hingewiesen hat, ist in dem dem BVerfG zur Prüfung vorgelegten Fall eine solche Belehrung unterblieben, was vom 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) deswegen als unschädlich angesehen wurde, weil die unterbliebene Belehrung für den vom Arbeitgeber nicht erklärten Verzicht nicht ursächlich geworden sei. Überdies beruft sich die Klägerin hier ua darauf, daß die Beklagte der Beigeladenen das Alg jedenfalls zum Teil zu Unrecht gewährt habe. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, daß jede Entscheidung des BVerfG in Sachen 1 BvR 178/92 den vorliegenden Rechtsstreit ohne weiteres bereinigen wird. Auch die Klägerin scheint dies so zu sehen. Sonst hätte sie den Antrag auf Aussetzung mit der Ankündigung verbinden können, die Revision zurückzunehmen, wenn das BVerfG zu ihrem Nachteil entscheiden sollte.

Schließlich vermögen die im Schriftsatz des BVerfG vom 24. Februar 1992 genannten weiteren Verfassungsbeschwerden (1 BvR 870 und 871/91) eine Aussetzung des vorliegenden Verfahrens nicht zu rechtfertigen. Sie betreffen Beschlüsse des 11. Senats des BSG über Nichtzulassungsbeschwerden, die als unzulässig verworfen wurden (Beschlüsse vom 25. April 1991 - 11 BAr 67/90 - und - 11 BAr 71/90 -). Daß der Entscheidung des BVerfG zu diesen Beschlüssen zwangsläufig eine abschließende verfassungsrechtliche Bewertung des § 128a AFG zukommen müßte, ist nicht ersichtlich. Das gilt um so mehr, als nach einer Kammerentscheidung des BVerfG (Beschluß vom 7. Mai 1991 - 2 BvR 1418/90 -) eine Verfassungsbeschwerde regelmäßig unzulässig ist, wenn die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das oberste Bundesgericht (dort BFH) als unzulässig verworfen worden ist (vgl hierzu auch Herden/Gmach, NJW 1992, 795).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1662437

NZA 1992, 1002

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