Entscheidungsstichwort (Thema)

Fernauslösung an arbeitsfreien Tagen

 

Leitsatz (amtlich)

Nach dem Bundesmontagetarif der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie ist Fernauslösung auch für arbeitsfreie Tage zu zahlen, wenn der Arbeitnehmer täglich nach Hause fährt, obwohl ihm dies nicht zumutbar ist (Bestätigung des Urteils vom 28. Juni 1989 – 4 AZR 226/89 – AP Nr. 22 zu § 1 TVG Auslösung)

 

Normenkette

TVG § 1 Auslösung, § 1 Tarifverträge: Metallindustrie; Bundestarifvertrag für die besonderen Arbeitsbedingungen der Montagearbeiter in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie vom 30. April 1980

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 08.01.1991; Aktenzeichen 16 (2) Sa 1405/90)

ArbG Oberhausen (Urteil vom 22.08.1990; Aktenzeichen 3 Ca 485/90)

 

Tenor

  • Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 8. Januar 1991 – 16 (2) Sa 1405/90 – wird zurückgewiesen.
  • Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Fernauslösung auch an arbeitsfreien Tagen hat, obwohl er arbeitstäglich von seinem Wohnort zur Baustelle und zurück reist.

Der Kläger ist seit dem 1. September 1985 als Montagearbeiter bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit u.a. der Bundestarifvertrag für die besonderen Arbeitsbedingungen der Montagearbeiter in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie einschließlich des Fahrleitungs-, Freileitungs-, Ortsnetz- und Kabelbaues (BMTV) vom 30. April 1980 Anwendung.

Im Monat Februar 1990 arbeitete der Kläger jeweils montags bis freitags auf einer Baustelle der Beklagten in Aachen. Er reiste an jedem Arbeitstag von seinem Wohnort an und kehrte abends dorthin zurück. Die Entfernung beträgt mehr als 65 Straßenkilometer. Der Zeitaufwand bei Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel würde für Hin- und Rückweg 3,5 Stunden übersteigen.

Die Beklagte zahlte dem Kläger für 24 Arbeitstage im Monat Februar 1990 Auslösung in Höhe von 24 × 55,-- DM = 1.320,-- DM. Für die vier arbeitsfreien Tage lehnte sie die Zahlung der Auslösung ab.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er habe Anspruch auf Auslösung auch an den arbeitsfreien Tagen, da die Fernauslösung nach dem BMTV kalendertäglich zu zahlen sei, unabhängig davon, ob er sich am Montageort aufhalte oder nicht und ob überhaupt Aufwendungen entstehen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 220,-- DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängigkeit (5. April 1990) zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat geltend gemacht, nach § 6 BMTV stehe dem Kläger nur eine arbeitstägliche, nicht eine kalendertägliche Fernauslösung zu. Denn nach § 6.4.1 BMTV sei die Fernauslösung lediglich eine Pauschalerstattung der “Mehraufwendungen am Montageort”. Solche Aufwendungen seien aber dem Kläger an den arbeitsfreien Tagen unstreitig nicht entstanden. Nur wenn der Arbeitnehmer montagebedingt einen zweiten Wohnsitz unterhalte, bleibe der Anspruch auf Fernauslösung bei vorübergehender Abwesenheit an arbeitsfreien Tagen aus persönlichen Gründen erhalten. Denn der Anspruch auf Fernauslösung werde in allen anderen Regelungen des BMTV dann beschränkt oder gekürzt, wenn sich der Arbeitnehmer nicht am Montageort befinde und sich seine Aufwendungen deshalb tatsächlich verminderten. Ein Anspruch auf Fernauslösung für Freizeit an arbeitstäglich heimfahrende Montagearbeiter führe deshalb zu einer von den Tarifvertragsparteien nicht beabsichtigten Ungleichbehandlung und Besserstellung gegenüber den Montagearbeitern mit doppelter Haushaltsführung. Aus der Systematik des Tarifvertrages ergebe sich vielmehr, daß die Tarifvertragsparteien abschließend jeden denkbaren Ausnahmefall von einer regelmäßigen Anwesenheit eines Montagestammarbeiters am Montagewohnsitz bedacht und geregelt hätten. Es sei deshalb davon auszugehen, daß sie bei allen Regelungen, also auch der in der Anmerkung 12 Abs. 2 BMTV, von dem Regelfall der Notwendigkeit eines zweiten Wohnsitzes am Montageort ausgegangen seien.

Das Arbeitsgericht hat der Klageforderung entsprochen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat auch an den arbeitsfreien Tagen Anspruch auf Fernauslösung.

I.1. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Zugehörigkeit zu den Tarifvertragsparteien der Bundestarifvertrag für die besonderen Arbeitsbedingungen der Montagearbeiter in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie einschließlich des Fahrleitungs-, Freileitungs-, Ortsnetz- und Kabelbaues (BMTV) vom 30. April 1980 mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG).

a) Für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Fernauslösung, auch an arbeitsfreien Tagen, sind danach die folgenden Bestimmungen des BMTV entscheidend:

§ 6

Fernmontage

  • Begriff

    Fernmontage ist eine Montage, die ein auswärtiges Übernachten des Montagestammarbeiters erfordert, weil ihm die tägliche Rückkehr entweder an den Sitz des entsendenden Betriebs oder zu seiner Wohnung (1) nicht zumutbar ist.

    • Die tägliche Rückkehr ist zumutbar, wenn der Zeitaufwand außerhalb der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit bei Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel für Hin- und Rückweg 3 1/2 Stunden nicht übersteigt. Übersteigt der Zeitaufwand 3 1/2 Stunden, sind die Bestimmungen über die Fernmontage anzuwenden.
    • Für die Benutzer (2) von werkseitig gestellten oder privaten Fahrzeugen ist die tägliche Rückkehr zumutbar, wenn die kürzeste Entfernung in Straßenkilometern zwischen Ausgangspunkt und Montagestelle 65 km nicht übersteigt und diese Entfernung jeweils für Hin- und Rückweg außerhalb der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit zurückgelegt wird. Übersteigt die Entfernung 65 km, sind die Bestimmungen über die Fernmontage anzuwenden.
  • Fahrgeld

  • Entschädigung für Reisezeit

  • Fernauslösung

    • Die Auslösung ist eine Pauschalerstattung der Mehraufwendungen am Montageort (12).
    • Soweit und solange Auslösungen zu versteuern sind, werden sie nach Maßgabe der gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen wie Arbeitsentgelt behandelt.
  • Unterkunft und Übernachtungskosten

    Bei Stellung freier angemessener Unterkunft (14) oder dieser gleichzusetzenden Übernahme von Übernachtungskosten nach tatsächlichem Anfall beträgt die Auslösung 70 % des jeweiligen Auslösungssatzes (15).

    Wird angemessene freie Unterkunft gewährt, so vermindern sich die Auslösungssätze um den hierfür aufgewendeten Betrag, höchstens jedoch um 30 % (16).

  • Auslösung an Reisetagen

  • Auslösung bei vorübergehender Abwesenheit vom Montageort

  • Auslösung bei Arbeitsunfähigkeit

  • Heimfahrten

Anmerkung 12:

Die Fernauslösung ist nicht nur für jeden Arbeitstag zu zahlen, sondern auch für Tage, an denen sich der Montagestammarbeiter im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit auf außerbetrieblichen Arbeitsstellen am Montageort aufhalten muß.

Sofern ein Montagestammarbeiter an arbeitsfreien Tagen oder einzelnen Arbeitstagen nach Schichtschluß aus persönlichen Gründen von der Montagestelle bzw. dem Ort seiner Montagewohnung abwesend ist, geht der Anspruch auf Fernauslösung nicht verloren.

b) Danach kommt es zunächst darauf an, ob der Kläger bei einer Fernmontage im Sinne des BMTV eingesetzt war, denn die Bestimmungen über die Fernauslösung stellen einen Unterabschnitt des Abschnitts Fernmontage (§ 6 BMTV) dar, setzen diese also voraus. Nach der von den Tarifvertragsparteien in § 6.1 BMTV gegebenen Definition ist Fernmontage eine Montage, die ein auswärtiges Übernachten des Montagestammarbeiters erfordert, weil ihm die tägliche Rückkehr entweder an den Sitz des entsendenden Betriebes oder zu seiner Wohnung nicht zumutbar ist. In den folgenden Bestimmungen des § 6 BMTV haben die Tarifvertragsparteien dann im einzelnen festgelegt, unter welchen tatsächlichen Gegebenheiten dem Montagestammarbeiter eine tägliche Rückkehr zumutbar ist (§§ 6.1.1, 6.1.2 und 6.1.3). Die Bestimmungen über die Fernmontage sind danach anzuwenden, wenn der Zeitaufwand außerhalb der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Hin- und Rückweg 3 1/2 Stunden übersteigt bzw. bei Benutzung von werkseitig gestellten oder privaten Fahrzeugen die kürzeste Entfernung in Straßenkilometern zwischen Ausgangspunkt und Montagestelle 65 km übersteigt.

Weitere Voraussetzungen sind für die Anwendung der Bestimmungen über die Fernmontage nicht normiert, insbesondere kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer, aus welchen Gründen auch immer, nicht täglich zu seiner Wohnung zurückkehrt, wo er übernachtet und welche Aufwendungen er hierfür hat. Ebensowenig sind irgendwelche Billigkeitserwägungen anzustellen (BAG Urteil vom 28. Juni 1989 – 4 AZR 226/89 – AP Nr. 22 zu § 1 TVG Auslösung).

c) Da für den Kläger sowohl die Fahrzeit bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel als auch die geforderte Entfernung unstreitig über diesen Grenzen lag, sind auf ihn die Bestimmungen des § 6 BMTV anwendbar. Damit steht dem Kläger – insoweit auch von der Beklagten nicht in Abrede gestellt –, jedenfalls für die Arbeitstage, die tarifliche Fernauslösung nach § 6.4 BMTV zu. Denn die Tarifvertragsparteien fingieren insoweit, der Arbeitnehmer habe unabhängig von den tatsächlichen Kosten Mehraufwendungen, wenn die tägliche Rückkehr zur Wohnung unzumutbar ist (BAG, aaO).

2.a) Dasselbe gilt auch für die arbeitsfreien Tage. Zwar ist die Fernauslösung nach § 6.4.1 BMTV eine Pauschalerstattung der Mehraufwendungen am Montageort, die dem Kläger an arbeitsfreien Tagen nicht entstanden, weil er dort keine Wohnung unterhält und er sich auch dort nicht aufhält und ihm somit auch keine Fahrtkosten entstanden.

Die Tarifvertragsparteien haben jedoch § 6.4.1 BMTV durch die Anmerkung 12 Abs. 2, die gemäß § 11.2 BMTV dessen Bestandteil ist, modifiziert. Mit Rücksicht hierauf hat der Senat bereits in der oben zitierten Entscheidung ausgeführt, die Tarifvertragsparteien hätten darin eindeutig zum Ausdruck gebracht, trotz des Charakters der Auslösung als einer Pauschalerstattung für Mehraufwendungen bleibe der Anspruch auf Fernauslösung an arbeitsfreien Tagen bestehen, wenn der Arbeitnehmer aus persönlichen Gründen von der Montagestelle bzw. dem Ort seiner Montagewohnung abwesend ist. Der Hinweis auf “Montagestelle” bzw. “Ort seiner Montagewohnung” zeige, daß die Tarifvertragsparteien nicht zwingend davon ausgehen, der Arbeitnehmer müsse Inhaber einer Montagewohnung sein. Wenn die Abwesenheit aus persönlichen Gründen an arbeitsfreien Tagen den Anspruch auf Fernauslösung nicht beeinträchtige, sei es unerheblich, wo sich der Arbeitnehmer an arbeitsfreien Tagen aufhält und welche persönlichen Gründe hierfür für ihn maßgebend sind. Damit schließe auch der Aufenthalt in seiner Heimatwohnung an arbeitsfreien Tagen den Anspruch auf Fernauslösung nicht aus.

b) Hieran ist trotz der Kritik der Beklagten festzuhalten.

Es trifft zwar zu, daß die Tarifvertragsparteien Sonderregelungen für die Fälle der Arbeitsunfähigkeit, Urlaub und Familienheimfahrten getroffen haben und dabei die Fernauslösung gekürzt oder vollständig gestrichen haben. Doch sind diese Regelungen auf die genannten Ausnahmefälle beschränkt, während die Anmerkung 12 die Abwesenheit von der Montagestelle an arbeitsfreien Tagen aus persönlichen Gründen in umfassender Weise regelt. Damit haben sie aber auch die Abwesenheit von der Montagestelle und gleichzeitige Anwesenheit des Arbeitnehmers am Heimatort erfaßt. Für die Auffassung der Revision, Abs. 2 der Anmerkung 12 sehe ein Fortbestehen des Anspruchs auf Fernauslösung nur für den Fall vor, wenn der Arbeitnehmer an arbeitsfreien Tagen “ab und zu” abwesend sei, ergibt sich kein Anhaltspunkt aus der Vorschrift. Vielmehr unterscheidet diese gerade die Abwesenheit “an arbeitsfreien Tagen” und die an “einzelnen Arbeitstagen nach Schichtschluß”.

3. Im übrigen geben die von der Revision für sich angeführten Argumente dem Senat auch deshalb keinen Anlaß, seine Rechtsprechung zu ändern, weil nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAGE 12, 278, 284 = AP Nr. 35 zu § 1 ArbKrankhG; BAGE 18, 336, 339 = AP Nr. 10 zu § 611 BGB Fleischbeschauer-Dienstverhältnis; BAG Urteil vom 23. Februar 1967 – 5 AZR 234/66- AP Nr. 57 zu § 611 BGB Gratifikation = SAE 1967, 261 (Bötticher) ein oberstes Bundesgericht von seiner Rechtsprechung nicht abweichen soll, wenn sowohl für die eine wie für die andere Ansicht Gründe sprechen. Dies gilt um so mehr, wenn es um die Auslegung von Tarifverträgen geht, auf die sich das Wirtschaftsleben einrichten muß. Zudem haben es die Tarifvertragsparteien in der Hand, einer von ihnen nicht gewünschten Auslegung eines Tarifvertrages durch dessen Änderung den Boden zu entziehen.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Schaub, Dr. Etzel, Schneider, Lehmann, Kamm

 

Fundstellen

NZA 1992, 420

RdA 1992, 157

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