Leitsatz (amtlich)

Die Verjährung wird gehemmt, auch wenn die arme Partei das Gesuch um Bewilligung des Armenrechts für die Erhebung der Klage zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber so spät – auch noch am letzten Tage – bei Gericht einreicht, daß darüber nicht mehr vor Fristablauf entschieden werden kann (Abweichung von BGHZ 17, 199 und 37, 113).

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20; BGR § 203

 

Verfahrensgang

OLG Hamburg (Urteil vom 14.06.1976)

LG Hamburg

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu Hamburg vom 14. Juni 1976 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der Fischkutter „Anneliese” des Klägers, eines selbständigen Fischermeisters, ist am 4. März 1973 nach einer Kollision mit MS „Hanseat III” der Beklagten in der Lübecker Bucht gesunken. Der Kläger verlangt Ersatz eines Teils seines nicht durch die Versicherung gedeckten Schadens. Er ist der Auffassung, die Schiffsführung von MS „Hanseat III” habe durch ihr Verschulden den Schiffszusammenstoß überwiegend verursacht. Die Parteien haben bis August 1974 außergerichtlich über eine vergleichsweise Regelung verhandelt, konnten sich aber nicht über die Schadensquote einigen. Am 23. Oktober 1974 beantragten die vom Kläger bevollmächtigten Rechtsanwälte beim Landgericht Lübeck das Armenrecht für eine Klage über 37.061,22 DM nebst Zinsen. Mit Schriftsatz vom 26. November 1974, der einen Tag später bei Gericht einging, rügte die Beklagte unter anderem die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts mit dem Hinweis, daß sie ihren Sitz in Hamburg habe. Die Anwälte des Klägers erwiderten mit Schriftsatz vom 10. Februar 1975, der am 19. Februar beim Landgericht Lübeck eingegangen ist. Sie beantragten unter Erweiterung des Gesuchs auf 49.704,53 DM, das Armenrechtsverfahren an des Landgericht Hamburg abzugeben. Diesem Antrag hat das Landgericht Lübeck entsprochen. Die Akten trafen am 3. März 1975 beim Landgericht Hamburg ein. Die zunächst der Zivilkammer 10 zugeleitete Sache wurde an die Zivilkammer 6 abgegeben und anschließend, auf Antrag der Beklagten, an die Kammer für Handelssachen verwiesen. Nachdem die Beklagte sich auf Verjährung berufen hatte, hat das Landgericht durch Beschluß vom 4. Juni 1975 dem Kläger das Armenrecht versagt. Seine Beschwerde wurde durch Beschluß des Oberlandesgerichts vom 18. August 1975 zurückgewiesen. Am 2. September 1975, der Beklagten zugestellt am 4. September, erhob der Kläger Klage mit dem Antrag, die Beklagte zu verurteilen, 39.763,63 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 21. Oktober 1973 zu bezahlen.

Die Beklagte hat sich erneut auf Verjährung berufen.

Das Landgericht und das Oberlandesgerichts haben die Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klaganspruch weiter.

 

Entscheidungsgründe

Das Berufungsgericht hat den auf § 736 Abs. 1 HGB gestützten Schadensersatzanspruch für verjährt und die Klage schon aus diesem Grunde für abweisungsreif gehalten. Dem ist jedoch, wie die Revision zu Recht geltend macht, nicht zu folgen.

Ansprüche dieser Art verjähren gemäß § 901 Satz 2 Nr. 2 HGB a.F. und § 902 Nr. 2 HGB i.d.F. d. Seerechtsänderungsgesetzes vom 21. Juni 1972, BGBl I 1513 (= n.F.) in zwei Jahren vom Ablauf des Kollisionstags an gerechnet (§ 903 HGB). Diese Frist war am 4. März 1975, also bevor der Kläger am 4. September 1975 Klage erhob, abgelaufen. Die Einreichung des Armenrechtsgesuchs hat die Verjährung nicht unterbrochen; eine dahingehende gesetzliche Regelung besteht nicht (§ 209 BGB). Die Verjährung war jedoch gehemmt (§ 203 BGB), weil der Kläger wegen des Unvermögens, die Prozeßkosten zu tragen, während der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch – im Sinne jener Vorschrift – „höhere Gewaltz” an der Rechtsverfolgung gehindert war.

Das entspricht allerdings bei dem vorliegenden Sachverhalt nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der sich das Berufungsgericht angeschlossen hat (BGHZ 17, 199; BGH, Urt. v. 8. 5. 56 – VI ZR 58/55, LM BGB § 254 [E] Nr. 2; v. 28. 9. 59 – III ZR 75/58, VersR 1960, 60; v. 20. 6. 60 – III ZR 127/59, VersR 1960, 951; BGHZ 37, 113; v. 30. 9. 69 – VI ZR 54/68, DAVorm. 70, 10; v. 8. 3. 77 – VI ZR 142/75, VersR 1977, 622). Danach soll der Umstand, daß das Gericht erst nach Fristablauf entscheidet, nur dann einen Fall höherer Gewalt darstellen, wenn der Berechtigte alles in seinen Kräften Stehende getan hat, um eine rechtzeitige Bewilligung des Armenrechts zu erreichen und damit eine Klageerhebung noch vor Ablauf der Verjährung zu ermöglichen. Diese Voraussetzungen waren hier nicht erfüllt. Denn die Beklagte, die ihren Sitz in Hamburg hat, hatte schon mit Schriftsatz vom 26. November 1974 die örtliche Zuständigkeit des vom Kläger zum Zwecke der Armenrechtsbewilligung angerufenen Landgerichts Lübeck gerügt. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers stellte jedoch erst am 19. Februar 1975, also mehr als zwei Monate später, beim Landgericht Lübeck den Antrag, das Armenrechtsverfahren an das Landgericht Hamburg abzugeben. Nach dieser vom Kläger oder seinen Anwälten zu vertretenden Verzögerung konnte mit einer Entscheidung des Landgerichts Hamburg bis zum 4. März 1975 nicht mehr gerechnet werden.

An der Auffassung, die Verjährung werde nur gehemmt, wenn die unbemittelte Partei so frühzeitig das Armenrecht beantrage, daß darüber bei gewöhnlichem Geschäftsgang des Gerichts noch innerhalb der Verjährungsfrist entschieden und Klage erhoben werden könne, kann jedoch nicht festgehalten werden.

Im Bereich des Rechtsschutzes gebietet es der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten weitgehend anzugleichen (BVerfGE 9, 124, 131; 10, 264, 270). Der unbemittelten Partei darf daher die Rechtsverfolgung und -verteidigung im Vergleich zur bemittelten nicht unverhältnismäßig erschwert werden (BVerfGE 2, 336, 340; 9, 124, 130, 131). Daraus hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem hergeleitet, daß es gegen Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG verstoße, im Zivilprozeß einem unbemittelten Rechtsmittelkläger, der nach Bewilligung des Armenrechts die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag (§ 234 Abs. 1 ZPO) versäumt hat, keine Wiedereinsetzung zu gewähren (BVerfGE 22, 83).

Nach Ansicht des Senats sind diese Grundsätze auch im vorliegenden Falle anzuwenden; sie erfordern es, die Hemmung der Verjährung auch dann eintreten zu lassen, wenn ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber so spät – unter Umständen noch am letzten Tag – eingereicht wird, daß darüber vor Fristablauf nicht mehr entschieden werden kann.

Die gegenwärtige Rechtspraxis benachteiligt die unbemittelte Partei und führt außerdem zur Rechtsunsicherheit im Einzelfall: Einer bemittelten Partei steht der volle Zeitraum, in dem die Verjährung läuft, für außergerichtliche Verhandlungen und zur Vorbereitung der Klage zur Verfügung, da sie noch am letzten Tage der Frist die Verjährung durch Klageerhebung oder eine gleichstehende Maßnahme (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 n.F. ZPO) unterbrechen kann. Für die unbemittelte Partei führt dagegen die Verpflichtung, im Armenrechtsgesuch eine vollständige Sachdarstellung zu geben (BGH, Urt. v. 27. 11. 59 – VI ZR 112/59, LM BGB § 203 Nr. 6) und das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen, daß darüber innerhalb der Verjährungsfrist entschieden werden kam, zu einer Verkürzung dieser Frist. Ebenso schwerwiegend wie dieser Nachteil ist die Unsicherheit, mit der die arme Partei belastet wird. Dies gilt zunächst für die Pflicht, das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen, daß wirklich vor Ablauf der Verjährung darüber entschieden werden kann (BGHZ 17, 199, 202). Damit wird von der armen Partei eine Prognose verlangt, die sie nicht zuverlässig stellen kann, weil sie nicht alle Umstände kennt, die den Gang des Verfahrens beeinflussen werden. Die unbemittelte Partei ist daher dem Risiko ausgesetzt, nachträglich gesagt zu bekommen, sie habe das Armenrechtsgesuch nicht „rechtzeitig” eingereicht. Von Unsicherheit geprägt ist auch die Bestimmung des Zeitpunkts für den Beginn der Hemmung. Nach der hierfür verwendeten Formel tritt die Hemmung der Verjährung in dem Augenblick ein, in dem der Kläger bei sachgemäßer Behandlung eine Entscheidung über sein Armenrechtsgesuch erwarten konnte (BGHZ 17, 202; 37, 113, 122). Der Beginn der Verjährungshemmung und damit auch ihre Dauer hängen danach von dem unbestimmten, verschiedener Deutung zugänglichen Begriff der „sachgemäßen” Behandlung des Armenrechtverfahrens ab. Daß darin für die arme Partei ein Risiko liegt, sich hinsichtlich der Dauer der Hemmung der Verjährung zu „verrechnen”, liegt auf der Hand. Die dargelegten Umstände bedeuten für die arme Partei eine unverhältnismäßige Erschwerung der Rechtsverfolgung im Vergleich zu der bemittelten. Darauf, daß die Belange der um das Armenrecht nachsuchenden Partei durch die Zustellung ein Mahnbescheids oder die Anbringung eines Güteantrags nicht hinreichend gewahrt sind, hat bereits das Reichsgericht (RGZ 163, 9) hingewiesen. Bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise erscheint die weitgehende Angleichung der Stellung der armen an die der vermögenden Partei nur durch eine Regelung gewährleistet, die es ersterer erlaubt, die Verjährungsfrist in vollem Umfange zu nutzen (vgl. auch BGH, Urt. v. 4. 3. 77 – V ZR 236/75, VersR 1977, 665 u. Kollhoser, VersR 1974, 829 zu der ähnlichen Problematik bei. § 12 Abs. 3 VVG). Deshalb ist nach Auffassung des Senats bei verfassungskonformer Anwendung des § 203 Abs. 2 BGB eine Partei durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung verhindert, wenn sie am Tage des Ablaufs der Verjährungsfrist infolge Armut keine Klage erheben kann, aber spätestens in diesem Zeitpunkt das zur Behebung des Hindernisses notwendige Armenrechtsverfahren durch ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch eingeleitet hat. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann tritt die Hemmung der Verjährung ein, und sie dauert grundsätzlich fort, bis die arme Partei nach der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch bei angemessener Sachbehandlung in der Lage ist, ordnungsgemäß Klage zu erheben. Eine solche Regelung widerspricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes. Sie belastet auch nicht den Schuldner der unbemittelten Partei in unangemessener Weise. Die dadurch in der Regel eintretende Verlängerung der Verjährungsfrist hält sich in vertretbarem Rahmen, und der Schuldner erfährt zur gleichen Zeit wie bei Klageerhebung von der beabsichtigten Rechtsverfolgung und kann sich darauf einstellen.

Für den vorliegenden Fall folgt daraus, daß die mit der Klage geltend gemachte Schadensersatzforderung nicht verjährt ist. Das Armenrechtsgesuch ist, da es am letzten Tage der Verjährungsfrist dem Gericht vorlag, rechtzeitig gestellt. Dem Kläger – der seine Armut glaubhaft gemacht hatte – sind auch im weiteren Verlauf des Armenrechtsverfahrens keine Umstände, die eine Verzögerung der Armenrechtsentscheidung nach sich gezogen haben, als Verschulden mit der Folge anzurechnen, daß von höherer Gewalt im Sinne von § 203 Abs. 2 DGB nicht mehr gesprochen werden könnte. Der Kläger wurde durch Verfügung des Vorsitzenden der Zivilkammer 6 des Landgerichts Hamburg, die am 7. April 1975 an die Rechtsanwälte abgesandt worden ist, aufgefordert, ein Armen-Attest neueren Datums vorzulegen. Dem ist er nachgekommen, indem er am 5. Mai 1975 ein weiteres Zeugnis zur Erlangung einstweiliger Kostenbefreiung eingereicht hat. Darauf, ob dieser Erledigungszeitraum angemessen war, kommt es nicht an. Die Verzögerung der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch hätte selbst dann nicht auf diesem Vorgang beruht, wenn das Armutszeugnis etwas früher hätte vorgelegt werden können. Das Landgericht hatte nämlich in der gleichen Verfügung die Beklagte aufgefordert zu erklären, ob sie Verweisung an die Kammer für Handelssachen beantragen wolle. Der entsprechende Antrag ist am 29. April 1975 beim Landgericht eingegangen. Die Zivilkammer hat daraufhin durch Beschluß vom 23. Mai 1975 das Verfahren an die Kammer für Handelssachen abgegeben. Zu dieser Zeit aber hat das neue Armutszeugnis des Klägers vorgelegen. Der Umstand, daß der Kläger nicht sogleich beim Landgericht Lübeck beantragt hat, das Verfahren an die Kammer für Handelssachen des Landgerichts Hamburg abzugeben, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen. Nach § 96 Abs. 1 GVG ist der Kläger nicht verpflichtet zu beantragen, daß der Rechtsstreit vor der Kammer für Handelssachen verhandelt werden solle.

Schließlich ist die Klage auch rechtzeitig nach Abschluß des Armenrechtsverfahrens erhoben worden. Das Armenrecht wurde dem Kläger durch Beschluß des Berufungsgerichts vom 18. August 1975 endgültig versagt. Eine Ausfertigung dieses Beschlusses ging am 21. August 1975 an die Anwälte des Klägers ab. Mit Schriftsatz vom 1. September 1975, der bei Gericht am 2. September eingegangen ist, hat der Kläger Klage erhoben. Diese ist am 4. September 1975 zugestellt worden. Der Kläger hat also spätestens zwei Wochen, nachdem er von dem negativen Ausgang des Armenrechtsverfahrens Kenntnis erlangt hatte, die Klage eingereicht. In Anwendung des Rechtsgedankens von § 234 Abs. 1 ZPO ist der Partei nach Kenntnis vom Abschluß des Armenrechtsverfahrens ebenfalls eine zumindest zweiwöchige Frist zur Vorbereitung der Klage zuzubilligen. Ob diese im Einzelfall überschritten werden darf, braucht hier nicht entschieden zu werden.

Aus all dem folgt, daß die Verjährung des Schadensersatzanspruchs des Klägers bis zur Erhebung der Klage gehemmt war. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.

Ein Grund zur Vorlage dieser Sache an den Großen Senat für Zivilsachen bestand nicht. Der III. und der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes haben auf Antrage erklärt, daß sie an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung nicht mehr festhalten.

 

Unterschriften

Stimpel, Dr. Schulze, Fleck, Dr. Bauer, Bundschuh

 

Fundstellen

Haufe-Index 1502362

BGHZ

BGHZ, 235

NJW 1978, 938

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