Entscheidungsstichwort (Thema)

Tariflicher Gratifikationsanspruch bei Vorruhestand

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis aufgrund einer tariflichen Vorruhestandsregelung beendet und von seinem ehemaligen Arbeitgeber Vorruhestandsgeld erhält, scheidet nicht wegen Erreichung der Altersgrenze iS des § 18 Satz 2 Nr. 11 des Manteltarifvertrages für die Molkereien und Käsereien im Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Februar 1984 aus. Er hat daher, wenn er vor dem Auszahlungstermin ausscheidet, für das laufende Jahr keinen, auch keinen anteiligen Anspruch auf Weihnachtsgratifikation.

 

Normenkette

Manteltarifvertrag für die Molkereien und Käsereien im Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Februar 1984 § 18

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 13.03.1986; Aktenzeichen 17 Sa 1863/85)

ArbG Wuppertal (Urteil vom 07.11.1985; Aktenzeichen 1 Ca 3265/85)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 13. März 1986 – 17 Sa 1863/85 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um eine tarifliche Weihnachtsgratifikation.

Der 1925 geborene Kläger war bei der Beklagten bis zum 31. Oktober 1984 als Kraftfahrer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand der Manteltarifvertrag für die Molkereien und Käsereien im Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Februar 1984 (MTV) kraft Tarifbindung Anwendung. Darin ist u.a. bestimmt:

§ 18

Weihnachtsgratifikation

Die Weihnachtsgratifikation wird unter folgenden Bedingungen gewährt:

  • Für Beschäftigte, die noch nicht ein volles Jahr dem Betrieb angehören, beträgt die Weihnachtsgratifikation so viele 1/12, wie volle Kalendermonate Betriebszugehörigkeit vorliegen.
  • Anspruch auf die Weihnachtsgratifikation haben Beschäftigte, die am 31. Dezember des laufenden Jahres dem Unternehmen angehören. Beschäftigte, die am Fälligkeitstag im selbstgekündigten Arbeitsverhältnis – ausgenommen Kündigung wegen Erreichung der Altersgrenze – stehen oder aus wichtigem Grund rechtswirksam gekündigt worden sind, haben keinen Anspruch auf die Gratifikation.
  • Beschäftigte, die aus Gründen, die in ihrer Person liegen, bis zum 31. März des Folgejahres aus dem Betrieb ausscheiden, haben die erhaltene Weihnachtsgratifikation bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses voll zurückzuzahlen. Der Betrag bis zu 200,-- DM verbleibt jedoch in jedem Falle dem Beschäftigten.
  • Arbeitnehmer, die wegen Erreichung der Altersgrenze vor dem Auszahlungstermin ausscheiden, erhalten 1/12 für jeden Monat der Tätigkeit in diesem Jahr. Scheidet der Arbeitnehmer nach dem 1. September aus, dann erhält er die volle Weihnachtsgratifikation.

Der Kläger ist nach den Bestimmungen des ebenfalls kraft Tarifbindung für die Parteien geltenden Tarifvertrags zur Einführung einer Vorruhestandsregelung vom 12. Juni 1984 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden und erhielt danach von der Beklagten Vorruhestandsgeld nach Maßgabe der tariflichen Regelung. Die Beklagte zahlte ihm allerdings für 1984 keine Weihnachtsgratifikation.

Der Kläger hat gemeint, er habe Anspruch auf die volle Weihnachtsgratifikation in unstreitiger Höhe von 2.229,-- DM brutto. Denn er sei wegen Erreichung der Altersgrenze ausgeschieden.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.229,-- DM brutto zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, der Eintritt in den Vorruhestand sei nicht als Erreichung der Altersgrenze im Sinne der tariflichen Vorschrift anzusehen.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger weiter seinen Klageanspruch, während die Beklagte Zurückweisung der Revision beantragt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf tarifliche Weihnachtsgratifikation für das Jahr 1984 verneint.

I. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die im Tarifvertrag verwandte Formulierung “Erreichung der Altersgrenze” weise keinen festen, allgemein zuerkannten Bedeutungsgehalt auf. Da dieser Begriff tarifvertraglich nicht bestimmt sei, könne hierunter sowohl allein die gesetzliche Regelung über den Beginn der Rentenzahlung aus Altersgründen als auch ganz allgemein das Ausscheiden des Arbeitnehmers aus Altersgründen aus dem Beschäftigungsverhältnis unabhängig von der Frage, ob zu diesem Zeitpunkt bereits ein Rentenanspruch bestehe, verstanden werden. Der Wortlaut der tariflichen Regelung erfordere jedoch weiterhin, daß das Ausscheiden des Arbeitnehmers wegen der Erreichung der Altersgrenze erfolge. Durch die hiermit gewählte Formulierung “wegen” werde aber die Erreichung der Altersgrenze zu dem entscheidenden Umstand gemacht, der die Pflicht des Arbeitgebers zur Zahlung der Weihnachtsgratifikation auslöse. Die Auszahlungspflicht müsse danach gerade infolge, also unmittelbar durch das Erreichen der Altersgrenze bedingt sein. Während dieses Merkmal in den Fällen ohne weiteres erfüllt sei, in denen ein Arbeitnehmer mit Erreichung des 65. Lebensjahres oder zu einem früheren Zeitpunkt bei Vorliegen der weiteren in seiner Person zu erfüllenden gesetzlichen Voraussetzungen aus dem Arbeitsverhältnis ausscheide, bestehe im Fall des Eintritts in den Vorruhestand die Besonderheit, daß allein die Erreichung des Vorruhestandsalters gerade noch nicht zu einem Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis führe. Weiterhin ergebe sich aus dem Sinn und Zweck der tariflichen Regelung, wie sie sich auf dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Entstehung und ihrem systematischen Zusammenhang mit anderen tariflichen Vorschriften erschließe, daß ein Gratifikationsanspruch des Arbeitnehmers bei Eintritt in den Vorruhestand entfalle. Die Regelung des § 18 Nr. 11 MTV sei ersichtlich auf den Normalfall zugeschnitten, in dem ein Arbeitnehmer mit Erreichung der Altersgrenze nicht nur aus dem Betrieb ausscheide, sondern dem Arbeitgeber hierdurch auch – von Verpflichtungen hinsichtlich einer betrieblichen Altersversorgung abgesehen – keine weiteren finanziellen Lasten entständen. In diesem Fall bestehe ein Gratifikationsanspruch des ausgeschiedenen Arbeitnehmers. Vorliegend bleibe der Arbeitgeber aber im Rahmen der Vorruhestandsregelung weiterhin verpflichtet, einen erheblichen Teil des Lebensunterhaltes des ausgeschiedenen Arbeitnehmers weiterhin zu tragen. Dies sei ein Umstand, der gerade nicht dem tarifvertraglich vorausgesetzten Normalfall entspreche, den die Tarifvertragsparteien bei Schaffung der Ausnahmebestimmung des § 18 Nr. 11 MTV geregelt hätten.

II. Diesen Ausführungen stimmt der Senat im Ergebnis, nicht aber in allen Teilen der Begründung zu.

1. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Weihnachtsgratifikation nach § 18 Satz 2 Nr. 11 i.V. mit § 18 Satz 2 Nr. 3 MTV. Denn der Kläger ist nicht “wegen Erreichung der Altersgrenze” bei der Beklagten ausgeschieden, als er die Möglichkeit des Tarifvertrags zur Einführung einer Vorruhestandsregelung vom 12. Juni 1984 nutzte und aufgrund eines Aufhebungsvertrages mit der Beklagten aus dem Betrieb ausschied.

2. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht erkannt, daß die Tarifvertragsparteien den Begriff “wegen Erreichung der Altersgrenze” nicht näher erläutert haben. Er ist daher auszulegen. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Es ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages, ggf. auch eine praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. Urteil vom 24. März 1988 – 6 AZR 787/85 – AP Nr. 1 zu § 27 MTL II; vom 24. März 1988 – 6 AZR 525/84 – AP Nr. 10 zu § 47 BAT; vom 17. März 1988 – 6 AZR 634/86 – EzA § 111 BetrVG 1972 Nr. 22, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt; vom 4. Februar 1988 – 6 AZR 203/85 – AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; vom 21. Januar 1988 – 6 AZR 560/87 – AP Nr. 7 zu § 29 BAT).

a) Der Wortlaut der tariflichen Vorschrift ist nicht eindeutig. Es kann damit der ähnlich lautende sozialrechtliche Begriff des “Erreichens der Altersgrenze” nach § 1245 Nr. 2 RVO, § 22 AVG gemeint sein, so daß der Anspruch auf Weihnachtsgratifikation nur besteht, wenn der Arbeitnehmer nach seinem Ausscheiden Altersruhegeld bezieht. Es ist aber auch denkbar, unter den Begriff ganz allgemein das Ausscheiden des Arbeitnehmers aus Altersgründen einzuordnen. Dann wäre auch der Eintritt in den Vorruhestand erfaßt.

b) Soweit das Landesarbeitsgericht den Anspruch des Klägers verneint hat, weil er nicht allein “wegen” Erreichung der Altersgrenze ausgeschieden ist, sondern als weiterer Zwischenschritt ein Aufhebungsvertrag zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses notwendig war, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. Die Präposition “wegen” bedeutet nicht, daß das Arbeitsverhältnis unmittelbar ohne weiteren arbeitsrechtlichen Zwischenschritt enden muß, um den Gratifikationsanspruch zu erhalten. Sie verdeutlicht lediglich den Anlaß, aus dem der Arbeitnehmer ausscheiden muß, wenn er sich den Gratifikationsanspruch erhalten will. Im übrigen übersieht das Landesarbeitsgericht, daß ein Arbeitsverhältnis i.d.R. nicht mit dem Erreichen der sozialversicherungsrechtlichen Altersgrenze automatisch endet. Auch in diesem Fall bedarf es eines arbeitsrechtlichen Beendigungstatbestandes wie Kündigung, Aufhebung, Befristung, tarifvertragliche Beendigungsbestimmung u.a.m.

c) Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung rechtfertigt sich aber unter Berücksichtigung systematischer, historischer und teleologischer Gesichtspunkte.

(1) Der § 18 MTV ist so gegliedert, daß der Anspruch grundsätzlich in § 18 Satz 2 Nr. 3 MTV normiert und in § 18 Satz 2 Nr. 11 MTV ein Ausnahmefall geregelt ist. Bei Vorliegen einer Ausnahmeregelung ist grundsätzlich eine extensive Auslegung nicht möglich, sondern eine restriktive Auslegung angebracht (vgl. Senatsurteil vom 24. November 1988 – 6 AZR 243/87 – zur Veröffentlichung bestimmt). Eine restriktive Auslegung ist auch aus teleologischer Sicht geboten. Die tarifvertragliche Weihnachtsgratifikation soll nach dem Willen der Tarifvertragsparteien grundsätzlich diejenigen Arbeitnehmer belohnen, die wenigstens bis zum Ende des nächsten Quartals betriebstreu bleiben, wie die Stichtagsregelung des § 18 Satz 2 Nr. 3 MTV und die Rückzahlungsklausel des § 18 Satz 2 Nr. 4 MTV zeigen. Davon macht der Tarifvertrag nur eine Ausnahme bei Erreichung der Altersgrenze. Beide Gesichtspunkte schließen es somit aus, den neuartigen Beendigungstatbestand “Eintritt in den Vorruhestand” unter der Begriff der Erreichung der Altersgrenze zu subsumieren.

(2) Die historischen Gegebenheiten zur Zeit des Abschlusses des Tarifvertrages für die Molkereien und Käsereien in Land Nordrhein-Westfallen vom 8. Februar 1984 sprechen gegen den Willen der Tarifvertragsparteien, die Fälle des Vorruhestands von § 18 Satz 2 Nr. 11 MTV erfassen zu lassen. Als die Tarifvertragsparteien am 8. Februar 1984 diese Tarifnorm erstmals in den MTV aufnahmen (der Vorgängertarifvertrag vom 6. April 1978 enthielt keine vergleichbare Regelung), war das Gesetzgetungsverfahren zum Vorruhestandsgesetz weit fortgeschritten. Es lagen Gesetzesentwürfe der SPD-Bundestagsfraktion vom 8. Juni 1983 (BT-Drucks. 10/122 und der Bundesregierung vom 14. Dezember 1983 (BT-Drucks. 10/880) vor. Über beide Entwürfe war bereits einmal im Bundestag beraten worden. Die Tarifvertragsparteien konnten also von der bevorstehenden gesetzlichen Regelung und der Absicht des Gesetzgebers Kenntnis haben, die Durchführung des Vorruhestands weitgehend den Tarifvertragsparteien (§ 2 Vorruhestandsgesetz) zu überlassen. Sie haben selbst mit dem Abschluß eines Tarifvertrages zur Einführung einer Vorruhestandsregelung vom 12. Juni 1984 unverzüglich reagiert. Angesichts dessen hätte es daher nahe gelegen, entweder schon bei der Neuschaffung des § 18 Satz 2 Nr. 11 MTV eine Formulierung festzuschreiben, die den Vorruhestand ausdrücklich erfaßt, oder aber die Vorschrift im Vorruhestandstarifvertrag später entsprechend anzupassen.

d) Angesichts dessen enthält der Tarifvertrag auch keine durch die veränderte gesetzliche Situation nachträgliche unbewußte Normlücke, die die Gerichte für Arbeitssachen unter bestimmten Voraussetzungen schließen könnten (vgl. insoweit BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vielmehr sind die Tarifvertragsparteien und nicht die Gerichte für Arbeitssachen aufgerufen, sich zu erklären und eine positive, negative oder vermittelnde Regelung des Gratifikationsanspruchs für Arbeitnehmer zu schaffen, die im Laufe eines Kalenderjahres in den Vorruhestand treten.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

 

Unterschriften

Dr. Röhsler, Dörner, Fürbeth, Schmidt

für den in Urlaub befindlichen Richter Schneider

Dr. Röhsler

 

Fundstellen

Haufe-Index 872366

RdA 1989, 312

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