Leitsatz (amtlich)

Hat das Beschwerdegericht in einem Betreuungsverfahren ein ergänzendes Sachverständigengutachten eingeholt, auf das es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, ist der Betroffene vor der Entscheidung erneut persönlich anzuhören (im Anschluss an BGH v. 24.7.2019 - XII ZB 160/19 FamRZ 2019, 1735; v. 2.12.2015 - XII ZB 227/12 FamRZ 2016, 300).

 

Normenkette

FamFG § 278 Abs. 1, § 68 Abs. 3 Sätze 1-2

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Beschluss vom 09.08.2019; Aktenzeichen 7 T 124/19)

AG Friedberg (Hessen) (Entscheidung vom 03.04.2019; Aktenzeichen 820 XVII M 660/18)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 7. Zivilkammer des LG Gießen vom 9.8.2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.

Wert: 5.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene wendet sich gegen die Bestellung eines Betreuers.

Rz. 2

Das AG hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens für den Betroffenen eine Betreuung mit einer Überprüfungsfrist bis spätestens April 2026 eingerichtet und die weitere Beteiligte als Betreuerin bestellt. Der Aufgabenkreis der Betreuung umfasst die Gesundheitssorge einschließlich der Zustimmung zu einer ärztlichen Heilbehandlung, die Aufenthaltsbestimmung, die Vermögenssorge ohne Kontovollmacht, Wohnungsangelegenheiten sowie Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten. Die Beschwerde des Betroffenen hat das LG nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der Sachverständigen zu ihrem fachärztlichen Gutachten zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Betroffene weiterhin gegen die Einrichtung der Betreuung.

II.

Rz. 3

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

Rz. 4

Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht als verfahrensfehlerhaft, dass das Beschwerdegericht unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung des Betroffenen entschieden hat.

Rz. 5

Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so ist eine erneute Anhörung des Betroffenen dagegen geboten (vgl. BGH v. 24.7.2019 - XII ZB 160/19 FamRZ 2019, 1735 Rz. 11; v. 2.12.2015 - XII ZB 227/12 FamRZ 2016, 300 Rz. 9).

Rz. 6

Danach durfte das LG von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nicht absehen, weil es seine Entscheidung ausdrücklich auf die von ihm eingeholte ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen vom 14.6.2019 gestützt hat.

Rz. 7

Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf diesem Verfahrensfehler, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Beschwerdegericht bei erneuter Anhörung des Betroffenen zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.

 

Fundstellen

Haufe-Index 13604668

NJW 2020, 852

FamRZ 2020, 371

FuR 2020, 173

ZAP 2020, 186

BtPrax 2020, 73

MDR 2020, 366

Rpfleger 2020, 196

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