Entscheidungsstichwort (Thema)

Bußgeldbescheid. Einspruch. Einspruchsverwerfung. Verwerfungsurteil. Verfahrensrüge. Sachrüge. Verfahrensvoraussetzung. Verfahrenshindernis. Verjährung. Verfolgungsverjährung. Freibeweisverfahren. Bußgeldbehörde. Zustellung. Ersatzzustellung. Niederlegung. Zustellungsmangel. Anschrift. Adresse. Aufenthalt. Autovermietung. bewusst. Briefkasten. dolos. erreichbar. Wohnung. Wohnraum. Geschäftsraum. Irrtum. Lebensmittelpunkt. Namensgleichheit. Postzustellungsurkunde. Gesamtschau. Anschein. Rechtsschein

 

Leitsatz (amtlich)

Die Wirksamkeit der Ersatzzustellung eines Bußgeldbescheides durch Niederlegung in den zur Wohnung bzw. zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten erfordert, dass der Betroffene dort tatsächlich wohnhaft ist bzw. einen Geschäftsraum unterhält. Der bloße, ihm zurechen- bare Rechtsschein, er unterhalte unter der jeweiligen Anschrift eine Wohnung oder Geschäfts- räume, genügt für eine ordnungsgemäße Zustellung nicht. Allerdings stellt es eine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn sich ein Betroffener auf die Unwirksamkeit einer Ersatzzustellung beruft, obwohl er einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt bewusst und ziel- gerichtet herbeigeführt hat (Anschl. an BGH, Urt. v. 16.6.2011 - III ZR 342/09 = BGHZ 190, 99 = NJW 2011, 2440 und OLG Hamm NStZ 2015, 525).

 

Normenkette

StVG § 26 Abs. 3; OWiG § 31 Abs. 3, § 33 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1, 9, § 51 Abs. 1, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 1, § 74 Abs. 2; BayVwZVG Art. 3 Abs. 2 S. 1; StPO §§ 205, 344 Abs. 2 S. 2; BGB § 242; ZPO § 178 Abs. 1, § 180 S. 1

 

Tenor

  • I.

    Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 16.08.2021 wird als unbegründet verworfen.

  • II.

    Die Betroffene hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

 

Gründe

I.

Die Zentrale Bußgeldstelle hat gegen die Betroffene am 17.08.2020 wegen einer am 26.04.2020 fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 45 km/h einen Bußgeldbescheid erlassen und darin eine Geldbuße in Höhe von 160 Euro sowie ein mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer eines Monats verhängt. Gegen den ausweislich der Postzustellungsurkunde am 19.08.2020 zugestellten Bußgeldbescheid hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 24.08.2020, bei der Behörde eingegangen am selben Tag, Einspruch eingelegt. Nach Eingang der Akten beim Amtsgericht am 22.10.2020 hat dieses unter dem 04.11.2020, dem 04.01.2021 und dem 25.05.2021 jeweils Termine zur Hauptverhandlung anberaumt. Da die Betroffene zur Hauptverhandlung vom 16.08.2021 nicht erschienen ist, hat die Tatrichterin den Einspruch gegen den vorgenannten Bußgeldbescheid ohne Verhandlung zur Sache gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Gegen dieses Urteil hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 19.08.2021, beim Amtsgericht eingegangen am 20.08.2021, Rechtsbeschwerde eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 27.09.2021, beim Amtsgericht eingegangen am selben Tag, begründet und insbesondere den Eintritt der Verfolgungsverjährung sowie eine unzureichende Ladung zum Hauptverhandlungstermin geltend gemacht. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 01.11.2021 beantragt, die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 16.08.2021 als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde erweist sich als unbegründet.

1. Ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG ist grundsätzlich nur mit einer Verfahrensrüge angreifbar, die den Anforderungen nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG genügen muss. Diesen strengen Anforderungen genügt das Rechtsbeschwerdevorbringen nicht. Zur Begründung wird auf die zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 01.11.2021 Bezug genommen. Ergänzend verweist der Senat auf die Beschlüsse des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 09.10.2020 (202 StRR 94/20 = BeckRS 2020, 28882) und des Oberlandesgerichts Hamm vom 21.03.2018 (1 RBs 137/17 = BeckRS 2018, 17525).

2. Die Sachrüge reicht als notwendige Begründung des Rechtsmittels aus, führt aber nur zu der Nachprüfung von Verfahrenshindernissen (BayObLG, Beschl. v. 27.06.1996 - 3 ObOWi 76/96 bei juris = BayObLGSt 1996, 90 = VersR 1997, 986 = NStZ-RR 1997, 182). Solche sind hier nicht gegeben, insbesondere liegt Verfolgungsverjährung nicht vor.

a) Die Frage, ob Verfolgungsverjährung eingetreten ist, ist als Verfahrensvoraussetzung bzw. als Verfahrenshindernis vom Senat im Rahmen der Rechtsbeschwerde von Amts wegen eigenständig unter Benutzung aller verfügbaren Erkenntnisquellen im Freibeweisverfahren zu überprüfen (vgl. Göhler/Seitz/Bauer OWiG 18. Aufl. § 31 Rn. 17, 19; OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.03.2012 - 6 Ss 54/12 = DAR 2012, 402).

b) Die Verjährungsfrist betrug für den verfahrensgegenständlichen Verstoß drei Monate (§ 26 Abs. 3 1. Halbsatz StVG). Sie begann am 26.04.2...

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