Leitsatz

1. Es ist davon auszugehen, dass ein durch Unfall eingetretener Tinnitus wegen eines zugleich eingetretenen vollständigen Hörverlustes auf einem Ohr nicht zugleich der Gliedertaxe gemäß § 7 I Nr. 2a AUB 88 unterfällt; der aufgetretene Tinnitus ist selbstständige Unfallfolge.

2. Als Unfallfolge durch Tinnitus bedingte krankhafte Störungen stellen sich als psychische Reaktionen dar, die den Ausschlusstatbestand des § 2 IV AUB 88 erfüllen.

 

Normenkette

§ 7 I AUB 88, § 2 IV AUB 88

 

Sachverhalt

Durch einen Arbeitsunfall erlitt der Kl. eine Kopfverletzung. Als Unfallfolge erlitt er einen vollständigen Hörverlust auf dem linken Ohr und dauerhafte Schwindel- bzw. Gleichgewichtsstörungen, für die die Bekl. einen Invaliditätsgrad von 50 Prozent anerkannt hat. Der Kl. verlangte darüber hinaus die Zuerkennung eines höheren Invaliditätsgrades für den als Unfallfolge eingetretenen linksseitigen Tinnitus.

Das LG gab der Klage statt. Die Berufung der Bekl. hatte Erfolg.

 

Entscheidung

Das OLG führt aus, zu dem für den unstreitig erlittenen vollständigen Hörverlust auf dem linken Ohr gem. § 7 I Nr. 2a AUB 88 in Ansatz zu bringenden Invaliditätsgrad von 30 Prozent trete nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lediglich ein weiterer Invaliditätsgrad von 10 Prozent für die als Unfallfolge eingetretenen dauerhaften Schwindel- bzw. Gleichgewichtsstörungen. Der außerdem unstreitig als Unfallfolge eingetretene linksseitige Tinnitus rechtfertige dagegen entgegen der Annahme des Kl. nicht die Zuerkennung eines höheren Invaliditätsgrades mit der Folge, dass dem Kl. gegen die Bekl., die ihm gegenüber bereits auf der Basis der Annahme eines 50-prozentigen Invaliditätsgrades Leistungen erbracht habe, keine weiteren Ansprüche zuständen.

Entgegen der Ansicht der Bekl. unterfalle zwar der beim Kl. eingetretene Tinnitus wegen des zugleich eingetretenen vollständigen Hörverlustes auf dem linken Ohr nicht zugleich der Gliedertaxe gemäß § 7 I Nr. 2a AUB 88; deshalb sei nicht davon auszugehen, dass der für den Verlust des Gehörs nach der Gliedertaxe anzusetzende Invaliditätsgrad von 30 Prozent beides (Hörverlust und Tinnitus) abdecke. Vielmehr sei der Tinnitus daneben grundsätzlich als eigenständige Funktionsstörung gemäß § 7 I Nr. 2c AUB 88 zu beurteilen mit der Folge, dass insoweit das Vorliegen eines in Betracht kommenden eigenen Invaliditätsgrades getrennt zu prüfen sei.

Der in der Gliedertaxe wörtlich konkret aufgeführte Fall beziehe sich nämlich lediglich auf Verlust oder Funktionsunfähigkeit "des Gehörs auf einem Ohr". Der eingetretene Tinnitus habe indes mit dem Gehör insoweit nichts zu tun, als man diesen Begriff mit der Definition "hören" oder "Hörfähigkeit" gleichsetzen müsse, also auf das Hören von außen an das Ohr herangetragener Töne abzustellen habe. Nur in dieser Weise sei die vorgegebene Formulierung nach Auffassung des Senats zu verstehen. Bei einem Tinnitus handele es sich hingegen um eine Funktionsstörung der Hörsinnzellen oder des Hörnervs, die vorliegend durch die linksseitig erlittene Schädelbasisfraktur hervorgerufen worden sei. Der Sachverständige Prof. Dr. M. habe hierzu auch ausdrücklich aufgeführt, dass das Ohrgeräusch unabhängig von der Taubheit und dem Ausfall des Gleichgewichtsorgans ein selbstständiges Symptom dieser Schädigung darstelle. Im Übrigen handele es sich um eine vom Geschädigten subjektiv als Geräusch empfundene Störung von innen, d. h. aus dem Kopf selbst, und nicht um die Verarbeitung bzw. Sinneswahrnehmung eines von außen an das Ohr herangetragenen Tons.

Der aufgetretene Tinnitus sei schließlich als selbstständige, zum Hörverlust hinzutretende Unfallfolge auch den daneben eingetretenen Gleichgewichtsstörungen vergleichbar, hinsichtlich deren die Bekl. selbst die eigenständige Bewertungsmöglichkeit eines Invaliditätsgrades gemäß § 7 I Nr. 2c AUB 88 nicht infrage stelle. Auch der Gleichgewichtssinn werde nämlich maßgeblich "vom Ohr" bestimmt, ohne dass Anlass bestehe, die insoweit eingetretene Funktionsstörung als Verlust bzw. Funktionsunfähigkeit des Gehörs i. S. v. § 7 I Nr. 2a AUB 88 einzuordnen. Dieser Vergleich mache deshalb evident, dass der Tinnitus - neben dem erlittenen Verlust des Gehörs auf dem betreffenden Ohr - eine eigenständige Funktionsbeeinträchtigung eines Sinnesorgans darstelle, deren gesonderte Bemessung und Abgeltung grundsätzlich in Betracht komme.

Eine Invaliditätsentschädigung für den beim Kl. eingetretenen Tinnitus komme gleichwohl nicht in Betracht, weil die geltend gemachten dadurch bedingten krankhaften Störungen sich als psychische Reaktionen darstellten, ihre Entschädigung mithin gemäß § 2 IV AUB 88 ausgeschlossen sei. Der dort genannte Ausschlusstatbestand sei nämlich erfüllt, obwohl der Tinnitus als solcher nicht ausschließlich auf einer psychischen Reaktion beruhe, sondern durchaus als unmittelbare Folge des in Rede stehenden Unfallereignisses in Form einer traumatischen Organschädigung eingetreten sei. Das habe der Sachverständige überzeugend dargelegt.

Der Tinnitus bedingt f...

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