Entscheidungsstichwort (Thema)

Aushändigung der schriftlichen Begründung der Abschiebungshaft. Beschwerde. Berücksichtigung neuen erheblichen Tatsachenvorbringens

 

Leitsatz (amtlich)

Eine ordnungsgemäße Anhörung des Betroffenen ist nur nach Aushändigung der schriftlichen Begründung des Haftantrags, einschließlich etwaiger Nachträge, gewährleistet.

Stützt der Betroffene seine Beschwerde auf neue, erst nach dem Erlass der Haftanordnung eingetretene Tatsachen (hier: mögliche Abschiebungshindernisse), darf das Beschwerdegericht von seiner Anhörung nur dann absehen, wenn diese Tatsachen für die Entscheidung offensichtlich unerheblich sind.

 

Normenkette

FamFG § 420 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 14.11.2011; Aktenzeichen 2-28 T 108/11)

AG Frankfurt am Main (Beschluss vom 29.09.2011; Aktenzeichen 934 XIV 435/11 B)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass die Beschlüsse des AG Frankfurt/M. vom 29.9.2011 und der 28. Zivilkammer des LG Frankfurt/M. vom 14.11.2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Saarland auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene, ein marokkanischer Staatsangehöriger, beantragte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Mai 2010 seine Anerkennung als Asylberechtigter, wobei er sich gegenüber den deutschen Behörden als Algerier ausgab. Nach bestandskräftiger Ablehnung seines Asylantrags und Androhung seiner Abschiebung tauchte er im Bundesgebiet unter. Gegen den Betroffenen wurde nach seinem Aufgreifen Abschiebungshaft angeordnet und am 15.8.2011 der Versuch einer Abschiebung nach Algerien unternommen. Dieser scheiterte jedoch, da er gegenüber den dortigen Grenzbeamten angab, Marokkaner zu sein. Der Betroffene kehrte am 28.9.2011 auf dem Luftweg nach Deutschland zurück.

Rz. 2

Auf Antrag der Beteiligten zu 2) hat das AG am 29.9.2011 gegen den Betroffenen Haft bis zum 28.12.2011 zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene sofortige Beschwerde eingelegt, die er darauf gestützt hat, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ihm mitgeteilt habe, dass es das Asylverfahren wegen etwaiger Abschiebungsverbote in den Zielstaat Marokko von Amts wegen wieder aufgenommen und ihm eine Frist zur Stellungnahme bis zum 5.12.2011 eingeräumt habe. Das Beschwerdegericht hat das Rechtsmittel mit Beschluss vom 14.11.2011 zurückgewiesen. Der Betroffene, der am 27.12.2011 nach Marokko abgeschoben worden ist, beantragt mit der Rechtsbeschwerde festzustellen, durch die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

II.

Rz. 3

Das Beschwerdegericht meint, die Haftanordnung sei nicht zu beanstanden, da der Entscheidung ein formell ordnungsgemäßer Haftantrag der Beteiligten zu 2) zugrunde gelegen habe und die in § 62 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG (a.F.) genannten Haftgründe vorgelegen hätten. Die Wideraufnahme des Verfahrens durch das Bundesamt ändere an der Ausreisepflicht des Betroffenen nichts, weil dieses Verfahren lediglich dem Zwecke der Konkretisierung der Abschiebungsandrohung auf den neuen Zielstaat Marokko diene.

III.

Rz. 4

Die gem. § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG i.V.m. mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte (BGH, Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, FGPrax 210, 150, 151 Rz. 9 f.) und auch im Übrigen zulässige (§ 71 FamFG) Rechtsbeschwerde ist in der Sache begründet, da sowohl das AG als auch das Beschwerdegericht den Betroffenen in seinem Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt haben.

Rz. 5

1. Der Betroffene beanstandet zu Recht, dass das AG bei der Entscheidung über die Haftanordnung dem Betroffenen zwar den Haftantrag der Beteiligten zu 2) vom 27.9.2009, aber nicht deren ergänzende Stellungnahme vom 29.9.2009 ausgehändigt hat.

Rz. 6

a) Nach der Rechtsprechung des Senats muss der Haftantrag dem Betroffenen vor seiner Anhörung in vollständiger Abschrift ausgehändigt werden (vgl. BGH, Beschlüsse v. 21.7.2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257, 258 Rz. 8; v. 14.6.2012 - V ZB 284/11, Rz. 9, juris). Andernfalls kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene nicht in der Lage ist, zu sämtlichen Angaben der Behörde Stellung zu nehmen (vgl. Senat, Beschlüsse v. 21.7.2011 - V ZB 141/11, a.a.O.; v. 14.6.2012 - V ZB 284/11, Rz. 9, a.a.O.), was zur Folge hat, dass in dem Rechtsbeschwerdeverfahren von einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG ausgegangen werden muss.

Rz. 7

b) Für einen von der Behörde vor der Anhörung vorgelegten Nachtrag zu dem Haftantrag gilt nichts anderes. Enthält dieser - wie hier - Ausführungen nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG zur Durchführbarkeit der Abschiebung in den neuen Zielstaat (hier das Königreich Marokko), muss auch der Nachtrag dem Betroffenen ausgehändigt werden. Die im Protokoll der Anhörung festgehaltene bloße Bekanntmachung und Erörterung genügt nicht (BGH, Beschlüsse v. 21.7.2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257, 258 Rz. 8; v. 14.6.2012 - V ZB 284/11, Rz. 9, juris). Eine ordnungsgemäße Anhörung des Betroffenen (§ 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG) ist nur nach einer Aushändigung der gesamten schriftlichen Begründung der Behörde gewährleistet. Die Übergabe einer Abschrift des Haftantrags sowie etwaiger schriftlicher Nachträge an den Betroffenen ist schon deswegen erforderlich, damit dieser im weiteren Verlauf der Anhörung in die Schriftsätze, die die Behörde dem Haftrichter vorgelegt hat, jederzeit einsehen und diese ggf. später einem Rechtsanwalt vorlegen kann (vgl. Senat, Beschl. v. 14.6.2012 - V ZB 284/11, Rz. 9, juris).

Rz. 8

c) Ist - wie hier - weder dem Protokoll der Anhörung noch der Akte eine Aushändigung des (Nachtrags zum) Haftantrag(s) zu entnehmen, ist davon auszugehen, dass dem Betroffenen nicht der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben und dessen Verfahrensgrundrecht verletzt worden ist.

Rz. 9

2. Auch das Beschwerdegericht hat das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

Rz. 10

a) Der Betroffene beanstandet zu Recht, dass er durch das Beschwerdegericht nicht erneut angehört worden ist. Die persönliche Anhörung ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG und Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 GG im Beschwerdeverfahren grundsätzlich vorgeschrieben (BGH, Beschlüsse v. 19.5.2011 - V ZB 36/11, FGPrax 2011, 254, 255 Rz. 14; v. 2.5.2012 - V ZB 79/12, Rz. 6, juris). Hiervon darf das Beschwerdegericht nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung in erster Instanz stattgefunden hat und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (BGH, Beschlüsse v. 17.6.2010 - V ZB 3/10, FGPrax 2010, 261 Rz. 8; v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 Rz. 13).

Rz. 11

Daran fehlt es hier jedoch, weil der Betroffene seine Beschwerde auf ein ihm nach der Haftanordnung zugestelltes Schreiben des Bundesamts gestützt hat, aus dem sich ergab, dass dieses das Asylverfahren nach §§ 51 Abs. 5, 48 VwVfG bzw. §§ 51 Abs. 5, 49 VwVfG wegen möglicher, den neuen Zielstaat betreffender Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wieder aufgenommen hatte. Stützt der Betroffene seine Beschwerde auf neue, erst nach dem Erlass der Haftanordnung eingetretene Tatsachen, darf das Beschwerdegericht von einer Anhörung des Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nur dann absehen, wenn diese Tatsachen für die Entscheidung offensichtlich unerheblich sind. So liegt es hier jedoch nicht. Dem steht nicht entgegen, dass der Haftrichter nicht befugt ist, über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen zu befinden (vgl. BGH, Beschlüsse v. 12.6.1986 - V ZB 9/86, BGHZ 98, 109, 112; v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 728 Rz. 10). Der Haftrichter muss - unabhängig davon - eine Prognose anstellen, ob die Abschiebung trotz eines von dem Betroffenen geltend gemachten Hafthindernisses durchgeführt werden kann. Dazu hat er eigene Ermittlungen anzustellen; insb. muss er sich über den Stand und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger Abschiebungshindernisse entschieden wird (vgl. BGH, Beschlüsse v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 728 Rz. 14; v. 10.5.2012 - V ZB 246/11, Rz. 14, juris). Dazu hätte eine Anhörung des Betroffenen näheren Aufschluss geben können, weshalb das Beschwerdegericht nicht von ihr absehen durfte.

Rz. 12

b) Das Beschwerdegericht hat zudem den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es die sofortige Beschwerde des Betroffenen gegen die Haftanordnung zurückgewiesen hat ohne diesem zuvor Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu der Stellungnahme der Behörde vom 10.11.2011 und der darin enthaltenen Einschätzung, die Abschiebung könne voraussichtlich innerhalb der Haftzeit durchgeführt werden, zu äußern. Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn das Beschwerdegericht in Haftsachen dem Betroffenen, bevor es die Beschwerde zurückweist, keine Gelegenheit gibt, zu der Erwiderung der Behörde Stellung zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschlüsse v. 15.11.2010 - 2 BvR 1183/09, Rz. 21, juris; v. 6.6.2011 - 2 BvR 2076/08, Rz. 3, juris). Dies gilt unabhängig davon, ob von einer möglichen Gegenstellungnahme Einfluss auf das Entscheidungsergebnis zu erwarten ist oder nicht. Denn der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör dient nicht nur der Gewährleistung richtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung des Betroffenen im gerichtlichen Verfahren (BVerfG, Beschlüsse v. 15.11.2010 - 2 BvR 1183/09, a.a.O.; v. 6.6.2011 - 2 BvR 2076/08, Rz. 3, a.a.O.).

IV.

Rz. 13

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 81 Abs. 1, 83 Abs. 2, 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach §§ 128c Abs. 3 Satz 2, 30 Abs. 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, dem Saarland die dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen aufzuerlegen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 3515220

EBE/BGH 2012

FGPrax 2013, 40

InfAuslR 2013, 77

JZ 2013, 39

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