Leitsatz (amtlich)

Hat das Beschwerdegericht ein neues Sachverständigengutachten eingeholt, auf das es seine Entscheidung hauptsächlich zu stützen beabsichtigt, ist der Betroffene vor der Entscheidung erneut persönlich anzuhören. Dem Verfahrenspfleger ist die Teilnahme an dem Anhörungstermin zu ermöglichen.

 

Normenkette

FamFG § 68 Abs. 3, § 278

 

Verfahrensgang

LG Rostock (Beschluss vom 29.03.2012; Aktenzeichen 3 T 345/10)

AG Güstrow (Beschluss vom 27.08.2010; Aktenzeichen 32 XVII 445/05)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Rostock vom 29.3.2012 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 3.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Gegenstand der Rechtsbeschwerde ist die Verlängerung einer seit 2005 bestehenden Betreuung und eines Einwilligungsvorbehalts.

Rz. 2

Für den Betroffenen besteht seit 2005 eine Betreuung mit den Aufgabenkreisen Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post, Behördenangelegenheiten, Versicherungsangelegenheiten, Sozialangelegenheiten und Rentenangelegenheiten. Außerdem ist ein Einwilligungsvorbehalt im Bereich der Vermögenssorge angeordnet worden. Der Betroffene hat mehrfach die Aufhebung der Betreuung beantragt. Das AG hat nach vorheriger Einholung eines Sachverständigengutachtens und persönlicher Anhörung des Betroffenen die Betreuung und den Einwilligungsvorbehalt verlängert. In dem betreffenden Beschluss hat das AG ferner einen Verfahrenspfleger bestellt.

Rz. 3

Die gegen den Beschluss des AG gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Beschwerdegericht zunächst wegen Verfristung als unzulässig verworfen. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat der Senat den Beschluss des Beschwerdegerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung zurückverwiesen (BGH, Beschl. v. 4.5.2011 - XII ZB 632/10, FamRZ 2011, 1049). Das Beschwerdegericht hat daraufhin ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt und dieses dem Betroffenen zugeleitet. Der Verfahrenspfleger hat das Gutachten zur Stellungnahme erhalten. Sodann hat das Beschwerdegericht die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die erneute Rechtsbeschwerde des Betroffenen.

II.

Rz. 4

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur erneuten Zurückverweisung der Sache an das LG.

Rz. 5

1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insb. ist sie gegen eine Entscheidung über die Verlängerung einer bereits bestehenden Betreuung (§ 295 FamFG) auch ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft (§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG, vgl. BGH v. 15.9.2010 - XII ZB 166/10, FamRZ 2010, 1897).

Rz. 6

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

Rz. 7

a) Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung auf § 1896 Abs. 1 BGB gestützt und dazu ausgeführt, das in der Beschwerdeinstanz eingeholte Sachverständigengutachten komme zu dem Ergebnis, dass bei dem Betroffenen in Folge eines schweren Schädel-Hirn-Traumas aus dem Jahre 1982 eine tiefgreifende anhaltende organische Persönlichkeitsveränderung/-störung bestehe. In der aktuellen klinischen Untersuchung habe sich diese organische Persönlichkeitsstörung in einer schweren Störung der kognitiven Fähigkeiten, insb. hinsichtlich der eigenen Handlungsplanung und des Vorhersehens persönlicher und sozialer Konsequenzen des eigenen Handelns, gezeigt. Die psychische Störung bewirke, dass der Betroffene anhaltend nicht in der Lage sei, sinnvoll und eigenverantwortlich für seine persönlichen Angelegenheiten Sorge zu tragen.

Rz. 8

b) Die angegriffene Entscheidung hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Beschwerdegericht hätte den Betroffenen erneut persönlich anhören müssen.

Rz. 9

aa) Allerdings kann das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl. hierzu BGH v. 26.2.2014 - XII ZB 503/13, FamRZ 2014, 828 Rz. 5 m.w.N.). Nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung vorgetragene Tatsachen oder eine Änderung der Sachlage erfordern aber nur dann keine erneute Anhörung, wenn diese Tatsachen oder die Änderung offensichtlich für die Entscheidung unerheblich sind (Keidel/Sternal FamFG 18. Aufl., § 68 Rz. 59 m.w.N.). Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem neuen Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Anhörung datiert, so ist eine erneute Anhörung des Betroffenen dagegen geboten (BGH, Beschl. v. 2.9.2015 - XII ZB 138/15, FamRZ 2015, 1959 Rz. 13).

Rz. 10

bb) Danach durfte das Beschwerdegericht von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nicht absehen, weil es seine Entscheidung hauptsächlich auf das von ihm neu eingeholte Sachverständigengutachten gestützt hat.

Rz. 11

cc) Die Entscheidung beruht auch auf dem Verfahrensfehler, da nicht ausgeschlossen ist, dass das Beschwerdegericht bei erneuter Anhörung des Betroffenen unter Hinzuziehung des Verfahrenspflegers zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.

Rz. 12

c) Die Zurückverweisung gibt dem Beschwerdegericht Gelegenheit, im Hinblick auf die in der Rechtsbeschwerdegründung, speziell gegen die Aufrechterhaltung der Betreuung im Wirkungskreis Gesundheitsfürsorge, geltend gemachten Bedenken weitere Ermittlungen anzustellen. Insbesondere ist dem Verfahrenspfleger Gelegenheit zu geben, an der gebotenen persönlichen Anhörung des Betroffenen teilzunehmen.

Rz. 13

Der Verfahrenspfleger durfte nicht erst durch den amtsgerichtlichen Beschluss bestellt werden, durch den die Verlängerung der Betreuung angeordnet wurde. Der Mindeststandard der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, dem zu bestellenden Verfahrenspfleger als Verfahrensbeteiligtem (§ 274 Abs. 2 FamFG) grundsätzlich vor einem Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Ermittlungsergebnis zu geben (BayObLG NJW-RR 1988, 72 zu Art. 10 Bay. UnterbrG a.F.; OLG München OLGReport München 2006, 784). Deshalb muss im Hauptsacheverfahren der Verfahrenspfleger vor der abschließenden Anhörung des Betroffenen bestellt und ihm Gelegenheit gegeben werden, an dem Anhörungstermin teilzunehmen (zur Unterbringung s. insoweit BGH v. 2.3.2011 - XII ZB 346/10, FamRZ 2011, 805 Rz. 17 ff.; MünchKommFamFG/Schmidt-Recla 2. Aufl., § 276 Rz. 14).

 

Fundstellen

Haufe-Index 8901319

FamRZ 2016, 300

FuR 2016, 173

NJW-RR 2016, 577

FGPrax 2016, 96

ZAP 2016, 349

BtPrax 2016, 76

JZ 2016, 108

MDR 2016, 213

FK 2016, 21

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge