Leitsatz (amtlich)

Ein Prozessbevollmächtigter ist grundsätzlich nicht verpflichtet, sich innerhalb des Laufs der Berufungsbegründungsfrist bei Gericht zu erkundigen, ob sein Antrag auf Verlängerung der Frist rechtzeitig eingegangen sei und ihm stattgegeben werde.

 

Normenkette

ZPO § 233

 

Verfahrensgang

LG Passau (Beschluss vom 13.02.2012; Aktenzeichen 4 S 120/11)

AG Freyung (Urteil vom 03.11.2011; Aktenzeichen 2 C 240/11)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Passau vom 13.2.2012 aufgehoben.

Dem Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.

Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 2.400 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Kläger, der am 22.9.2010 zu Fall kam und sich Verletzungen zuzog, nimmt den Beklagten als Tierhalter eines Schäferhundes auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Das AG hat der Klage mit Urteil vom 3.11.2011 stattgegeben. Dieses Urteil ist den erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Beklagten am 8.11.2011 zugestellt worden. Dagegen hat der Beklagte mit anwaltlichem Schriftsatz Berufung eingelegt. Mit einem am 11.1.2012 beim LG eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz hat der Beklagte die Berufung begründet. Auf gerichtlichen Hinweis, dass die Berufungsbegründung nicht fristgerecht eingegangen sei, hat der Beklagte mit einem am 19.1.2012 beim LG eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung dieses Antrags hat er ausgeführt, seine Prozessbevollmächtigten hätten am 23.12.2011 ein Schreiben zur Post gegeben, in dem sie die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist beantragt hätten. Ein solches Schreiben befindet sich nicht bei den Gerichtsakten.

Rz. 2

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das LG den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Berufungsbegründungsfrist sei am 9.1.2012 abgelaufen. Die Berufungsbegründungsschrift sei nicht innerhalb dieser Frist und deshalb verspätet beim LG eingegangen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne dem Beklagten nicht gewährt werden, weil er die Berufungsbegründungsfrist nicht ohne Verschulden versäumt habe. Er müsse sich das Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Es könne dahinstehen, weshalb ein Schriftsatz mit einem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht zu den Akten gelangt sei. Da den Prozessbevollmächtigten des Beklagten bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 9.1.2012 eine Verlängerungsbewilligung nicht zugegangen sei, obwohl zu diesem Zeitpunkt die (angebliche) Einbringung des Antrags bereits mehr als zwei Wochen zurückgelegen habe, wäre es zwingend geboten gewesen, die Gründe dafür zu hinterfragen. Zwar werde dem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist regelmäßig stattgegeben, doch liege dem Gericht kein derartiger Antrag, über den es hätte entscheiden können, vor. Deshalb sei die Berufungsbegründungsfrist unverlängert abgelaufen. Die nunmehr abgelaufene Frist könne nicht mehr verlängert werden.

Rz. 3

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.

II.

Rz. 4

1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, denn eine Entscheidung des Senats ist jedenfalls zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO).

Rz. 5

2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Zwar hat der Beklagte die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Auf seinen Antrag ist ihm jedoch gem. §§ 233, 234 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen.

Rz. 6

a) Nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG und des BGH verbietet es der verfassungsrechtlich gewährleistete Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip), einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; 88, 118, 123 ff.; BVerfG NJW-RR 2002, 1004; BGH v. 20.9.2011 - VI ZB 5/11, VersR 2012, 334 Rz. 6).

Rz. 7

b) Der Beklagte hat durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Büroangestellten W. glaubhaft gemacht, dass Frau W. am 23.12.2011 den später in Kopie zur Gerichtsakte eingereichten Schriftsatz mit dem darin enthaltenen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nach Unterzeichnung durch Rechtsanwalt W. einkuvertiert und noch am selben Tag nachmittags zur Post gebracht hat. Danach durften die Prozessbevollmächtigten des Beklagten davon ausgehen, dass der Antrag rechtzeitig vor der am 9.1.2012 ablaufenden Berufungsbegründungsfrist beim LG eingehen würde. Ihnen kann nicht vorgeworfen werden, auf die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist vertraut zu haben, nachdem sie einen ersten Verlängerungsantrag unter Darlegung eines erheblichen Grundes i.S.d. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestellt hatten (vgl. BGH v. 18.9.2001 - VI ZB 26/01, VersR 2001, 1579, 1580; v. 13.12.2005 - VI ZB 52/05, VersR 2006, 568 Rz. 6; v. 20.6.2006 - VI ZB 14/06, juris Rz. 6; v. 16.10.2007 - VI ZB 65/06, VersR 2008, 234 Rz. 9). Die in der Begründung des Fristverlängerungsantrags angegebene urlaubsbedingte Abwesenheit in der Zeit vom 24.12.2011 bis zum 8.1.2012 ist ein erheblicher Grund i.S.v. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO.

Rz. 8

c) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts waren die Prozessbevollmächtigten des Beklagten auch nicht verpflichtet, sich vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist über eine Verlängerung dieser Frist durch Nachfrage bei Gericht zu vergewissern.

Rz. 9

aa) Den Prozessbevollmächtigten einer Partei trifft im Regelfall kein Verschulden an dem verspäteten Zugang eines Schriftsatzes, wenn er veranlasst, dass der Schriftsatz so rechtzeitig in den Briefkasten eingeworfen wird, dass er nach den normalen Postlaufzeiten fristgerecht bei dem Gericht hätte eingehen müssen. Wenn dem Prozessbevollmächtigten keine besonderen Umstände bekannt sind, die zu einer Verlängerung der normalen Postlaufzeiten führen können, darf er darauf vertrauen, dass diese eingehalten werden (st.Rspr., vgl. BGH v. 30.9.2003 - VI ZB 60/02, VersR 2004, 354, 355; BGH, Beschl. v. 5.7.2001 - VII ZB 2/00, juris Rz. 6; v. 9.2.1998 - II ZB 15/97, VersR 1998, 1301, 1302). Er ist dann auch nicht gehalten, sich vor Fristablauf durch Rückfrage bei der Geschäftsstelle des Gerichts von einem rechtzeitigen Eingang zu überzeugen (BVerfGE 79, 372, 375 f.; BVerfG NJW 1992, 38; BGH v. 30.9.2003 - VI ZB 60/02, a.a.O.; BGH, Beschl. v. 23.1.2008 - XII ZB 155/07, VersR 2009, 1096 Rz. 10; v. 3.12.2009 - IX ZB 238/08, juris Rz. 10). Denn der Prozessbevollmächtigte ist bereits in besonderem Maße verpflichtet, für eine zuverlässige Ausgangskontrolle zu sorgen (vgl. dazu Senatsbeschluss v. 20.12.2011 - VI ZB 25/11, juris Rz. 9). Dann kann er regelmäßig nicht auch noch gehalten sein, den Eingang seiner Schriftsätze bei Gericht zu überwachen (BVerfGE 79, 372, 375 f.; BVerfG NJW 1992, 38; BGH v. 20.12.2011 - VI ZB 28/11, juris Rz. 7; BGH, Beschl. v. 3.12.2009 - IX ZB 238/08, a.a.O., Rz. 10).

Rz. 10

bb) Eine Nachfragepflicht kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn hierfür ein konkreter Anlass besteht (BVerfGE 42, 120, 126 f.; BVerfG NJW 1992, 38, 39; BGH, Beschl. v. 3.12.2009 - IX ZB 238/08, a.a.O., Rz. 11). Ein solcher konkreter Anlass besteht nicht schon dann, wenn der Anwalt in der noch laufenden Berufungsbegründungsfrist noch keine auf seinen Schriftsatz bezogene Verfügung des Gerichts erhält. Denn allein daraus müssen sich ihm noch keine Zweifel aufdrängen, dass sein Schriftsatz nicht bei Gericht eingegangen sein könnte (BGH v. 20.12.2011 - VI ZB 28/11, a.a.O., Rz. 8). Eine Erkundigungspflicht wird nur durch eine solche Mitteilung des Gerichts ausgelöst, die unzweideutig ergibt, dass etwas fehlgelaufen ist (BVerfG NJW 1992, 38, 39; BGH, Beschl. v. 3.12.2009 - IX ZB 238/08, a.a.O., Rz. 11). Die Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten würden überspannt und der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert, wenn man in derartigen Fällen verlangen würde, Erkundigungen über den Verbleib seines Schriftsatzes einzuholen (BVerfG NJW 1992, 38, 39).

Rz. 11

d) Nach diesen Grundsätzen waren die Prozessbevollmächtigten des Beklagten vorliegend nicht verpflichtet, sich innerhalb des Laufs der Berufungsbegründungsfrist bei Gericht zu erkundigen, ob der Verlängerungsantrag rechtzeitig eingegangen sei und ihm stattgegeben werde (vgl. BGH v. 13.12.2005 - VI ZB 52/05, a.a.O.; v. 16.10.2007 - VI ZB 65/06, a.a.O.; BGH, Beschl. v. 12.3.1986 - VIII ZB 6/86, VersR 1986, 787, 788; v. 11.11.1998 - VIII ZB 24/98, VersR 1999, 1559, 1560).

Rz. 12

e) Da den Beklagten somit kein Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist trifft und die versäumte Rechtshandlung mit dem am 11.1.2012 beim LG eingegangenen Schriftsatz innerhalb der insoweit maßgeblichen Frist von einem Monat (§§ 234 Abs. 1 Satz 2, 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) nachgeholt worden ist, ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem fristgerecht gestellten Wiedereinsetzungsantrag stattzugeben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 3131171

DB 2012, 8

HFR 2012, 1116

NJW 2012, 2522

NJW 2012, 8

EBE/BGH 2012, 245

FamRZ 2012, 1301

JurBüro 2012, 560

JurBüro 2012, 671

ZAP 2012, 993

AnwBl 2012, 850

MDR 2012, 1056

NJ 2012, 5

VE 2013, 22

BRAK-Mitt. 2012, 212

Mitt. 2013, 97

PAK 2012, 136

RVG prof. 2013, 22

Reno 2012, 24

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