Verfahrensgang

OLG Hamburg (Entscheidung vom 19.08.1963)

 

Tenor

Die Revision des Zweitbeklagten gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu Hamburg vom 19. August 1963 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision werden dem Zweitbeklagten auferlegt.

 

Tatbestand

Der damals zwölfjährige Zweitbeklagte fand im Mai 1956 beim Spiel auf dem Grundstück D.straße ... in H. B. eine Patronenhülse. Er bearbeitete sie mit einem Hammer und einem Nagel, während der derzeit noch nicht zehnjährige Kläger zusah. Es kam zu einer Explosion, die beide Kinder leicht verletzte. Der Kläger trug eine oberflächliche Wunde an der Stirn davon. Seine Mutter stellte ihn noch am Unfalltage dem Arzt Dr. S. jun. vor, der keine Maßnahmen gegen Wundstarrkrampf (Tetanus) traf. Der am 16. Mai 1956 aufgesuchte Kinderarzt Dr. S. sen. injizierte dem Kläger dagegen mit Zustimmung seiner Mutter 0,4 ccm Tetanol. Auf seinen Vorschlag wurde dem Kläger ferner am 24. Mai 1956 in einem Kinderheim in Bad Oldesloe eine zweite Injektion von 0,5 ccm desselben Mittels durch den Heimarzt verabreicht.

Der Kläger litt vom 26. Mai 1956 ab unter erheblichen Beschwerden. Es entwickelte sich eine "Subsepsis allergica Wissler", die zu Gelenkversteifungen, hochgradigem Muskelschwund und einer erheblichen Verminderung des Kalkgehalts der Knochen führte. Der Kläger kann nur unter Benützung eines Stützapparats stehen und gehen. Es ist bisher nicht gelungen, seine Gesundheit wiederherzustellen.

Der Kläger hat die Beklagten - den Erstbeklagten wegen Verletzung der Aufsichtspflicht - auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Er hat behauptet, der Unfall habe sich am 12. Mai 1956 ereignet; die vier bzw. zwölf Tage später vorgenommenen Tetanol-Injektionen seien erfolgt und auch angezeigt gewesen, um der Entwicklung eines Wundstarrkrampfs aus der erlittenen Verletzung vorzubeugen. Sein Leiden sei auf eine Allergie entweder gegen den Impfstoff oder gegen Fremdkörper zurückzuführen, die beim Unfall in die Wunde eingedrungen seien; ein etwa 1 mm großer Metallsplitter sei noch am 26. Februar 1957 operativ entfernt worden. In jedem Fall, so hat der Kläger ausgeführt, sei die Haftung der Beklagten gegeben. Er hat Zahlung von 6.288,80 DM sowie eines angemessenen Schmerzensgeldes begehrt und um die Fest Stellung gebeten, daß die Beklagten ihn sowohl von allen Erstattungsansprüchen der zuständigen Sozialbehörde aus Anlaß seiner Erkrankung freistellen müssen als auch ihm selbst allen künftigen, unfallbedingten Schaden zu ersetzen haben. Im zweiten Rechtszug hat der Kläger ein hälftiges Mitverschulden eingeräumt und seine Anträge entsprechend beschränkt.

Die Beklagten haben um Abweisung der Klage gebeten. Sie haben bestritten, daß der Zweitbeklagte zur Unfallzeit die erforderliche Einsicht besessen und der Erstbeklagte seiner Aufsichtspflicht nicht genügt habe. Besonders haben sie sich gegen die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der geringfügigen Verletzung des Klägers und seinem Leiden gewandt. Sie haben behauptet, der Unfall habe sich schon am 5. Mai 1956 ereignet; die erst am 16. und 24. Mai vorgenommenen Injektionen seien weder bestimmt noch geeignet gewesen, einem Wundstarrkrampf infolge der erlittenen Verletzung vorzubeugen. Bei akuten Verletzungen helfe nur die passive Impfung mit Tetanus-Serum. Die der aktiven Immunisierung dienende Impfung mit Tetanol könne allein - wenn auch gelegentlich der Wundbehandlung - zur Vorsorge gegen künftige Infektionen erfolgt sein. Für einen hierbei erlittenen Impfschaden seien sie, die Beklagten, nicht haftbar. Im übrigen sei die "Subsepsis allergica Wissler" eine so seltene und unerforschte Krankheit, daß sich über ihre Ursachen nichts Verläßliches feststellen lasse und schon deshalb ihre Zurechnung als Unfallfolge nicht zu rechtfertigen sei.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat gegen den Zweitbeklagten nach den eingeschränkten Anträgen des Klägers erkannt, wobei es den bezifferten Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt hat. Als Schmerzensgeld hat es dem Kläger eine einmalige Zahlung von 5.000 DM sowie eine monatliche, vom 1. Juni 1962 ab zu zahlende Rente von 60 DM zuerkannt. Hinsichtlich des Erstbeklagten ist die Berufung zurückgewiesen worden.

Auf die Revision des Zweitbeklagten hat der erkennende Senat dieses Urteil, soweit zum Nachteil des Zweitbeklagten erkannt worden war, aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen (Urteil vom 12. Februar 1963 - VI ZR 181/62). Der Kläger hat nunmehr seinen Zahlungsantrag auf 4.255 DM erhöht und im übrigen um sine mit dem ersten Berufungsurteil gleichlautende Entscheidung gebeten. Das Oberlandesgericht hat nach diesem Begehren erkannt. Hiergegen richtet sich die erneute Revision des Zweitbeklagten, mit der er sein Ziel der Klageabweisung weiterverfolgt. Der Kläger bittet um Zurückweisung des Rechtsmittels.

 

Entscheidungsgründe

Der erkennende Senat ist zur Aufhebung des ersten Berufungsurteils gelangt, weil er ihm nicht mit Sicherheit zu entnehmen vermochte, ob der Kläger zur Bekämpfung einer befürchteten Infektion durch die akute Wunde oder ausschließlich zur Vorsorge für den Fall künftiger Verletzungen geimpft worden ist. Sollte Dr. S. sen. allein den zweiten Zweck verfolgt haben, so ist ausgeführt, worden, dann könnte ein Impfschaden der unerlaubten Handlung des Zweitbeklagten nicht mehr zugerechnet werden. Das Berufungsgericht hat nach einer weiteren Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen, daß die Injektionen zur Behandlung der erlittenen Verletzung erfolgt sind, und hat alsdann wie in seinem ersten Urteil entschieden.

Hiergegen wendet sich die Revision vergebens.

Das Berufungsgericht gründet seine tatsächliche Feststellung auf die entsprechende Bekundung des Arztes Dr. S. sen. Der sachverständige Zeuge ist als vertrauenswürdig angesehen worden, weil er ebenso schon bei seinen früheren Vernehmungen ausgesagt hat, als die Unterscheidung zwischen einer Impfung aus akutem Anlaß oder nur aus Gründen der allgemeinen Vorsorge noch nicht im Vordergrund stand. Daß die Beweisaufnahme einem Mitglied des Prozeßgerichts übertragen worden ist, war nach § 361 ZPO zulässig. Das Berufungsgericht war entgegen der Meinung der Revision nicht verpflichtet, sie vor dem Kollegium zu wiederholen. Persönliche Unglaubwürdigkeit des Zeugen war auch nach der Ansicht des Zweitbeklagten nicht zu besorgen (Schriftsatz vom 22. Juli 1963 S. 2), so daß insoweit nichts vom Eindruck des gesamten Senats abhing. Für die verbleibende Prüfung, ob sich die Aussage mit den tatsächlichen Umständen vereinbaren ließ oder ein Irrtum des Zeugen anzunehmen war, genügte das Ergebnis der vom Berichterstatter durchgeführten Vernehmung.

Bei dieser Prüfung hat das Berufungsgericht erwogen, ob es denkbar war, daß sich Dr. S. sen. von der zweimaligen Impfung mit Tetanol einen Schutz gegen die etwaige Infektion der jedenfalls schon vor Tagen erlittenen Wunde versprach. Es ist hierbei auf widerstreitende ärztliche Meinungen gestoßen. Die offenbar herrschende Ansicht, wie sie insbesondere von den gehörten Sachverständigen vertreten worden ist, erachtet Gaben von Tetanol gegenüber akuten Verletzungen für wirkungslos, weil der Wundstarrkrampf früher ausbreche als die aktiv immunisierende Wirkung des Mittels einsetzt. Demgegenüber hält es eine neuere Auffassung für möglich, der Entwicklung einen Tetanus bei oberflächlichen und wenig verschmutzten Wunden durch die Wirkung einer zweimaligen Impfung mit Tetanol in verkürztem Abstand zuvorzukommen. Diese Ansicht wird in der Veröffentlichung von Prof. Dr. S. (Hamburger Ärzteblatt 1957 S. 6 f) vertreten, auf die sich das Berufungsgericht bei seiner Feststeilung stützt, daß die von Dr. S. sen. geäußerte Überzeugung eine wissenschaftliche Grundlage habe, Der Vorwurf der Revision, daß der Tatrichter die - auch dem aufmerksamen Laien verständlichen - Darlegungen falsch aufgefaßt habe, ist unbegründet. Gewiß hat Prof. S. betont, daß es bei der passiven Impfung mit Tetanus-Serum in allen Fällen verbleiben müsse, in denen auch bisher das Serum wegen bestehenden Tetanusverdachts gegeben worden sei. Die nach seiner Ansicht zu empfehlende Neuerung einer prophylaktischen Impfung mit dem Toxoid (Tetanol) bezieht sich nur auf jene leichteren Verletzungen, bei denen üblicherweise von der nicht ganz harmlosen Injektion des Serums abgesehen wird, obwohl (nach den Ausführungen) bei keiner Wunde garantiert werden kann, daß keine Tetanusinfektion stattgefunden hat. Der Autor räumt auch ein, daß erst eine längere klinische Erprobung der Methode ergeben könne, ob sie einen Tetanus mit Sicherheit zu verhüten vermag. Es ist nicht ersitlich, inwiefern das Berufungsgericht den Sinn dieser Darlegungen verkannt haben sollte.

Das Berufungsgericht brauchte nicht zu entscheiden, ob das angeregte neue Verfahren den anerkannten Regeln der ärztlichen Heilkunst entspricht, und es hat dies auch nicht getan. Denn der Gesichtspunkt des groben Kunstfehlers, auf den die Revision abstellen will, schied von vornherein aus. Der Kläger ist nicht am Wundstarrkrampf erkrankt. Der Vorwurf, daß Dr. S. sen. mit dem Serum statt mit dem Toxoid hätte impfen müssen, kann deshalb nicht erhoben werden. Übrig bliebe nur, daß der Arzt auch von der Impfung mit Tetanol hätte absehen sollen. Der Verletzung war indessen nicht anzusehen, ob sie infiziert war. Sie erschien unbedeutend, war andererseits (nach der Eintragung im Krankenblatt) doch noch schmerzempfindlich. Damit stand Dr. S. sen. gerade vor jener kritischen, von Prof. S. beschriebenen Frage, ob er zu dem nicht risikofreien Serum greifen oder nichts unternehmen sollte - auf die Gefahr hin, daß sich dem harmlosen Anschein zuwider doch ein Tetanus entwickelte. Wenn sich Dr. S. sen. in dieser Lage der neuerlich erörterten Methode entsonnen und - anders als sein zuerst konsultierter Sohn - eine Impfung mit Tetanol wegen der akuten Wunde für angezeigt gehalten haben sollte, so könnte ihm dies den Vorwurf eines Kunstfehlers ebenso wenig eintragen, wie wenn er den Kläger mit diesem Mittel nur aus Vorsorge für den Fall künftiger Verletzungen geimpft hätte. Das Medikament galt und gilt im Gegensatz zum Serum als ungefährlich und gut verträglich.

Es kam ferner nicht darauf an, ob die Impfung mit Tetanol objektiv den Erfolg haben konnte, eine bei der Verletzung eingetretene Infektion unschädlich zu machen. Festzustellen war lediglich, ob Dr. S. sen. diese Hoffnung verständigerweise hegen konnte, und auch das nur, um die Verläßlichkeit seiner entsprechenden Bekundung zu überprüfen. Es mag der Revision zuzugeben sein, daß sich der Arzt von einer Erstimpfung elf Tage nach der Verletzung nichts mehr versprochen, d.h. daß er den Kläger nicht noch am 16. Mai 1956 zum Schutz gegen eine schon am 5. Mai eingetretene Infektion geimpft hätte. Dr. S. sen. ist jedoch nach seiner Aussage davon ausgegangen, daß sich der Unfall entsprechend der Eintragung im Krankenblatt erst am 12. Mai ereignet hatte. Wie auch die Revision offenbar nicht verkennt, konnte er dann nach seiner Grundanschauung noch erwarten, daß seine Maßnahme Schutz gegenüber den Folgen der akuten Verletzung bot. Nur hierauf, also auf die vom Berufungsgericht mit Recht erforschte Motivation, kam es aber im vorliegenden Zusammenhang an. Ob sich der Unfall in Wahrheit schon am 5. Mai zugetragen hatte, wie der Zweitbeklagte behauptet, war demgegenüber ohne Belang. Auch wenn der Vortrag des Zweitbeklagten zutreffen sollte, würde dies nichts daran ändern, daß Dr. S. sen. nicht aus Vorsorge gegenüber künftigen Verletzungen, sondern in Behandlung der akuten Wunde zur Tetanol-Injektion geschritten ist. Es entfiele dann lediglich die objektive Erfolgsaussicht der Maßnahme. Der Schädiger muß jedoch auch für die Folgen einer nutzlosen Behandlung des Verletzten eintreten, sofern sich diese nicht als ein unbefugter, grob fehlerhafter Eingriff darstellt. Davon kann hier keine Rede sein. Entgegen der Büge der Revision war das Berufungsgericht deshalb nicht gehalten, den tatsächlichen Zeitpunkt des Unfalls festzustellen.

Bei der Beantwortung der entscheidenden Frage, aus welchem Grunde Dr. S. sen. geimpft hat, ist der Tatrichter nicht bei der persönlichen Glaubwürdigkeit des Arztes und der medizinischen Grundlage seiner Überzeugung stehengeblieben. Es sind noch zwei, weitere Umstände gewürdigt worden. Der eine ist der kurze Abstand von acht Tagen zwischen den beiden Impfungen. Er entspricht in etwa dem Intervall, das die erörterte Methode bei der Behandlung akuter Verletzungen empfiehlt. Bei der allgemeinen Grundimmunisierung mit Tetanol soll der Abstand dagegen nach Vorschrift der Herstellerfirma mindestens vier, optimal sogar zwischen acht und zwölf Wochen betragen. Diesen augenfälligen Unterschied konnte das Berufungsgericht durchaus im Sinne einer objektiven Bestätigung der Aussage Dr. S. würdigen. Dasselbe gilt aber auch von dem Hinweis des Arztes auf die ihm bekannte Anfälligkeit des Klägers, die es als sehr glücklich habe erscheinen lassen, daß der Patient nach den neueren Erkenntnissen nicht mit dem Serum geimpft zu werden brauchte. Nach alledem ist die tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts, daß Dr. S. sen. den Kläger wegen der erlittenen Verletzung mit Tetanol behandelt hat, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Für die weitere Feststellung, daß die Schädigung des Klägers durch die Impfung zumindest mitverursacht worden ist, genügte nach § 287 ZPO die freie Überzeugung des Tatrichters. Er hat sie ausreichend unter Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände begründet. Auch insoweit ergeben sich mithin keine rechtlichen Bedenken.

Daß die Zurechnung der eingetretenen Folgen trotz ihrer Ungewöhnlichkeit der geltenden Rechtsauffassung entspricht, hat der erkennende Senat bereits in seinem ersten Urteil bestätigt; es besteht kein Anlaß, hiervon abzugehen.

Der Kläger hat seine schuldhafte Mitwirkung beim Entstehen des Unfalls durch Begrenzung seiner Ansprüche auf jeweils die Hälfte des Schadens berücksichtigt. Es bestand kein Anlaß, ihm darüber hinaus auch die Herbeiführung des speziellen Impfschadens teilweise zur Last zu legen. Selbst wenn es richtig sein sollte, daß der Kläger dem behandelnden Arzt das Unfalldatum falsch (12. statt 5. Mai) angegeben hat, könnte der Zweitbeklagte hieraus nichts herleiten. Zwar muß ein Verletzter, der dem Arzt unrichtige tatsächliche Angaben macht, allgemein damit rechnen, daß dies zu einer verfehlten Behandlung und dadurch zu einer Vergrößerung des Schadens führen konnte. In diesem Sinne konnte sich hier aber eine etwa verschuldete Datumsverwechslung nicht auswirken. Es ist nicht so, daß die Impfung bei einer vier Tage alten Wunde harmlos, bei einer schon elf Tage zurückliegenden Verletzung dagegen gefährlich gewesen wäre. Im letzten Fall war sie schlimmstenfalls als spezielle Prophylaxe unwirksam. Daß Dr. S. sen. dann möglicherweise von ihr abgesehen hätte, kann nicht ausreichen, dem Kläger ein weiteres Selbstverschulden anzulasten.

Nach alledem ist die Revision des Zweitbeklagten nicht begründet. Sie mußte deshalb mit der Kostenfolge nach § 97 ZPO zurückgewiesen werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 3018601

VersR 1965, 439-441 (Volltext mit red. LS)

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