Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen dem Eigentümer eines lärmvorbelasteten Grundstücks in einem innerstädtischen Mischgebiet Entschädigungsansprüche aus enteignendem Eingriff wegen Verkehrsimmissionen von einer Altstraße zustehen (hier: Geldausgleich für Schallschutzeinrichtungen an dem betroffenen Wohngebäude).

 

Normenkette

GG Art. 14; BGB § 906

 

Verfahrensgang

OLG Köln (Urteil vom 18.09.1986)

LG Köln

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 18. September 1986 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks in K.-E., W.straße …/Ecke P.straße. Auf dem im Mischgebiet liegenden Grundstück, das der Kläger im Jahre 1963 von der beklagten Stadt erworben hat, betreibt er ein damals errichtetes Studentenwohnheim. Straßenwärts befinden sich im ersten bis vierten Stockwerk Studentenzimmer, während im Erdgeschoß und Tiefparterre Gemeinschafts-, Studien- und Tagungsräume eingerichtet sind. Die W.straße, eine Gemeindestraße, die bis dahin mit Basaltpflaster versehen war, wurde von der Beklagten in den Jahren 1973/1974 ausgebaut. Sie besteht nunmehr aus zwei markierten Fahrbahnen von insgesamt 11 m Breite, wobei jede Fahrbahn zwei Fahrstreifen hat. Zudem ließ die Beklagte im Jahre 1976 an der Ecke W.straße/P.straße eine Ampelanlage anbringen.

Bei Schallmessungen im Jahre 1965 wurde ein äquivalenter Dauerschallpegel von 73,1 d.B. (A) am Tag und von 71,1 d.B. (A) in der Nacht festgestellt. Im Jahre 1976 durchgeführte Schallmessungen ergaben Werte von 73,5 d.B. (A) tagsüber und von 67,3 d.B. (A) bei Nacht. Im Jahre 1979 wurden am Tag 72,4 d.B. (A) gemessen.

Der Kläger ließ im Jahre 1974 zunächst die zur Weinsbergstraße hin gelegenen Studentenzimmer des ersten bis dritten Stockwerks, später auch die Räume im Erdgeschoß und im Tiefparterre sowie die Zimmer mit Front zur Piusstraße, mit schalldämmenden Fenstern versehen. Dabei entstanden für die Hausfront an der P.straße Aufwendungen in Höhe von 53.294,18 DM und für den Bereich der Straßenfront an der Weinsbergstraße Aufwendungen von 31.467,42 DM. Die Beklagte lehnte es ab, sich an diesen Kosten zu beteiligen.

Der Kläger begehrt Ersatz seiner Aufwendungen unter Abzug eines Anteils von 20 % aus dem Gesichtspunkt „neu für alt”. Er hat zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 67.809,29 DM nebst Zinsen zu verurteilen.

Das Landgericht hat der Klage in Höhe eines Betrages von 20.000,– DM stattgegeben. Gegen dieses Urteil haben der Kläger Berufung und die Beklagte Anschlußberufung eingelegt. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung der Beklagten die Klage in vollem Umfange abgewiesen.

Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein auf Zahlung von 67.809,29 DM nebst Zinsen gerichtetes Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat Erfolg.

I.

1. Nach der neueren Rechtsprechung des erkennenden Senats steht dem Betroffenen ein öffentlich-rechtlicher Anspruch auf Entschädigung zu, wenn Verkehrsimmissionen von hoher Hand, deren Zuführung nicht untersagt werden kann, sich als ein unmittelbarer Eingriff in nachbarliches Eigentum darstellen und die Grenze dessen überschreiten, was ein Nachbar nach § 906 BGB entschädigungslos hinnehmen muß. Dieser Entschädigungsanspruch ist unabhängig davon, ob der betroffene Anlieger zum Ausbau der Straße einen Teil seines Grundstücks hat abtreten müssen oder nicht. Er besteht grundsätzlich in einem Geldausgleich für Schallschutzeinrichtungen auf dem betroffenen Grundstück. Eine Entschädigung für einen Minderwert des Grundstücks kommt erst in Betracht, wenn Schutzeinrichtungen keine wirksame Abhilfe versprechen oder unverhältnismäßige Aufwendungen erfordern. Der Entschädigungsanspruch setzt, wenn keine (Teil-)Enteignung von Grundeigentum für den Straßenbau erfolgt ist, weiter voraus, daß die zugelassene Nutzung des Straßengrundstücks die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig verändert und dadurch das benachbarte Wohneigentum schwer und unerträglich trifft (st. Rspr. des Senats seit BGHZ 64, 220, 229 f, vgl. zuletzt Senatsurteile BGHZ 97, 114, 116; 97, 361, 362 f und vom 23. Oktober 1986 – III ZR 112/85 = LM Art. 14 GG [Cb] Nr. 54 = BGHR GG vor Art. 1/enteignender Eingriff – Verkehrslärm 2 –, jew. m.w.Nachw.; zusammenfassend Boujong UPR 1987, 207). Bei dem Entschädigungsanspruch aus enteignendem Eingriff handelt es sich, auch soweit er Aufwendungen für Schallschutzeinrichtungen an dem betroffenen Grundstück zum Gegenstand hat, um einen vor die Zivilgerichte gehörenden Anspruch (vgl. Senatsurteil BGHZ 97, 114, 118).

2. Verkehrsimmissionen, die von einer in Betrieb genommenen öffentlichen Straße ausgehen, sind als öffentlich-rechtliche Einwirkungen zu beurteilen. Die Beeinträchtigung des betroffenen Grundstücks des Klägers durch Verkehrsimmissionen ist die unmittelbare Folge der hoheitlichen Eröffnung der beiden vorbeiführenden Straßen für den Kraftverkehr. Diese Zweckbestimmung beruht auf der Widmung der Straße für diesen Gebrauch. Dadurch ist zugleich die Pflicht der Anlieger begründet worden, die von der Straße ausgehenden Verkehrsimmissionen zu dulden. Die Verkehrslärmeinwirkungen bilden daher einen unmittelbaren hoheitlichen Eingriff in das Anliegereigentum (Senatsurteile BGHZ 64, 220, 222; 97, 361, 364; vom 10. November 1977 – III ZR 166/75 = LM Art. 14 (Cb) GG Nr. 34 = DVBl. 1978, 110 und vom 23. Oktober 1986 a.a.O.).

3. a) Diese Grundsätze finden auch Anwendung, wenn die Verkehrsimmissionen durch die Benutzung von schon länger bestehenden Straßen (Altstraßen) verursacht werden (vgl. Senatsurteile BGHZ 64, 220; 97, 361). Sie gelten ferner, wenn dem Bau oder Ausbau der Straße – wie hier – kein straßenrechtliches Planfeststellungsverfahren nach den §§ 17 ff. FStrG oder den entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften zugrunde gelegen hat (Senatsurteil BGHZ 97, 361, 363).

b) Den in der Rechtsprechung des erkennenden Senats entwickelten Grundsätzen stehen – zumindest im vorliegenden Fall – auch nicht die (im übrigen nicht tragenden) Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 22. Mai 1987 – 4 C 17–19/84 (DVBl. 1987, 1001 = NJW 1987, 2884) entgegen. Diese Ausführungen beziehen sich nur auf Ausgleichsansprüche nach § 17 Abs. 4 Satz 2 FStrG und § 74 Abs. 2 Satz 3 BadWürttVwVfG. Über derartige Ansprüche ist aber im Streitfall nicht zu befinden, da hier – wie ausgeführt – keine Planfeststellung stattgefunden hat.

Der erkennende Senat setzt sich mit seiner Rechtsprechung zur Entschädigung für Verkehrslärmimmissionen auch nicht in Widerspruch zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, 3. Kammer des Ersten Senats, vom 9. Juni 1987 – 1 BvR 510/87 (NVwZ 1987, 969). Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats enthalten schwere und unerträgliche Lärmauswirkungen auf benachbarte Wohngrundstücke keine Enteignung i.S. des Art. 14 Abs. 3 GG (was nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „schon im Ansatz äußerst fragwürdig” wäre), sondern einen enteignenden Eingriff; dieses Rechtsinstitut findet aber seine Rechtsgrundlage nicht in Art. 14 Abs. 3 GG (Senatsurteil BGHZ 91, 20, 26 f.).

4. Die vom Berufungsgericht geäußerten Zweifel – es läßt die Frage letztlich offen – am Vorliegen eines unmittelbaren hoheitlichen Eingriffs, sind nicht gerechtfertigt. Für die Frage, ob ein Entschädigungsanspruch aus enteignendem Eingriff begründet ist, kommt es allein darauf an, ob die Verkehrsimmissionen, die im Rahmen der widmungsgemäßen Benutzung von der Straße ausgehen, die enteignungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle übersteigen. Es ist also auf das Ausmaß und die Auswirkungen der Verkehrsimmissionen abzuheben. Dagegen spielt es – von der Frage der sog. plangegebenen Vorbelastung (vgl. dazu etwa BVerwGE 71, 150, 155 ff.) abgesehen – keine Rolle, ob sich das Verkehrsaufkommen der Straße aufgrund straßenbautechnischer Veränderungen (z.B. Ausbau) und/oder einer Umwidmung erhöht hat oder die unverändert gebliebene Straße nur stärker frequentiert wird (vgl. Senatsurteil vom 10. November 1977 – III ZR 166/75 = LM Art. 14 GG [Cb] Nr. 34 unter II 3 = DVBl. 1978, 110). Gegen diesen Standpunkt kann aus der vom Berufungsgericht zitierten Vorschrift des § 41 Abs. 1 BImSchG, die – soweit hier von Interesse – eine wesentliche Änderung einer öffentlichen Straße voraussetzt, nichts hergeleitet werden. Diese Vorschrift betrifft Maßnahmen des aktiven Lärmschutzes an der Straße (z.B. Lärmschutzwände), während es hier um Schallschutzmaßnahmen an dem betroffenen Wohnungsgrundstück (passiver Lärmschutz) geht, die in § 42 BImSchG angesprochen werden.

Im übrigen haben im vorliegenden Fall Veränderungen an den Straßen stattgefunden, auch wenn sie nicht wesentlich waren. Die Weinsbergstraße ist ausgebaut und an der Kreuzung mit der Piusstraße ist eine Ampel angebracht worden; diese Maßnahmen waren geeignet, die Lärmbelastung des Grundstücks des Klägers zu erhöhen.

II.

Das Berufungsgericht hat angenommen, daß die Verkehrsimmissionen, die von den beiden vorbeiführenden Straßen ausgehen, das Anliegereigentum des Klägers nicht schwer und unerträglich betroffen und somit die Enteignungsschwelle nicht überschritten haben. Dem kann aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden.

1. Für die Erreichung der Enteignungsschwelle kann nicht danach unterschieden werden, ob die Verkehrsimmissionen (wie hier) von Altstraßen oder von neuen Straßen ausgehen (Senatsurteile BGHZ 97, 361, 364 und vom 23. Oktober 1986 a.a.O. LM Art. 14 GG [Cb] Nr. 54 = BGHR GG vor Art. 1/enteignender Eingriff, Verkehrslärm 1 und 2). Eine normative Festlegung der Grenze, die für die Zubilligung einer Enteignungsentschädigung maßgebend ist, fehlt bisher. Im Wege der Rechtsanwendung läßt sich die enteignungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle nicht in einem für alle Fallgestaltungen zutreffenden bestimmten Geräuschpegel ausdrücken (Senatsurteile BGHZ 97, 114, 122; 97, 361, 365 und vom 23. Oktober 1986 a.a.O., jew. m.w.Nachw.). Es ist vielmehr, wie der erkennende Senat in den angeführten Urteilen ausgesprochen hat, auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen. Dabei können allerdings Richtwerte, die in Gesetzentwürfen bzw. Verwaltungsvorschriften enthalten sind oder im Schrifttum befürwortet werden, eine Orientierungshilfe bieten, ohne jedoch den Richter der eigenverantwortlichen Feststellung des Ausmaßes der Lärmbelästigung und der enteignungsrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle zu entheben. Es ist daher auch zulässig, die Grenzwerte heranzuziehen, die in den Beratungen des Entwurfs eines (gescheiterten) Verkehrslärmschutzgesetzes vorgeschlagen wurden oder in den vom Bundesverkehrsminister am 6. Juli 1983 herausgegebenen „Richtlinien für den Verkehrslärmschutz an Bundesstraßen in der Baulast des Bundes” (RLS 83, VkBl. 1983, 306), fortgeschrieben am 15. Januar 1986 (VkBl. 1986, 101), vorgesehen sind (Senatsurteile a.a.O.).

2. a) Das Berufungsgericht hat aufgrund des in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachtens für den 20. März 1985 an beiden Straßen folgende Lärmwerte (jeweils Außenschallpegel) festgestellt: im Erdgeschoß 70,5/67,2 d.B. (A) tagsüber/nachts, im II. Obergeschoß 71/62,6 d.B. (A) und im IV. Obergeschoß 67,9/60,3 d.B. (A). Im Blick auf diese Lärmwerte sieht das Berufungsgericht die Enteignungsschwelle, die es für Grundstücke im Mischgebiet im Bereich von 75/65 d.B. (A) tagsüber/nachts ansetzt, als nicht erreicht an. Es übernimmt damit bei der Festlegung der Enteignungsschwelle die Lärmgrenzwerte, die im Bericht des Bundestags-Verkehrsausschusses vom 28. Februar 1980 zum Entwurf des gescheiterten Verkehrslärmschutzgesetzes (BT-Drucks. 8/3730) und in den RLS 83 für die Lärmsanierung an bestehenden Straßen in Mischgebieten vorgesehen waren.

b) Das Berufungsgericht berücksichtigt dabei jedoch nicht, daß die RLS 83 inzwischen im Januar 1986 fortgeschrieben worden sind (VkBl. 1986, 101) und nunmehr für die Lärmsanierung in Mischgebieten von Lärmgrenzwerten von 72/62 d.B. (A) bei Tag/Nacht ausgehen. Diese Werte nähern sich (bezogen auf Mischgebiete) bereits unmittelbar dem Bereich der Enteignungsschwelle oder erreichen ihn schon (vgl. auch Senatsurteil BGHZ 97, 361, 366). In diesem Zusammenhang kann auch nicht unbeachtet bleiben, daß das Bundesverwaltungsgericht für die Bestimmung der fachplanungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze (zur Abgrenzung von der Enteignungsschwelle vgl. Senatsurteil BGHZ 97, 114, 117 f) Lärmgrenzwerte von 55/45 d.B. (A) bei Tag/Nacht für (nicht lärmvorbelastete) Wohngebiete in Erwägung zieht (Urteil vom 22. Mai 1987 – 4 C 33–35/83 – NJW 1987, 2886), während die RLS 83 insoweit Werte von 62/52 d.B. (A) zugrundelegen. Diese Senkung der fachplanungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze führt zwar nicht automatisch dazu, daß auch die enteignungsrechtliche Opfergrenze entsprechend herabgesetzt werden muß. Zumindest in Grenzfällen wird aber diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die dem gewandelten Umweltverständnis Rechnung trägt, auch bei der Festlegung der Enteignungsschwelle nicht außer Betracht bleiben können und tendenziell in die Richtung weisen, hier ebenfalls weniger strenge Anforderungen zu stellen.

Diese für die Zumutbarkeitsschwelle bedeutsamen Umstände können vorliegend berücksichtigt werden, auch wenn sie erst eingetreten sind, nachdem der Kläger die Aufwendungen für Schallschutzeinrichtungen erbracht hat. Wenn die Enteignungsschwelle einmal überschritten ist, kann auch Entschädigung für vorherige sachgerechte Schallschutzmaßnahmen, die nach Erreichung dieser Lärmschwelle ohnehin angefallen wären, verlangt werden.

c) Im Streitfall reichen die vom Berufungsgericht für die Tageszeit festgestellten Lärmwerte (bezogen auf den Stichtag des 20. März 1985) im Erdgeschoß und im II. Obergeschoß unmittelbar an die fortgeschriebenen Werte der RLS heran; der Nachtwert für das II. Obergeschoß liegt etwas über, derjenige für das IV. Obergeschoß um 1,7 d.B. (A) unter dem Orientierungswert der RLS i.d.F. vom 15. Januar 1986 (der Nachtwert für das Erdgeschoß kann unberücksichtigt bleiben, da sich dort keine Schlafräume befinden). Zwar kann die Überschreitung der enteignungsrechtlichen Opfergrenze – wie oben ausgeführt – nicht schematisch von der Erreichung bestimmter Immissionswerte abhängig gemacht werden. Vielmehr läßt sich die aufgrund einzelfallbezogener tatrichterlicher Würdigung zu bestimmende Grenze der enteignungsrechtlich unzumutbaren Lärmbelastung nur im Rahmen eines gewissen Spektrums von Möglichkeiten ziehen (Senatsurteil BGHZ 97, 114, 123). Dabei ist nicht nur auf das Ausmaß, sondern auch auf die Art des Verkehrslärms abzustellen. So können z.B. Geräuschunterschiede, die durch das Anfahren vor der am Gebäude des Klägers befindlichen Verkehrsampel an der Kreuzung verursacht werden, für die Beurteilung, ob die Verkehrsimmissionen noch zumutbar sind, eine Rolle spielen (Senatsurteil vom 10. November 1977 a.a.O. unter II 4 d).

In einem solchen Grenzfall ist der Tatrichter gehalten, sich durch eine Ortsbesichtigung des betroffenen Anwesens persönlich davon zu überzeugen, ob das der Straße benachbarte Wohneigentum durch Umfang und Intensität der Verkehrsimmissionen schwer und unerträglich betroffen wird (Senatsurteil BGHZ 97, 361, 367). Das hat das Berufungsgericht unterlassen.

d) Zudem lag der Schallpegel an der Weinsbergstraße im Jahre 1973, als der Kläger an dieser Straßenfront an seinem Gebäude Schallschutzfenster anbringen ließ, höher als im Jahre 1985. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts betrug der äquivalente Dauerschallpegel im Jahre 1974 (unmittelbar nach dem Einbau der Fenster) 72,5/66,3 d.B. (A) tagsüber/nachts. Dieser – vom Berufungsgericht nicht näher gewürdigte – Umstand kann insoweit Bedeutung erlangen, als für die Frage der Zumutbarkeit der Lärmeinwirkungen auf den Zeitpunkt abzustellen ist, in dem das Grundeigentum von dem enteignenden Eingriff betroffen wurde. Das war der Fall, als die Lärmeinwirkungen nach Ausmaß und Intensität die Enteignungsschwelle überstiegen (Senatsurteile BGHZ 97, 361, 370 f und vom 23. Oktober 1986 a.a.O. LM Art. 14 GG [Cb] Nr. 54 unter II 3).

Nach alledem ist die Annahme des Berufungsgerichts, die Verkehrsimmissionen erreichten nicht die Enteignungsschwelle, von Rechtsirrtum beeinflußt.

3. a) Auch der vom Berufungsgericht herangezogene Gesichtspunkt der (tatsächlichen) Lärmvorbelastung des betroffenen Grundstücks (vgl. Senatsurteil BGHZ 97, 361, 364 f. m.w.Nachw.) trägt die Klageabweisung nicht. Bei der (tatsächlichen) Geräuschvorbelastung handelt es sich um situationsbedingte Lärmeinwirkungen, denen das betroffene Grundstück von seiner Umgebung her ausgesetzt ist. Diese Vorbelastung haftet dem Grundstück kraft seiner Situationsgebundenheit an und muß von dem jeweiligen Eigentümer – unabhängig von dem Zeitpunkt seines Erwerbs und von seiner Kenntnis der Vorbelastung – hingenommen werden (BVerwG 71, 150, 156). Die (faktische) Geräuschvorbelastung erhöht die Zumutbarkeitsschwelle für den durch den Verkehrslärm beeinträchtigten Eigentümer; die Vorbelastung muß grundsätzlich entschädigungslos geduldet werden (vgl. auch BVerwGE 51, 15, 30 ff.; 59, 253, 266). Ausgleichs- und/oder Entschädigungsansprüche bestehen grundsätzlich nur insoweit als das Hinzutreten der Verkehrsgeräusche zu der Geräuschvorbelastung den Pegel des Gesamtgeräuschs in beachtlicher Weise erhöht und gerade in dieser Erhöhung eine zusätzliche unzumutbare Belastung liegt (vgl. BVerwGE 51, 15, 32; 59, 253, 266).

b) Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen gilt indes, wenn die tatsächliche Geräuschvorbelastung bereits schwer und unerträglich war, also schon die Intensität eines enteignenden Eingriffs erreicht hatte. In diesem Falle dürfen die vorbelastenden Verkehrslärmimmissionen insoweit, als sie bereits von enteignender Wirkung waren, nicht zum Nachteil des Eigentümers als entschädigungslos zu duldende Einwirkungen in Betracht gezogen werden (vgl. auch BVerwGE 59, 253, 267; davon weicht auch BVerwG, NJW 1987, 2886, 2888 f nicht ab). Der Eigentümer hätte nämlich bereits aufgrund der die Enteignungsschwelle überschreitenden Lärmvorbelastung (bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen) Anspruch auf Entschädigung aus enteignendem Eingriff erheben können. Im Streitfall betrug die Lärmvorbelastung schon im Jahre 1965 73,1/71,1 d.B. (A); sie dürfte, als der Kläger das Gelände 1963 erwarb, kaum geringer gewesen sein und lag damit im Bereich der Enteignungsschwelle. Mit diesem Gesichtspunkt hat sich das Berufungsgericht nicht auseinandergesetzt.

c) Soweit das Berufungsgericht dem Kläger anlastet, das fragliche Grundstück in Kenntnis der Lärmvorbelastung mit einem Studentenwohnheim bebaut zu haben, ist zu beachten:

Für die Frage der Unzumutbarkeit kann auch bedeutsam sein, daß die Beklagte dem Kläger nach dessen Behauptung bei der Veräußerung des betroffenen Grundstücks im Jahre 1963 zur Auflage gemacht hat, ein Studentenheim zu errichten; für die Unzumutbarkeit der Beeinträchtigung kann eine Rolle spielen, ob Besonderheiten des Falles zur Sphäre des Störers oder des Betroffenen gehören (Senatsurteil vom 13. Januar 1977 – III ZR 6/75 = NJW 1977, 894 f.). Auf diesen Gesichtspunkt ist das Berufungsgericht nicht eingegangen.

III.

Nach alledem kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Daher muß es aufgehoben und die Sache zu erneuter tatrichterlicher Würdigung unter den aufgezeigten rechtlichen Gesichtspunkten an die Vorinstanz zurückverwiesen werden.

 

Unterschriften

Krohn, Kröner, Boujong, Engelhardt, Werp

 

Fundstellen

Haufe-Index 1760252

BGHR

Nachschlagewerk BGH

BRS 1993, 439

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