Leitsatz (amtlich)

›Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen der Verwahrer eines verschlossenen Behältnisses Alleingewahrsam auch am Inhalt hat, obwohl sich der Schlüssel zu dem Behältnis in der Hand eines anderen befindet.‹

 

Verfahrensgang

Schöffengericht Alzey

OLG Koblenz

 

Gründe

I.

Der Angeklagte hatte ein Fernsehstandgerät mit Münzeinwurf unter Eigentumsvorbehalt auf Abzahlung gekauft. Um das in seiner Wohnung aufgestellte Gerät für eine Stunde in Betrieb setzen zu können, mußte er jeweils ein Markstück in eine an der Rückseite fest angebrachte verschlossene Bakelitkassette einwerfen. Der Verkäufer, der allein den Schlüssel besaß, kam regelmäßig zum Monatsbeginn, um. die angesammelten Geldstücke abzuholen, fand aber häufig keinen Einlaß. Nach den Feststellungen zertrümmerte der Angeklagte die Kassette in der Absicht, das darin befindliche Geld an sich zu nehmen und für eigene Zwecke zu verwenden. Der Behälter war jedoch leer.

Das Schöffengericht nahm an, daß der Verkäufer an den Geldstücken in der Kassette Eigentum und zumindest Mitgewahrsam erlangt hatte. Die Behauptung des Angeklagten, er habe die Kassette nur versehentlich beschädigt, sah es für widerlegt an. Es verurteilte ihn daher wegen versuchten einfachen Diebstahls zu einer Gefängnisstrafe. Die Anwendbarkeit des § 243 Abs. 1 Nr. 2 StGB verneinte es mit der Begründung, daß der Angeklagte nicht aus einem umschlossenen Raum gestohlen habe.

Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Sprungrevision eingelegt. Sie vertritt die Ansicht, daß der Angeklagte versucht habe, aus einem Gebäude mittels Erbrechens eines Behältnisses zu stehlen (§ 243 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Das für die Entscheidung über die Revision zuständige OLG in Koblenz möchte sich der Rechtsauffassung des Schöffengerichts anschließen und die Revision der Staatsanwaltschaft verwerfen. Daran sieht es sich jedoch durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs BGHSt 15, 146 gehindert, nach welcher schwerer Diebstahl gemäß § 243 Abs. 1 Nr. 2 StGB auch dann gegeben ist, wenn der Täter Mitbewohner des Raumes ist, in dem sich das von ihm erbrochene Behältnis befindet.

II.

Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 121 Abs. 2 GVG sind erfüllt. Die das Urteil BGHSt 15, 146 tragenden Ausführungen umfassen auch den vorliegenden Fall. Wie das Schöffengericht geht das OLG davon aus, daß der Angeklagte einen Diebstahlsversuch begangen hat. Voraussetzung hierfür wäre, daß der Verkäufer an den in der Kassette befindlichen Geldstücken zumindest Mitgewahrsam erlangt hatte. Zwar war das nach Ansicht des Senats nicht der Fall, wie noch ausgeführt werden wird. Die Ansicht des vorlegenden Gerichts ist jedoch vertretbar, so daß kein Anlaß bestand, die Sache an das OLG zurückzugeben (BGHSt 9, 390, 391; 11, 139, 142; 15, 83, 85; 19, 242).

Der Senat hält es für zweckmäßig, über die Revision selbst zu entscheiden (vgl. BGH JZ 1952, 149).

III.

Die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Revision bewirkt, daß das Urteil auch zugunsten des Angeklagten geändert oder aufgehoben werden kann (§ 301 StPO). Die Sachrüge führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.

1. Diebstahl scheidet aus, weil die eingeworfenen Geldstücke nicht in fremdem Gewahrsam standen.

Unzweifelhaft hatte der Angeklagte den alleinigen Gewahrsam an dem Fernsehgerät und der damit verbundenen Kassette. An die eingeworfenen Geldstücke konnte er, da der Schlüssel im Besitz des Verkäufers war, nur durch Zerstörung der Kassette gelangen. Darüber, ob in solchen Fällen der Behältnisverwahrer oder der Schlüsselbesitzer den Gewahrsam am Inhalt des verschlossenen Behältnisses hat, gibt es keine allgemeine Regel; die Frage kann nicht einheitlich beantwortet werden. Wie allgemein, wenn es um die Frage der tatsächlichen Sachherrschaft geht, kommt es auch hier entscheidend auf die Umstände des einzelnen Falles und ihre Beurteilung nach den Anschauungen des Verkehrs an (vgl. BGHSt 16, 271, 273 ff). Die Annahme, daß stets der Schlüsselinhaber den Gewahrsam am Inhalt des Behältnisses habe, wäre also ebenso verfehlt, wie die entgegengesetzte Ansicht, daß der Gewahrsam am Behältnis stets den Gewahrsam am Inhalt in sich schließe. Die Verkehrsanschauung mißt allerdings gewissen Merkmalen der Sachgestaltung wesentliche Bedeutung bei, aus der sich Richtlinien für die Beantwortung der Gewahrsamsfrage ergeben.

Ein solches Merkmal ist die Beweglichkeit oder Unbeweglichkeit des Behältnisses. Hat z. B. jemand Geld in eine Kassette eingeworfen, die mit einem Gebäude fest verbunden oder in ein im Gebäude fest verlegtes Rohrsystem eingefügt ist, so ist er außerstande, über das Geld allein oder zusammen mit der Kassette zu verfügen. Hier billigt die Verkehrsauffassung dem Schlüsselinhaber Gewahrsam am Inhalt des Behältnisses zu, und zwar auch dann, wenn nur der Behälterverwahrer den Raum bewohnt. Auf dieser Grundlage sind das Erbrechen von Gasautomaten und die Zueignung ihres Inhalts als Diebstahl beurteilt worden (vgl. RGSt 45, 249, 252). Ist dagegen das Behältnis selbständig und beweglich, so daß der Verwahrer gleichzeitig mit ihm auch über den Inhalt durch Wegschaffen oder Veräußern verfügen kann, so hat er in der Regel die tatsächliche Gewalt über die Sachgesamtheit und damit Alleingewahrsam auch am Inhalt. Das Reichsgericht hat das bereits in der grundlegenden Entscheidung RGSt 5, 222 ausgesprochen (vgl. auch RGSt 47, 210, 213); daran hält der Senat fest. In Betracht kommen vor allem die Fälle, in denen der Schlüsselinhaber nicht einmal weiß, wo sich das Behältnis befindet (vgl. BGH GA 1956, 318). Die Verkehrsanschauung macht hiervon freilich Ausnahmen. So kann z. B. anders zu entscheiden sein, wenn das Behältnis (etwa ein großer Panzerschrank) schwer beweglich ist. Eine wichtige Ausnahme hat schon die erwähnte Entscheidung RGSt 5, 222 hervorgehoben: Der Inhalt eines Behältnisses befindet sich dann im Gewahrsam des Schlüsselinhabers, wenn dieser unabhängig vom Behältnisverwahrer jederzeit ungehinderten Zutritt zu dem Behältnis hat, dessen Verbleib also laufend überwachen kann (vgl. auch RGSt 2, 64).

Legt man diese Gesichtspunkte zugrunde, so ergibt sich, daß der Verkäufer des Fernsehgeräts keinen Gewahrsam an den in die Kassette eingeworfenen Geldstücken erlangt hat. Der Angeklagte konnte zwar, sofern er nicht Gewalt anwendete, wegen der festen Verbindung über das Gerät und die Kassette nebst Inhalt nur zusammen verfügen. Ein solches Gerät ist jedoch ziemlich mühelos zu bewegen und wegzuschaffen, die an ihm angebrachte Kassette also nicht einem Behältnis gleichzusetzen, das mit einem Gebäude fest verbunden ist. Es blieb die Möglichkeit der Gewahrsamsbegründung durch jederzeitigen ungehinderten Zutritt. Die festgestellten tatsächlichen Verhältnisse stehen dieser Annahme jedoch entgegen. Daß sich der Angeklagte vertraglich verpflichtet hat, dem Verkäufer jeweils zu Beginn eines Monats den Zutritt zu gewähren, ist ohne Bedeutung. Es kommt auf tatsächliche Sachherrschaft an; weder beseitigte die Vereinbarung für sich allein die Abhängigkeit des Verkäufers vom guten Willen des Angeklagten, noch war sie ihrem Inhalt nach auf jederzeitigen ungehinderten Zutritt gerichtet. Alleingewahrsam oder wenigstens Mitgewahrsam des Verkäufers am Kassetteninhalt dürfte also nur angenommen werden, wenn sich ein Zustand jederzeitigen ungehinderten Zutritts tatsächlich entwickelt hätte. Davon kann keine Rede sein. Jeweils nur zu Beginn eines Monats kam der Verkäufer zum Leeren der Kassette und fand häufig nicht einmal in diesem Zeitabstand Einlaß in die Wohnung des Angeklagten. Zudem wohnt er in einer fast 30 km entfernten Stadt, so daß auch die Möglichkeit einer wirksamen Überwachung praktisch ausgeschlossen war.

Nach allem hat der Angeklagte nicht fremden Gewahrsam gebrochen, als er die Kassette zerstörte, um an die eingeworfenen Geldstücke zu gelangen.

2. Nach den bisherigen Feststellungen ist der Tatbestand der versuchten Unterschlagung gegeben. Die Geldstücke in der Kassette waren fremde Sachen. Die Vertragspartner waren darüber einig, daß das Eigentum an den Münzen auf den Verkäufer übergehen sollte, wenn sie der Angeklagte einwarf. Von nun an sollte er sie für den Verkäufer aufbewahren. Dieser erwarb das Eigentum durch (antizipiertes) Besitzkonstitut gemäß § 930 BGB.

Der Senat kann den Schuldspruch jedoch aus folgendem Gründe nicht ändern:

Das Schöffengericht ist überzeugt, daß der Angeklagte die Kassette entgegen seiner Behauptung vorsätzlich zerstört hat. Diesen Umstand würdigt es nur dahin, daß der Angeklagte sich die in der Kassette befindlichen Geldstücke zueignen wollte. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, daß er lediglich den Mechanismus des Automaten ausschalten und auf diese Weise unentgeltlich fernsehen wollte (Automatenmißbrauch nach § 265 a StGB). Dafür kann sprechen, daß sich in der Kassette gar kein Geld befunden hat. Diese weitere, durchaus naheliegende Möglichkeit ist bisher nicht erörtert worden. Das Urteil muß daher aufgehoben werden (vgl. BGH NJW 1953, 1440 Nr. 23). Die neue Hauptverwaltung gibt Gelegenheit, die Beweise umfassend zu würdigen.

3. Die Entscheidung entspricht dem Antrag des Generalbundesanwalts.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2992671

BGHSt 22, 180

BGHSt, 180

NJW 1968, 2069

MDR 1968, 856

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge